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Erste Folge vor 40 Jahren
Fassbinders "Berlin Alexanderplatz" im Fernsehen

Den Jahrhundertroman "Berlin Alexanderplatz" zu verfilmen: Das war ein Jugendtraum von Regisseur Rainer Werner Fassbinder. Die ARD ließ sich auf das ehrgeizige Mammutprojekt ein. Am 12. Oktober 1980 hatte die Serie im Fernsehen Premiere - damals missverstanden, gilt sie heute als Meisterwerk.

Von Hartmut Goege | 12.10.2020
    Der Schauspieler GÜNTER LAMPRECHT in der Rolle des Franz Biberkopf im ersten Teil der Serie "BERLIN ALEXANDERPLATZ von 1980.
    Die Strafe beginnt: Günter Lamprecht als Franz Biberkopf im ersten Teil von "Berlin Alexanderplatz" (picture alliance / United Archives)
    "Hast es besser jetzt, wenn du rauskommst. Das Wichtigste ist, du darfst dich nicht umdrehen, wenn du weggehst. Ist nur'n Aberglaube und meistens nützt es auch nichts, aber machen muss man es trotzdem so!"
    Berlin Ende der 1920er-Jahre. Der ehemalige Transportarbeiter Franz Biberkopf, wegen Totschlags an seiner Freundin Ida, die für ihn auf den Strich ging, verurteilt, wird nach vier Jahren Haft aus dem Zuchthaus Tegel entlassen. Nun will er ein anständiges Leben beginnen. Doch ohne Perspektive im von Arbeitslosigkeit geprägten Großstadtmoloch Berlin der Weimarer Republik steht er vor einer Herkulesaufgabe.
    "All diese Menschen. Und dann die Stadt. Und die Welt. Und ick!"
    "Jetzt mach keine Schwierigkeiten, Junge. Du wirst dich schon wieder zurechtfinden!"
    Günter Lamprecht als der perfekte Franz Biberkopf
    Als am Sonntagabend des 12. Oktober 1980 die 14-teilige Verfilmung von Alfred Döblins Roman "Berlin Alexanderplatz" in der ARD startete, ging für den gerade 35-jährigen Rainer Werner Fassbinder ein Traum in Erfüllung. Schon als Jugendlicher war Fassbinder von Döblins Jahrhundertroman über einen Mann, der sich eine neue Existenz aufbauen will und doch wieder ins Kriminellen-Milieu abdriftet, fasziniert. Mit dem Berliner Schauspieler Günter Lamprecht, der den Franz Biberkopf mal bauernschlau und verschlagen, mal als staunendes Kind oder wutschnaubenden Koloss spielte, hatte Fassbinder seine Idealbesetzung gefunden Auch Lamprecht selbst schien die Rolle wie auf den Leib geschnitten:
    "Ich komm daher, genau am Alexanderplatz bin ich ja geboren, bin da groß geworden. Übrigens, alles, was bei Döblin vorkommt, die Straßen, die Tageskinos, alles das habe ich als Kind erlebt, also die Bilder waren noch da."
    Ambivalente Reaktionen
    Doch die hohen Erwartungen an das bislang aufwendigste Serienprojekt der ARD sollten sich nicht erfüllen. Die Fernsehgemeinde war gespalten. Und das lag nicht an der fehlenden Qualität der Umsetzung. Viele Kritiker empfanden die Serie als Fassbinders reifstes Werk und waren begeistert von der kunstvollen Lichtdramaturgie. Andere meinten, der Film zeige zu viele Sex- und Gewaltszenen und die Bilder seien zu dunkel, so dass auf vielen Bildschirmen nur mühsam etwas zu erkennen sei. Der enttäuschte Fassbinder machte vor allem die Sehgewohnheiten des Zuschauers dafür verantwortlich.:
    "Der ist eine Fernsehspiel-Ästhetik gewöhnt, die quasi die Fortsetzung der Tagesschau ist. Mir war immer klar, dass das kein so simpel konsumierbarer Fernsehfilm ist wie amerikanische Serien eben, sondern ich war auch darauf aus, dass das Publikum sich auseinandersetzt damit. Aber damit und nicht dagegen."
    Günter Lamprecht (als Franz Biberkopf, l) und Elisabeth Trissenaar (M) bei einer Besprechung mit dem Regisseur Rainer Werner Fassbinder (2.v.r) während der Dreharbeiten am 3.7.1979 zu dem Fernsehfilm "Berlin Alexanderplatz" nach dem gleichnamigenRoman von Alfred Döblin.
    Dunkel und morbid: Fassbinders "Alexanderplatz" brach mit der herkömmlichen Fernsehästhetik (dpa-Bildarchiv / Giehr)
    Vor allem die Springer-Presse drosch auf die Serie ein und beschimpfte Fassbinder als morbid und dekadent. Von der "teuersten Pleite" des deutschen Fernsehens war die Rede. Dabei waren die 13 Millionen Mark Produktionskosten für über 15 Stunden Film selbst für damalige Verhältnisse günstig. Auch, weil sich den Produzenten die einmalige Gelegenheit in den Bavaria-Studios in München bot, die noch intakten Berliner Straßen- und Hinterhof-Kulissen des kurz zuvor fertiggestellten Ingmar-Bergman-Films "Das Schlangenei" zu nutzen. Der damalige Produktionsleiter Dieter Minx:
    "Das war eine der wichtigsten Entscheidungen des ganzen Films. Sonst hätten wir wochenlang in Berlin, in den verschiedensten Stadtteilen Straßen abgesperrt, mit Nachtaufnahmen. Und nachdem das zum Teil nicht gerade die besten Gegenden waren, hatten wir schon einen Horror davor. Weil, das ist organisatorisch wahnsinnig schwierig."
    Drehbuch: 3.000 Seiten
    Die Vorbereitungen der Verfilmung hatten sich fast drei Jahre hingezogen. Entstanden war ein 3.000 Seiten starkes Drehbuch. In unglaublich kurzen 150 Drehtagen hatten Fassbinder und sein Produktionsteam hochkonzentriert mit der Präzision eines Uhrwerks ein Mammutwerk geschaffen. Dazu Fassbinders Kameramann Xaver Schwarzenberger:
    "Dieses Schnellsein, dieses Machen, Abhaken, das Nächste, konzentriert möglichst einmal drehen, im schlimmsten Fall zweimal, so ist ein Rhythmus entstanden, der es, glaube ich, ihm leicht gemacht hat, es durchzustehen eben, weil er sich die Kraft besser einteilen konnte. Und was das betrifft, waren wir uns total einig."
    Rainer Werner Fassbinder hinter der Kamera bei Dreharbeiten.
    Fassbinder hat "in die Seele und Abgründe dieses Landes geblickt"
    Rainer Werner Fassbinder war Regisseur, Produzent, Autor. In seinen 37 Lebensjahren hat er mehr als 40 Filme gedreht. Er sei ein Diagnostiker der deutschen Gesellschaft gewesen, so Filmkritikerin Katja Nicodemus.
    Doch die Anfeindungen in den Boulevard-Blättern zeigten ihre Wirkung. Das Schicksal des Franz Biberkopf, der immer weiter abrutscht ins kriminelle Milieu und am Ende wahnsinnig wird, interessierte von Folge zu Folge weniger Zuschauer. Von anfangs 27 Prozent Sehbeteiligung stürzten die Zahlen auf bald nur noch elf Prozent ab. Die Mehrheit der deutschen Fernsehzuschauer war offensichtlich überfordert. Heute jedoch gilt Fassbinders "Berlin Alexanderplatz" als Meisterwerk und herausragendes Dokument der Film- und Fernsehgeschichte.