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Erotisches Spiel um die Macht

Im Bayerischen Wald treffen zwei Gescheiterte aufeinander: eine Modemacherin, die von der Steuerfahndung verfolgt wird, und ein Aussteiger und Hartz IV-Empfänger. Rainer Wocheles Roman "Sand und Seide" ist ein Kammerspiel mit den Merkmalen einer antiken Tragödie.

Von Eva Zeller | 25.07.2012
    Mitten im Bayerischen Wald, an der Grenze zu Tschechien, treffen zwei Gescheiterte aufeinander: Sie, Dr. Dorothea Dürr, eine erfolgreiche Modemacherin und Labelinhaberin, hat Steuern hinterzogen und wird von der Steuerfahndung verfolgt. Er, Horst, Aussteiger und Hartz IV-Empfänger, ehemaliger Computerspezialist, ist aus unserer Erfolgswelt gefallen und campiert am Waldrand. Sie ist mit ihrem Porsche in einem Sandloch stecken geblieben und braucht dringend Hilfe. Er wittert in ihr ein Exemplar dieser Machtmenschen, die Leute wie ihn, wenn es ihnen opportun erscheint, gnadenlos auf die Straße setzen.

    Das Kammerspiel beginnt, Zuschauer ist die Natur: Wolken, Wald, Vögel, Ameisen. Wie auf einer Bühne kreisen die beiden nun, Mann und Frau, umeinander, loten sich aus. Ein Spiel um Macht beginnt, er hat eine Pistole bei sich, will sie bloßstellen, besiegen, und fühlt sich doch von ihr angezogen. Sie versucht ihn mithilfe ihrer weiblichen Reize für ihre Rettung einzuspannen. Warum hat Rainer Wochele diesen Roman geschrieben?

    "Es geht mir im Kern um zwei Aspekte, es geht mir darum, gesellschaftspolitische Probleme mit einem Gesicht zu versehen, weil ich glaube, das kann Literatur. Literatur kann die großen Fragen herunterdividieren auf die menschliche Dimension, sie werden dadurch anschaubar, anfühlbar, schmerzhaft, glückhaft, wie auch immer. Was ich darstellen wollte ist ein Tatbestand, nämlich der, dass die Kluft zwischen Arm und Reich, zwischen Erfolgreichen und Nichterfolgreichen, zwischen den Habenden und den Nichthabenden, denen, die drin sind und denen die draußen sind, diese Kluft wird immer größer. Beide Sphären verlieren immer mehr das Verständnis füreinander, und der Roman versucht anhand dieser beiden Menschen zu zeigen, dass sie Ähnlichkeiten haben. Und es ist dann auch einen Liebesgeschichte, eine erotische Geschichte auch, weil ich der Überzeugung bin, die gesellschaftlichen Umstände schlagen tief ins Persönliche, ins Intime hinein."

    Rainer Wochele hat aus einem Theaterstück einen Roman gemacht. Das merkt man, denn sein Roman weist die typische Merkmale einer antiken Tragödie auf: die Einheit von Ort, Zeit und Handlung. Aber er schildert seine beiden Figuren vor allem durch Innensichten, durch Monologe. Zuerst nehmen die beiden den jeweils anderen als Repräsentanten der gegensätzlichen Gesellschaftsschicht war, aber je mehr sich die Lage zuspitzt, - sie wird mittlerweile von der Polizei gesucht -, müssen beide, - die erotische Spannung macht es möglich -, ihre Bilder revidieren und den anderen als Menschen und nicht als Projektionsfläche wahrnehmen. Er ist also ein guter Hartz IV Empfänger, sie eine gute Unternehmerin. Sind sich die beiden Protagonisten nicht doch zu ähnlich? Ist er wirklich ein typischer Hartz IV Empfänger?

    "Er ist schon ein wirklicher Hartz IV Empfänger. Und an seiner Biografie sieht man, dass wir alle nicht so sicher sein können, dass uns so ein Schicksal nicht auch begegnen könnte. Für jenes Theaterstück habe ich mich ein gutes halbes Jahr rumgetrieben unter Obdachlosen, zumal in Esslingen, dort wird eine gute Obdachlosenarbeit gemacht, und die Erfahrung aus dieser Recherche, die auch hinterfüttert ist mit statistischen Werten, ist, dass auf der Straße unter Obdachlosen unter Hartz IV Empfängern Vertreter aller gesellschaftlichen Schichten sind. Und er, der sich mal Horst nennt, mal Doktor Hochtief, weil dort ein Baucontainer der Firma Hochtief steht, er war Computerfachmann, war Abteilungsleiter, war Mittelmanagement. Und er sagt an einer Stelle, ich dachte mir passiert nichts und plötzlich ist da an der Spitze des Konzerns ein Machtwechsel, ein Geschäftsführerwechsel, der neue Mann schmeißt die alten Leute raus und bringt seine eigenen Leute und ich könnte einen Vorbildort und eine Vorbildfirma für diesen Vorgang benennen."

    Rainer Wochele hat sich im Milieu umgesehen, seine Figuren recherchiert. Es nervt, dass seine Frau Dr. Dürr immer von "Kraftschluss und Beschleunigung" spricht und diese Worte ständig wie ein Mantra ihrer Weltsicht wiederholt. So eindimensional, will man glauben, kann auch eine Modedesignerin nicht sein. Aber je länger der Roman seine Figuren umeinander herumtänzeln lässt, umso mehr gewinnen sie an Kontur und es stört dann nicht mehr, dass die Handlung irgendwie konstruiert erscheint. Denn dem Zufall kommt in diesem Roman eine wichtige Rolle zu.

    "Der Dürrenmatt hat gesagt, die größten Katastrophen für den Menschen produziert der Zufall, nicht der gescheiterte Plan, nicht die vereitelte Absicht, sondern das Zufällige, das einbricht in unser Leben. Und er hat seine ganze Dramaturgie auf diesem Gedanken aufgebaut und natürlich ist das ein Zufall, der die beiden zusammenführt.
    Aber man schlage eine beliebige Tageszeitung an einem beliebigen Tag auf und sehe die Meldungen im Lokalteil oder im vermischten Weltteil durch und man wird Zufälligkeiten der aberwitzigsten Art finden, da ist das Zusammentreffen von meiner Frau Dr. Dorothee Dürr und jenem Horst ist noch eine Schwundstufe dessen, was möglich ist. Und wenn man sich in seinem eigenen Leben mal ein bisschen umsieht mit so einer Perspektive, dann wird man sich erinnern, dass die schönsten Dinge oftmals durch Zufälle zustande kamen und auch die schlimmsten."

    Das Ende ist, soviel wird verraten, kein Happy end. Auf dieses läuft der Romans zwar hinaus, aber es ist seine Qualität, dass dies der Autor vereitelt. Stand für Rainer Wochele denn das Ende von Anfang an fest?

    "Wenn man einen Roman schreibt, muss man zumindest vier Sachen wissen: den Anfang und den Schluss, den ersten Umschlagpunkt und den zweiten Umschlagpunkt kurz vor dem Schluss. Und ich wusste immer, dass die Geschichte nicht gut ausgehen kann, der olle Hemingway hat gesagt, wenn man die Geschichten bis zum Ende verfolgt, enden sie alle mit dem Tod. Und ich wusste nicht wie dieser Tod dieses Mannes sich vollziehen wird, das hat mir dann die Geschichte gesagt. Wir haben mal einen Vierzeiler gefunden, der das ganz schön zusammenrafft: Gewinnerin trifft Loser, Loser gewinnt, pfeift Mozart und stirbt. Denn er ist ein Kunstpfeifer, der wunderbar Mozart pfeift."

    Man ist froh, dass dieser Roman so ausgeht, wie er ausgeht. Denn wenn die Erfolgreiche und der Aussteiger wirklich zusammenleben müssten, dann würde doch die Macht der Verhältnisse die Beziehung vor eine Zerreißprobe stellen. Aber vielleicht würde sich Horst auch schnell wieder einfügen in den Status quo und einfach die Seite wechseln. Wie könnte denn eine Lösung unserer gesellschaftlichen Missstände für den Autor aussehen?

    "Ich hab keine Lösungen, muss sie auch nicht haben. Literatur muss Fragen stellen und die Frage, die dieser Roman stellt, lautet: die da oben, die Zum Winkels, die Winterkorns, die 17 Millionen verdienen, der Wiedeking der 75 Millionen im Jahr verdiente und die Hartz IV-Leute, die von 360 Euro leben sollen und dann irgendwann ihre Miete nicht zahlen können, und dann ist die Wohnung weg, das sind Menschen wie du und ich. Und sie haben Gemeinsamkeiten, sie haben die gleichen Wünsche, sie haben die gleichen Sehnsüchte, sie haben die gleichen Ängste. Nur in dem Auseinanderdriften der gesellschaftliche Sphären vergessen wir das, wir denken, der Hartz IV-Mann, der auf der Straße sitzt, der ist ein ganz anderer, der hat eine Schraube locker, der ist von einem anderen Stern, der gehört nicht zu uns. Und in der Tat, wenn das Buch eine Frage stellt, dann vielleicht die: müssen wir das Tabu des Reichseins und das Tabu des Armseins, - Reichtum und Armut sind Tabuthemen- , müssen wir die nicht enttabuisieren, also anschaubar machen, befragbar machen, mit Gesichtern versehen?"

    Rainer Wochele: "Sand und Seide".
    Verlag Klöpfer und Meyer, Tübingen, 256 Seiten, 19,50 Euro