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Erreger und Erregte

Die Debatte über das Buch und die Thesen des Bundesbankvorstands Thilo Sarrazin zeigt, wie es um unsere Diskussionskultur bestellt ist. Wirklich kulturell relevante Themen geraten da schnell mal in den Hintergrund.

Von Burkhard Müller-Ullrich | 04.09.2010
    Wenn irgendjemand irgendeine Behauptung aufstellt, dann können sich zwei unterschiedliche Debatten daran anschließen; bei der einen geht es darum, ob die Behauptung stimmt, bei der anderen, was daraus folgt und aufgrund welcher Motive die Behauptung aufgestellt wurde. Im einen Fall geht es um Wahrheit, im anderen um Wirkung. Die beiden Gebiete können sich zwar berühren, aber sie müssen es nicht. Deshalb gehört es zu den Grundregeln der Diskurslogik, dass man Wahrheit und Wirkung nicht vermischt, sondern getrennt betrachtet.

    Diskurslogik ist etwas, das man im Alltagsleben ständig braucht. Denn als hochkomplexe Wesen in einer hochkomplexen Welt laufen wir ständig Gefahr, peinliche, ärgerliche oder gefährliche Missverständnisse zu produzieren. Die Eskalation eines Ehekrachs ist meist ein ohrenbetäubendes Beispiel für den Zusammenbruch der Diskurslogik; da passt kein Argument aufs andere, sondern unter dem Druck der Emotionen suhlt sich jeder in der Sinnlosigkeit seiner Beschimpfungen.

    Systematische Sinnlosigkeit kennzeichnet auch zunehmend die öffentliche Kommunikation in Deutschland. Die politischen Protuberanzen im Fall Sarrazin tragen da allesamt das Zeichen organisierter Alogik. Wenn jemand sagt: 'Kinder sind dümmer als Erwachsene', dann hat er nicht gesagt, Schulen seien sinnlos und gehörten abgeschafft, er hat auch nicht zum Kindermord aufgerufen und er hat genauso wenig den Präsidenten des Kinderschutzbundes beleidigt. Von dieser Art aber ist die Reaktionsstruktur sowohl des Medien- als auch des Regierungsbetriebs.

    Nun hat Sarrazin bekanntlich etwas anderes gesagt, als er die wachsende, nicht arbeitende, sondern von Sozialhilfe lebende und diesen Sozialhilfestaat zutiefst verachtende Unterschicht etwas präziser charakterisierte, als gemeinhin üblich. Dabei ist es zunächst einmal völlig egal, ob die Negativmerkmale in den bildungsfernen, integrationsresistenten, kinderreichen muslimischen Familien genetisch oder kulturell bedingt sind – generationenübergreifend weitergegeben werden sie jedenfalls.

    Sarrazins Bemerkung über genetische Gemeinsamkeiten der Juden lösten vor allem deshalb einen solchen Sturm aus, weil sie etwas fahrig und sogar fahrlässig war. Das heißt, hier konnte man mit wissenschaftlichen Korrekturen hineingrätschen, ohne sich im mindesten mit dem eigentlichen Argument beschäftigen zu müssen. Unser Außenminister brachte es sogar fertig, dem Philosemiten Sarrazin, der Juden für klüger hält als andere Völkerschaften, Antisemitismus nachzusagen. Gewiss haben Philosemitismus und Antisemitismus etwas gemeinsam, doch der erstere war bis jetzt weniger tödlich.

    Wenn Michel Friedman behauptet, Sarrazin habe ganzen Bevölkerungsgruppen intellektuelle Entwicklungsmöglichkeiten abgesprochen, dann offenbart sich ein typischer Diskurslogikdefekt. Es geht nämlich nicht darum, irgendjemandem etwas abzusprechen, sondern festzustellen, wie etwas ist. Aber es gehört zur idealistischen Philosophietradition in Deutschland, dass man gerne gegen Fakten protestiert. Wer in Deutschland mit Sondergewinnspannen auf dem Empörungsmarkt rechnet, der spekuliert meist richtig. Man muss nur frühzeitig auf einen Bösewicht zeigen, der etwas Unbotmäßiges von sich gibt. Sarrazin bietet sich dafür auf geradezu ideale Weise an.

    Sein Rauswurf zeigt, dass Politik ein Freistilringen ist, in dem es einzig und allein auf Stimmungen ankommt. Jetzt müssen für den ganzen öffentlichen Raum neue Tragbarkeitsberechnungen aufgestellt werden. Die gesamte politische Statik dieser Republik hat sich verändert. Denn wenn die Meinungsäußerungen eines Thilo Sarrazin als untragbar gelten, dann muss das Spektrum des Tragbaren neu definiert werden. Richtschnur dafür ist nicht die Verfassung, sondern das Dafürhalten von Leuten, die mit Büchern vor allem eins machen: sie nicht lesen.