Donnerstag, 28. März 2024

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Eros als Einbildung

Rainer Maria Rilke war gerade siebzehn Jahre alt und soeben nach Prag zurückgekehrt, als er im Januar des Jahres 1893 an einem jener Mittwochs-Treffen des sich vorwiegend aus der deutsch-sprachigen Oberschicht rekrutierenden Prager Freundeskreises Valerie von David-Rhonfeld kennenlernte. Er hatte den Besuch der Militärakademie und die Ausbildung an der Handelsaka-demie in Linz abgebrochen und fühlte sich entsprechend verunsichert und labil. Nun lebte er in der Wohnung seines Onkels, Jaroslav Rilke Ritter von Rüliken, in der Wassergasse im Zentrum von Prag und bereitete sich auf die Matura-Prüfung vor. Valerie, die mit ihren Eltern in der nicht weit entfernten Safarik-Straße in Prag Weinberge wohnte, war eine künstlerisch ambitionierte, streng behütete Tochter aus ‚gutem Hause‘. Ihr Vater war Oberst in der österreichi-schen Armee, ein Bruder ihrer Mutter der tschechische Dichter Julius Zeyer. Sie war wenig älter als Rilke und damit in einem Alter, sich einen Mann zu suchen, um nicht als "alte Jungfer" zu enden.

Cornelia Staudacher | 29.03.2004
    Die Liebesgeschichte, die sich zwischen den beiden jungen Leuten entspann, fand, obwohl sie sich fast täglich trafen, ihren Niederschlag in vielen, oft täglich mehreren Briefen. Nicht alle sind erhalten. Das an der Krakauer Jagellionen-Universität aufbewahrte Corpus der Briefe Rilkes an Valerie umfaßt 122 Briefe, die ebenso wie die 77 in ihnen enthaltenen Jugendgedichte bisher unveröffentlicht waren. Renate Scharffenberg und August Stahl haben den Band zusammengestellt, die Korrespondenz Valeries mit Curt Hirschfeld, dem sie Rilkes Brief 1927 verkaufte, hinzugefügt, und mit Erläuterungen versehen, die jedoch nicht durchweg befriedigen. Überflüssig erscheint der akribische Nachweis der Lebensdaten jedes auch nur einmal erwähnten Dichter- oder Künstlernamens. Auch Worterklärungen wie die eines Chapeau claque oder einer Hieroglyphe erübrigen sich bei einem durchschnittlich gebildeten Lesepublikum. Erheblich interessanter wären ein paar Informationen mehr über einige der Personen aus dem persönlichen Umfeld von Rilke und Valerie gewesen.

    Für Rilke, der sich zeitlebens gegen jede Form einer gesellschaftlichen Vereinnahmung verwahrte, hatte das "Unbürgerliche" dieser sich schnell entwickelnden Beziehung nicht nur einen besonderen Reiz; noch unausgesprochen lag in ihr sogar ihre Legitimation. Für Valerie, die gewissermaßen ihre Ehre als Frau aufs Spiel setzte, war es tragisch. Rilke kompensierte dieses ihm zuliebe angefangene Spiel mit dem Feuer, indem er Vally, wie er sie nannte, mit pathetischen Liebes- und Treueschwüre und vor Liebesseufzern schmachtenden Gedichten schier überschüttete. Er nennt sie "Herzchen, meine teuerste, heißgeliebte, erdenerhabene, göttliche Vally", "mein angebetetes, göttliches Piepmatz", "meine Vally, mein Lieb, mein Leben", und "meine panicka, meine Frau". Sich selbst macht er eher klein, nennt sich "Kater, Papagei" oder "dein ganz ganz kleiner grauer Hidigeigei". Und immer wieder gaukelte er seiner Geliebten eine gemeinsame Zukunft vor, die, wie wir als heutige Leser wissen, für ihn unrealisierbar und eigentlich schon damals undenkbar gewesen sein mußte.

    Obwohl Valeries Briefe nicht erhalten sind, ahnt man, wie schwierig diese Beziehung, die von Anfang an unter den Augen des bürgerlichen Familien- und Freundeskreises stattfand, für beide, gewesen sein mußte. War sie doch Vorwürfen und Verdächtigungen, Befürchtungen und Verstimmungen von innen wie von außen ausgesetzt. Je mehr sich die Besuche häuften, je länger sie dauerten und je mehr sie sich der häuslichen Kontrolle entzogen, umso argwöhnischer reagierte Valeries Vater auf den jungen Liebhaber. Dass hinter ihrer beider Rücken getuschelt und geklatscht wurde, brachte Rilke in Rage, dass er Beschimpfungen formulierte, die in ihrer vulgären Banalität höchst unrilkisch klingen. "Canaille" und "Luder", "niederträchtige Hunde" oder "elendes Natterngezücht", nennt er die klatschsüchtigen Tanten, die seiner Meinung schuld daran seien, wenn Valeries Ruf Schaden nehme. Mit jugendlicher Verve erhebt er sich über die Durchschnittsmenschen: "Wie sie gehn! Mit blöden Blicken / Thun sie ihre Weisheit kund: / Schlaff die Arme, krumm der Rücken, / Und ein Lächeln um den Mund."

    Am Grab der "theuren, lieben Großmutter" Eleonore Zeyer, die schon 1881 gestorben und auf dem Jüdischen Friedhof begraben war, suchten die beiden Liebenden Zuflucht vor ihren "Spionen", wie Rilke sie nannte.

    Es hat den Anschein, als habe Rilke diese drei Prager Jahre, in denen er sich in eine ihm inadäquat erscheinende Rolle gedrängt fühlte, nur überstehen können dank der Hingabe Valeries. Sie bestärkte ihn, ermutigte ihn und bildete das innere Gegengewicht zu den äußeren Zwängen. Schon auf dem Nachhauseweg von der hellen, schönen Wohnung Valeries in sein finsteres "Exil", wie er seine Wohnung nannte, befielen ihn Gefühle der Verzweiflung und Vereinsamung. Valeries Anteil an der im Sommer 1895 schließlich mit Auszeichnung bestan-denen Matura kann demgemäß nicht hoch genug zu sehen sein.

    Unmittelbar nach bestandener Prüfung distanzierte sich Rilke von Valerie und arbeitete zielgerichtet auf ein Ende der Beziehung hin. Die Briefe werden seltener, ihr Ton sachlich und fast kühl. Er scheint nun wieder ganz Herr seiner selbst zu sein. "Dank für das Geschenk der Freiheit. Du hast dich groß und edel erwiesen auch in diesem schweren Augenblick," schreibt er ihr am 28. 12. 1895. "Mein Segen weilt über Deinem Haupt. Du warst ein lichter Flugstern in meinem dunkeln Leben! Leb wohl."

    Sie habe René die Freiheit geben wollen, die er für seinen Dichterberuf gebraucht habe, schreibt Valerie von David-Rhonfeld, die Rilke zwanzig Jahre überlebte, aber nie geheiratet hat, 1927 an Curt Hirschfeld. Das klingt souverän und abgeklärt. Die Tatsache aber, dass sie den Kontakt zu Rilke völlig abgebrochen und in keiner Weise an seinem Leben und späteren Ruhm Anteil genommen hat, spricht eher für die tiefe Verletzung, die er ihr durch die abrupte Trennung zugefügt hat, und macht darüber hinaus deutlich, dass sie, im Gegensatz zu Lou Andreas-Salomé und vielen anderen Frauen, denen Rilke in seinem späteren Leben begegnete, mitnichten zur Dichtergattin oder –freundin getaugt hätte. Eben weil diese Beziehung nur eine Zukunftsperspektive hatte, die bürgerlich konventionelle Ehe, war sie von Vornherein zum Scheitern verurteilt.

    Hätte Valerie von David-Rhonfeld Rilkes spätere Werke gelesen, den Malte, die Duineser Elegien und die Sonette an Orpheus, wäre sie wohl getröstet worden. Denn seit den Pariser Jahren sind eben die Verlassenen, die Entsagenden und Verzichtenden, zu denen er sich auch selbst zählt, die wahren Liebenden. Im Verzicht liegt für ihn eine wesentliche Komponente der Liebe. "Ewiger glänzt euer Lächeln verweint", heißt es im 4. Sonett an Orpheus, und "weil ich niemals dich anhielt, hielt ich dich fest." in den "Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge".

    Die Liebe des Achtzehnjährigen aber will noch gestillt werden und nichts wissen von Verzicht, sie ist schwärmerisch, absolut und illusionär, und nimmt die Unwahrheit billigend in Kauf. Zu recht ist dieser Briefsammlung der Vers eines im "Malte" zu findenden Gedichts vorangestellt - "Sieh dir die Liebenden an", der weiter lautet, "wenn erst das Bekennen begann, wie bald sie lügen."

    Rainer Maria Rilke
    Sieh dir die Liebenden an". Briefe an Valerie von David-Rhonfeld
    Hrsg.v. Renate Scharffenberg und August Stahl
    Insel Verlag, 334 S., EUR 22,90