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Ernst-Wilhelm Händlers Roman "München"
Aus dem Kontrollraum der High Society

Ernst-Wilhelm Händler hat mit "München" laut eigener Aussage einen Gesellschaftsroman vorgelegt - was angesichts der Fokussierung auf die zurückgezogene Protagonistin zunächst verwundert. Doch Händler zeichnet darin ein klinisches Bild der Münchener High Society, das vor allem von Kontrolle bestimmt ist.

Von Enno Stahl | 18.11.2016
    Frau geht durch ein Luxus-Shoppingcenter in München
    Luxus-Shoppingcenter in München: Ernst-Wilhelm Händlers neuer Roman spielt in der besseren und besten Gesellschaft der Bayern-Metropole. (dpa/picture alliance/Sebastian Gollnow)
    Ernst-Wilhelm Händlers neuer Roman "München" spielt in der besseren und besten Gesellschaft der Bayern-Metropole. Das Buch erzählt – stilistisch und formal überaus souverän und stimmig - die Geschichte von Thaddea, einer wohlhabenden Erbin, die gleichwohl ohne jeden finanziellen Druck als Psychotherapeutin tätig ist. Sie hat nicht viele Kontakte, ihrer beiden engsten ist sie soeben verlustig gegangen. Denn ihr Liebhaber Ben-Luca hat hinter Thaddeas Rücken mit ihrer besten Freundin Kata eine Affäre angefangen.
    Für Thaddea geht es nun darum, wie sie mit ihrer neuen Situation zurechtkommt. Dass das Buch mit "Gesellschaftsroman" untertitelt ist, verwundert insofern ein wenig, als dass die Erzählung sich vollständig auf die Protagonistin Thaddea konzentriert, die eigentlich kaum aus dem Haus geht.
    "Gesellschaftsroman aus zwei Gründen. Auf der einen Seite geht es um die Münchner Gesellschaft, auf der anderen Seite geht es ein bisschen allgemein um die Gesellschaft. Thaddea ist Beobachterin, der Beobachter muss jetzt nicht immer total mitten drin sein. Thaddea ist eine von vier Figuren, die finanziell sehr gut ausgestattet sind, und das ist einfach eine Position, um nachdenken zu können und zu beobachten."
    Händler erweist sich in den Bereichen Kunst und Mode als absoluter Kenner
    Beim Begriff "Gesellschaftsroman" denkt man an die große Tradition der Realisten, Flaubert, Zola, Dostojewski. In ihren Büchern werden die verborgenen Triebkräfte des sozialen Lebens schonungslos aufgezeigt – Macht, Geld, Prestige, politische und wirtschaftliche Kämpfe. Händlers "München" dagegen dreht sich mehr um Kunst und Mode. Thaddea und die anderen Figuren besuchen elitäre Vernissagen. Eigentlich sind dies Thaddeas einzige Expeditionen in die gesellschaftliche Wirklichkeit. Immer wird die Kleidung der Protagonisten genauestens beschrieben, Händler erweist sich in beiden Bereichen, Kunst und Mode, als absoluter Kenner. Beides jedoch betrifft im Grunde nur die soziale Oberfläche, kommen die eigentlichen gesellschaftlichen Wirkkräfte dabei nicht zu kurz?
    "In dem Buch spielen Kunst und Mode eine wichtige Rolle, und es ist so, dass man jetzt gerade im deutschen Feuilleton und im Literaturbetrieb darin immer nur die Angeberfunktion sieht. Man sieht eigentlich immer nur das Geld und die Leute, die was haben, geben damit an. Und das finde ich ein falsches Bild sowohl mit der Kunst wie mit der Mode. Wenn reiche Leute mit ihrem Geld Kunstwerke kaufen, also ich finde, es gibt viel schlimmere Dinge, die man mit Geld machen kann."
    Rätselhafte Protagonistin
    Die Protagonistin Thaddea bleibt seltsam rätselhaft. Sie ist sehr einsam, jedoch viel zu stolz, mit Ben-Luca und Kata irgendwelche Kompromisse einzugehen, ihnen den Fehltritt zu verzeihen. Im Grunde steht sie allein da, dennoch heißt es, sie habe keine Angst, sie fühle keinen Schmerz, nicht einmal Langeweile. Gleichzeitig wirkt sie in ihrem Denken und Tun sehr unsicher, scheint nichts Rechtes mit sich anfangen zu können, alles sehr widersprüchlich also.
    "Was ich transportieren möchte, insgesamt mit dem Buch und speziell mit der Figur, ist einfach das Kontrollthema. München ist jetzt eine Stadt mit enormer ökonomischer Potenz, es gibt kaum eine zweite, die diese ökonomische Potenz hat. München ist einfach sehr, sehr kontrolliert, die Figuren, insbesondere Thaddea, verkörpern vor allem das Kontrollthema. Dieses Kontrollthema reicht aber aus meiner Sicht eben sehr weit über München heraus. Was ich schildere in dem Buch, auch mit der Figur der Thaddea, ist, wie diese Kontrolle von innen aussieht."
    Das Leben der High Society
    Händler stellt sehr anschaulich dar, wie vollkommen seine Figuren von ihrem öffentlichen Auftreten beherrscht sind und davon, bloß keinen Fehler zu machen, sich nicht die kleinste Blöße zu geben. Das Leben der High Society, das hier geschildert wird, ist so klinisch, dass ihm jede Unmittelbarkeit oder Leidenschaft abgeht. Ganz normale Leute oder gar Minderprivilegierte treten nicht auf. Sie würden wohl nur stören, nicht umsonst heißt es: "Thaddea hatte keineswegs grundsätzlich etwas gegen soziale Aufsteiger. Das Problem war jedoch: Sie verbreiteten Unsicherheit." Händlers Gesellschaftsroman spielt also in einem sozialen "Closed Shop":
    "Eine Gesellschaft funktioniert nun mal auf sehr vielen Ebenen, mein Anliegen ist es, dass ich wirklich Mechanismen schildern möchte, wie Gesellschaft funktioniert. Und das können Sie nur da, wenn Sie sich in Sphären begeben, wo Macht herrscht. Und ich meine, Macht ist nun in unserer ökonomischen Gesellschaft zumeist mit Geld verbunden. Das ist bitte nicht, dass ich die sogenannten "niederen Sphären", oder wie man das immer nimmt, gering achte, nur - Verzeihung! - 95 Prozent der Literatur, der deutschen Gegenwartsliteratur beschäftigen sich damit, ja? Das muss ich nicht auch noch."
    Es kommen in der deutschen Gegenwartsliteratur auch kaum noch Bürger vor, sondern nur noch Kleinbürger oder irgendwo drunter eben. Die Machtmechanismen kann man nicht schildern, wenn man nur die Leute betrachtet, die keine haben. Das ist eben in gewisser Hinsicht doch ein Wirtschaftsroman, weil die Kinder reicher Leute, die eigentlich nicht arbeiten müssten, das ist eben auch Wirtschaft, die sieht eben ein bisschen anders aus, als viele Menschen sich das vorstellen.
    Der Versuch ist aufgegangen, das kann man sagen. Als Buch liest sich das nicht schlecht, manchmal wirkt es etwas mysteriös und chiffrenartig. Aber vielleicht liegt es nur am großen sozialen Abstand des Normalmenschen, dass man nicht alles versteht.
    Ernst-Wilhelm Händler, München. Gesellschaftsroman. S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2016, 350 Seiten, 23,00 EUR