Vor 30 Jahren

Das milde Urteil zur Bhopal-Katastrophe

Verstaubte Behälter für Chemikalien stehen in der verlassenen Gasfabrik von Union Carbide (heute Dow Chemicals), aus der 1984 tödliches Gas entwich und zwischen 3.000 bis 25.000 Menschen tötete.
Giftige Hinterlassenschaft: Union Carbide - heute Dow Chemical - weigert sich weiter, das ehemalige Industriegelände von den schädlichen Überresten zu befreien © picture alliance / Shuriah Niazi
Von Andreas Baum · 14.02.2019
Bei der Explosion in einer Chemiefabrik im indischen Bhopal starben 1984 tausende Menschen. Bis heute leiden Bewohner der Region an Nachwirkungen. Vor 30 Jahren fiel das Urteil gegen den US-Konzern Union Carbide.
Bis heute weiß niemand genau, wie viele Todesopfer die Explosion eines Gastanks auf dem Gelände eines Werks der amerikanischen Chemiefabrik Union Carbide im Zentrum Bhopals forderte. Die Angaben schwanken zwischen 3.000 und 25.000.
"In der Nacht des Unglücks war ich zu Hause bei meiner Familie. Es war Mitternacht. Mein kleiner Sohn wachte auf, er weinte. Seine Augen brannten, dann juckten auch unsere Augen. Wir husteten. Es roch, als ob jemand Chili-Schoten verbrennen würde."

Ein hochgiftiges Gas

Die Stadt war in der Nacht vom 2. auf den 3. Dezember 1984 wegen eines Feiertages voller Pilger, Hochzeiten wurden gefeiert, der Bahnhof war überfüllt. Toda Ram Chauhan, ein Arbeiter bei Carbide, erinnerte sich später:
"An diesem Abend bekamen meine Kollegen den Auftrag, die Pipelines am Tanksystem zu reinigen. Also schlossen sie einen Schlauch an und begannen, Wasser einzulassen. Aber die Leitung wurde nicht sauber. Und der Vorarbeiter stoppte die Aktion. Da bekam er vom Schichtleiter die Order, solange weiterzumachen, bis die Pipeline wieder klar wäre."
Das Wasser traf in den Pipelines auf Methyl-Iso-Cyanat, das zur Herstellung des Schädlingsbekämpfungsmittels Sevin benutzt wird und das sich, wenn es sich mit Wasser verbindet, in ein hochgiftiges Gas verwandelt. Eine unkontrollierte Reaktion führte zur Explosion des Tanks. Mindestens 25 Tonnen des hochgiftigen Gases strömten aus.

Überall Tote und Sterbende

Noch in der Nacht versuchten Ärzte, bei Union Carbide in Erfahrung zu bringen, um welche Substanz es sich handelte. Dort wurde abgewiegelt, das Gas sei unangenehm, aber nicht giftig. Hunderttausende von Menschen flohen. Minutiös beschreiben dies die Schriftsteller Dominique Lapierre und Javier Moro in einem Buch über die Katastrophe:
"Vom Wind getragen, holt die Gaswolke den fliehenden Menschenstrom fast überall ein. Voller Panik rennen die Leute mit zerfetzter Kleidung und abgerissenen Schleiern wild durcheinander, in der Hoffnung, sich die Lungen irgendwo mit Atemluft füllen zu können. Überall liegen die Toten mit grünlicher Gesichtsfarbe zwischen denen, die im Todeskampf von Krämpfen geschüttelt werden und eine gelbliche Flüssigkeit spucken."
Die Zahl der Verletzten wurde auf eine halbe Million geschätzt. Hunderte erblindeten, weil die Ärzte sie falsch behandelten. Besonders häufig waren Hirnschädigungen, innere Organe wurden verletzt, auf lange Sicht wurden viele unfruchtbar.
Es dauerte nur wenige Tage, bis ein Tross US-amerikanischer Anwälte in Bhopal eintraf, die den Opfern versprachen, vor Gericht Entschädigungen zu erwirken – mindestens eine Million Rupien pro Kopf - umgerechnet 80.000 US-Dollar. Hätten die Anwälte ihre Forderungen durchgesetzt, hätte Union Carbide 40 Milliarden Dollar aufbringen müssen. Am Ende zahlte der Konzern davon nur einen Bruchteil. Es gelang ihm, in den USA darauf zu verweisen, dass indische Gerichte zuständig seien. In Indien behauptete er, dass allein die indische Tochterfirma verantwortlich gewesen sei.

Konzernchef Warren Anderson floh in die USA

Am 14. Februar 1989 erließ das Oberste Gericht Indiens ein erstes Urteil: Der Konzern wurde zu einer Zahlung von 470 Millionen Dollar an den Staat verpflichtet.
Im Gegenzug verzichtete Indien vorerst auf jede Strafverfolgung. Das Land akzeptierte die Schadensregulierung, weil zu befürchten war, dass nach einem langen Prozess noch weniger zu erwarten sein würde. Von der fehlenden Strafverfolgung profitierte vor allem der Carbide-Vorstandschef Warren Anderson.
"Wir werden unser Bestes tun, um herauszufinden, was das Problem ausgelöst hat und um sicherzustellen, dass alles getan wird, um den Verletzten zu helfen."
Wenige Tage nach dem Unglück war Anderson in Indien verhaftet worden, er kam aber gegen eine Kaution von 2.000 Dollar frei und floh in die USA. Da er von den Sicherheitsmängeln im Werk wusste und nichts tat, um sie zu beseitigen, verlangte Indien bis zu seinem Tod im Jahr 2014 seine Auslieferung – ohne Erfolg.
Das Geld, das der indische Staat von Carbide erhalten hatte, gelangte nur tröpfchenweise zu den Opfern. Bis sie Entschädigungen zwischen 400 und 2.000 Dollar erhielten, vergingen bis zu zehn Jahre. Bis heute werden in Bhopal besonders viele behinderte oder tote Babys geboren. Das Areal im Zentrum und das Grundwasser der Stadt sind noch immer vergiftet.
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