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Erste Hilfe nach Massakern
Neues Konzept soll mehr Menschenleben retten

2014 starben mehr als 30.000 Menschen bei Terroranschlägen. Vor allem das lange Warten auf Hilfe kostete dabei viele Schwerverletzte das Leben. Ein Konzept, durch das mehr Opfer von Terrorangriffen und Amokläufen überleben könnten, wurde nun auf der Internationalen Konferenz über Risiken und Katastrophen in Davos vorgestellt.

Von Volker Mrasek | 30.08.2016
    Das Bild zeigt drei rote Feuerwehrautos und Feuerwehrleute auf der Straße vor dem Pulse-Club in Orlando (USA), wo am 12.6.2016 ein Mann 49 Menschen erschoss.
    Bei dem Massaker in Orlando starben viele Schwerverletzte, während sie auf Hilfe warteten. Es dauerte 184 Minuten bis Rettungssanitätern der Zugang zu den Opfern erlaubt wurde. (dpa /epa / Cristobal Herrera)
    49 Menschen starben Mitte Juni in einem Nachtklub in Orlando in den USA. Die Einsatzkräfte vor Ort brauchten über drei Stunden, um den Attentäter auszuschalten, der zuletzt Geiseln genommen hatte. Das lange Warten auf Hilfe kostete viele Schwerverletzte offenbar das Leben, wie Bradley Keating jetzt zum Auftakt der Konferenz in Davos berichtete:
    "Normalerweise sollte es so ablaufen: Die Einsatzkräfte gehen rein, drängen den Schützen schnellstmöglich zurück, und hinter ihnen rücken Rettungssanitäter nach, die sich um Verletzte kümmern. In Orlando dauerte es aber 184 Minuten bis Sanitätern der Zugang erlaubt wurde. In den Toilettenräumen hatten sich zwölf Schwerverletzte versteckt. Alle starben, während sie auf Hilfe warteten."
    Den Tatort in drei Zonen einteilen
    Bradley Keating hat Katastrophen-Management an der Universität von Südflorida studiert. Und arbeitet selbst schon seit Jahren als Rettungssanitäter. In Davos stellte er jetzt ein neues Konzept für das gemeinsame Vorgehen von Polizei- und Rettungskräften bei Amokläufen vor - eines, das mehr Leben retten könnte als bisher:
    "Mein Vorschlag ist, den Tatort in drei Zonen einzuteilen: eine heiße, eine warme und eine kalte. In der heißen Zone befindet sich der Täter. Spezialkräften muss es gelingen, ihn dort zu isolieren. Dann ergeben sich warme Zonen, auf die der Täter keinen Zugriff mehr hat und in die weitere Teams aus Polizisten und Sanitätern vorrücken können. Die kalte Zone ist dann die, in der Krankenwagen oder Rettungshubschrauber warten, um die Verletzten in Kliniken zu bringen."
    Ein Polizeiwagen in Orlando steht in der Nähe des Clubs, in dem am 12. Juni 49 Personen erschossen wurden.
    Ein gemeinsames Vorgehen von Polizei- und Rettungskräften bei Amokläufen soll mehr Leben retten können als bisher. (dpa/picture alliance/ George Wilson)
    Die meisten Schwerverletzten nach Massakern verbluten, wie Keating in Davos sagte. Viele könne man durch einen simplen Druckverband retten. Doch dafür müssten Sanitäter sie zügig versorgen und nicht erst nach Stunden wie in Orlando.
    Höheres Risiko für Rettungskräfte
    Laut Keating ist das Konzept mit den drei Zonen neu. Die Forderung, Attentatsopfer früher als bisher zu versorgen, gebe es aber auch von anderer Seite. Er sei sich bewusst, dass Rettungskräfte dadurch einem höheren Risiko ausgesetzt seien:
    "Ohne Zweifel! Und viele Sanitäter werden sich vielleicht gegen ein erhöhtes Risiko sträuben. Aber: Wir alle wollen letztlich Leben retten! Und es gibt einen Weg, um mögliche Bedenken auszuräumen: indem wir ein spezielles Training einführen. Das ist es nämlich, worüber viele Rettungssanitäter klagen, dass wir solche Einsätze nie trainieren."
    Entscheidungen über Leben und Tod
    Der US-Experte hat einen weiteren Vorschlag, wie man in Zukunft mehr Schwerverletzte nach Massakern retten könnte - durch einen simpleren und schnelleren Test für Notärzte und Sanitäter, wenn sie darüber entscheiden müssen, wer zuerst versorgt werden soll. Bisherige Checks dauerten bis zu einer Minute pro Patient und seien zu kompliziert:
    "Ich schlage einen Zwei-Stufen-Test vor, der nur 20 Sekunden benötigt. Man prüft zwei simple Dinge: Ob der Verletzte auf Kommando zum Beispiel mit dem Kopf nicken kann, und ob sein Puls fühlbar ist. Ist die Antwort in beiden Fällen 'Nein', wird das Opfer mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit sterben. Studien haben das gezeigt. Man würde sich dann zunächst um andere Verletzte kümmern. Das ist wirklich eine traurige Sache, aber auch notwendig, wenn ich dadurch fünf andere Leben retten kann."
    "Zeit ist der entscheidende Faktor"
    Solche Entscheidungen müssen Sanitäter und Notärzte grundsätzlich treffen bei Zwischenfällen mit zahllosen Verletzten. Schnellere Diagnoseverfahren könnten hier tatsächlich mehr Menschenleben retten, sagt auch Alessandra Rossodivita. Die Medizinerin forscht an der Universitätsklinik Mailand, wo mögliche Opfer bioterroristischer Anschläge behandelt werden können:
    "Zeit ist der entscheidende Faktor bei der Behandlung so vieler Opfer. Da könnte das neue Konzept helfen, schneller einzuschätzen, wer wie stark verletzt ist und wem als erstes geholfen werden sollte. Bisher verlieren wir dabei oft zu viel kostbare Zeit."