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Erregte Gesellschaft - Philosophie der Sensation

In den heutigen Medien orientiert sich die Berichterstattung immer aggressiver an der Sensation. Vor allem der Konkurrenzdruck unter den Medien, der Zwang, Gehör zu finden, Einschaltquoten wie Absatzzahlen zu erhöhen, lässt letztlich niemandem mehr eine andere Wahl, als in diesem Strom perverser Nachrichten noch schneller mitzuschwimmen.

Hans-Martin Schönherr-Mann | 03.03.2003
    Das Wort von der Sensationsgesellschaft drängt sich auf. Doch Christoph Türke, Professor für Philosophie an der Hochschule für Graphik und Buchkunst in Leipzig, verweigert sich gerade der Erfindungsflut neuer Gesellschaften, heißen diese Risikogesellschaft, Sinngesellschaft oder Informationsgesellschaft. Weder, so Türcke, hat die gegenwärtige Gesellschaft ihren industriellen Kern verloren, noch seien die Risiken in früheren Zeiten geringer oder weniger spürbar gewesen:

    Ich denke, dass all diese Gesellschaftstypen, die da ausgerufen werden, (. .) das Ausrufen dieser Gesellschaftstypen selber ein Merkmal der Sensationsgesellschaft ist und die ist nicht neu. Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, dass nun die sogenannte Sensationsgesellschaft ein ganz neuer Gesellschaftstypus ist, sondern es geht mir darum, dass qualitativ Neues nur sinnvoll bestimmt werden kann im Verhältnis zu altem.

    Überhaupt wehrt sich der Autor gegen postmoderne Anwandlungen, die Moderne für beendet zu erklären, obgleich er sich durchaus gewissen Diagnosen von nachlassenden Fortschrittshoffnungen nicht völlig abhold zeigt. Nicht nur die sensationslüsterne Medienwelt, die schwerlich noch hehren Prinzipien der Aufklärung entspricht, vor allem auch der globale sich permanent steigernde ökonomische Konkurrenzdruck nährt solche Zweifel.

    Indes geht es Türcke nicht darum, bloß diese negative Entwicklung der modernen Gesellschaft vorzuführen. Vielmehr möchte er zugleich ihrer Herkunft und Genese nachforschen. So verfolgt er vor allem eine Bedeutungsverschiebung im Begriff Sensation seit der Renaissance. Zuvor, so Türcke, bedeutete sensatio genau das Gegenteil:

    Jede x-beliebige Empfindung oder Wahrnehmung war damit gemeint. Es hat sich dann im Lauf der Zeit gewandelt, (. .) dass die Wahrnehmung des Außergewöhnlichen mit Sensation bezeichnet wurde, des Aufsehen Erregenden und schließlich, das Aufsehen Erregende selbst. Und das ist die heute herrschende Bedeutung dieses Wortes. Und das ganze Buch besteht eigentlich in nichts anderem als in der Entfaltung einer kleinen linguistischen Nuance, nämlich einer kleinen Bedeutungsverschiebung eines einzigen Wortes. Und diese lingustische Nuance enthält meines Erachtens - und das habe ich versucht zu zeigen - Abgründe der Zivilisation.

    Erst im spätmittelalterlichen Latein gewinnt das Wort sensatio die allgemeine Bedeutung von Empfindung und sinnlicher Wahrnehmung, obgleich sich bereits bei Aristoteles ähnliche Implikationen nachweisen lassen. Im 18. Jahrhundert konzentriert sich die Bedeutung langsam auf den Extremfall der Wahrnehmung, auf das Spektakuläre und Aufsehen Erregende. Das Wort Sensation taucht gleichzeitig in vielen europäischen Sprachen auf. Offenbar schmiegt sich damit das Wort dem Puls der Zeit an: die französische Revolution als der Inbegriff der Sensation überhaupt, wenn eine jahrhundertealte Ordnung plötzlich zusammenbricht:

    Also man könnte so sagen, dass die Ausbildung der Sensationsgesellschaft eigentlich mit der Formierung der neuzeitlich kapitalistischen Gesellschaft zusammenfällt und davon ein ganz bestimmter Aspekt ist, der zunächst einmal vielleicht relativ stark im Hintergrund gestanden hat, ehe er im 20. Jahrhundert immer mehr in den Vordergrund getreten ist und sich inzwischen zeigt, dass das Erregen von Sensation, das Erregen von Aufmerksamkeit geradezu zu einer existentiellen Notwendigkeit geworden ist.

    Doch dabei entwickelt es gar keine so neue Bedeutungsdimension. Vielmehr schöpft es zugleich aus den Tiefen seiner eigenen noch weiter herkommenden Bedeutung. Etwas wahrzunehmen hatte vielmehr ursprünglich damit zu tun, dass man eine Veränderung bemerkte, die erschüttern konnte. So ist denn die Grundthese Türckes, dass in der modernen Konzentration auf Sensation als etwas Erschütterndes, das im Trommelfeuer heutiger medialer Sensationsmaschinerie gipfelt, archaische Muster der Wahrnehmung, des Erschreckens, der Überraschung wiederkehren:

    Es kehren ganz archaische Dinge wieder und das ist die nächste Dimension die das Thema hat, dass die hochtechnologische Entwicklung, die wir durchmachen, zugleich archaische Signatur hat. Dass es zugleich die Rückkehr ist zu Dingen, die in grauer Vorzeit einmal das gesamte menschliche Sensorium konstituiert haben. Und das sind solche Dinge wie Schock und Schreck und traumatischer Eingriff in den gesamten Organismus.

    Lange Zeit konzentrierte sich der philosophische Diskurs auf Empfindung als Normalfall, disziplinierte den Wahnsinn des Entsetzens. Heute indes kehrt sich die Bedeutung von Sensation in diese Extremdimension zurück und konzentriert sich zunehmend darauf: Wir leben in einer Welt permanenter Aufregungen.

    Keiner von diesen Schocks bringt uns um oder traumatisiert uns unmittelbar aber die Art und Weise wie diese Schocks aufs menschliche Sensorium wirken und langsam selber so etwas wie eine neue Anschauungs- und Wahrnehmungs- und Perceptionsform in ihnen ausprägen, lenkt zugleich den Blick zurück in die historische Frühzeit in der sich das menschliche Sensorium einmal konstituiert hat.

    Das erinnert zumindest entfernt an Adornos und Horkheimers These von der Wiederkehr des Mythos im Prozeß der Aufklärung. Indes greift Türcke noch weiter in die Frühgeschichte zurück. Dazu bedient er sich eines Indizes, das bei Sigmund Freuds Kulturtheorie schon eine herausragende Rolle spielt, nämlich der Wiederholungszwang, wenn beispielsweise ein Kind unter Tränen und Schmerzen sein Lieblingsspielzeug immer wieder gegen die Wand wirft:

    Aber ich denke in seiner Funktion als Kulturstifter, in seiner Funktion als Konstituens sämtlicher menschlicher Vorstellungen (. .) ist der traumatische Wiederholungszwang so etwas wie ein Schlüssel. (. .) weil ja der Wiederholungszwang auf den ersten Blick ja etwas absurdes macht. Er besteht darin, das Schreckliche, von dem man gerade loskommen will, zu wiederholen. Aber die Wiederholung ist der Kunstgriff um überhaupt davon loszukommen. Indem man Dinge wiederholt, macht man sie sich vertraut.

    Doch Türcke redet keineswegs einem neomarxistischen Kulturpessimismus schlicht das Wort. In seinem Schlußabschnitt Gegenfeuer zeigt er, dass beispielsweise Greenpeace als eine der erfolgreichsten NGOs der neunziger Jahre dem Trend der Sensationsmachinerie gleichzeitig erliegt, wie sich ihrer bedienen muß, um erfolgreich zu sein. Aktionen zur Rettung der Wale erregen schneller öffentliche Aufmerksamkeit als Informationskampagnen über Klimawandel. Es ist für Türcke keineswegs paradox oder zeugt auch nicht von Naivität, wenn Greenpeace schon seit langem moderne Managementmethoden zur Durchsetzung von Zielen benutzt, die gerade die destruktiven Auswirkungen modernen Wirtschaftens auf die Umwelt bekämpfen. Selbst die Revolutionäre des 20. Jahrhunderts à la Lenin mußten auf moderne Organisationsprinzipien spätestens dann zurückgreifen, wenn sie der sozialistische Alltag eingeholt hatte.

    Der Begriff Gegenfeuer kommt in meiner Arbeit an einer ganz bestimmten Stelle vor. Die Voraussetzung ist zunächst einmal die, dass wir alle uns gar nicht mehr signifikant artikulieren können in dieser Gesellschaft, ohne auf diese Weise Aufmerksamkeit zu erregen. (. .) Und nun ist die Frage, wie kann man gleichwohl Sensation machen, Sensation, die nicht einfach Strohfeuer ist, sondern wie Bourdieu das so schön genannt hat, Gegenfeuer, also die nicht einfach bloß an dieser Schraube weiterdreht, sondern zugleich versucht, etwas entgegen zusetzen.