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Erste Waldorfschule
Lehrer als eine Art Priester des Wissens

Die Waldorfschule ist für die einen ein Hort esoterischen Sektierertums, andere verehren ihren Gründer Rudolf Steiner wie einen Helden. Aber trotz der Kontroversen ist die Waldorfschule weltweit erfolgreich. Am 7. September 1919, vor 100 Jahren, wurde in Stuttgart die erste eröffnet.

Von Christian Berndt | 07.09.2019
    In einer Kölner Waldorfschule liegen die Kinder im Kreis - sie tragen rote Zipfelmützen
    Kinder in einer Kölner Waldorfschule (Deutschlandradio / Monika Dittrich)
    - "Warum schicken Sie Ihren Sohn auf die Waldorfschule?"
    – "Ich denke, das ist eine Alternative zu dem, was wir hatten. So sehr sich unsere Schulen jetzt anstrengen werden, weil sie freier werden müssen, glaube ich, dass die Waldorfschule schon was hat, worauf sie bauen kann."
    Ost-Berlin 1990 - die erste Waldorf-Schule eröffnet. Elf weitere folgen innerhalb eines Jahres in der ehemaligen DDR, und seitdem hat sich ihre Zahl deutschlandweit verdoppelt. Auch in China gibt es heute 80 Waldorfschulen. Es ist eine Erfolgsgeschichte, die bei der Eröffnung der ersten Waldorfschule am 7. September 1919 in Stuttgart nicht absehbar war. Der Direktor der Waldorf-Astoria-Zigarrenfabrik hatte den Präsidenten der Anthroposophischen Gesellschaft, Rudolf Steiner, gebeten, eine Schule für die Kinder seiner Arbeiter zu konzipieren. Steiner war pädagogischer Laie und hatte nur drei Wochen Zeit – aber er sagte zu. Erziehungswissenschaftler Heiner Ullrich:
    "Es entsteht nicht alles in den drei Wochen vor Schulgründung, er rekapituliert eigentlich noch mal seine Menschenkunde und leitet daraus unterrichtsspezifische Konzepte ab."
    Steiner, 1861 in Österreich-Ungarn geboren, war nach einer gescheiterten Universitätskarriere in Berlin zur Theosophischen Gesellschaft gestoßen. Diese spirituelle Organisation, die im Okkultismus nach übersinnlichen Wahrheiten suchte, sagte dem vom deutschen Idealismus geprägten Philosophen zu. 1912 gründete er die Anthroposophische Gesellschaft und entwickelte Konzepte von alternativer Medizin bis hin zu Verfassungstheorien. Mit der Waldorfschule konnte der Universalist seine Ideen erproben:
    "Es war die erste Einheitsschule auf deutschem Boden. Außerdem war sie koedukativ, da war sie progressiv. In anderer Hinsicht war sie ein Außenseiter der Reformpädagogik, die im gleichen Jahr, 1919, so etwas wie ihren Höhepunkt hatte. Etwa verglichen mit Montessori-Schulen, Landerziehungsheimen war sie durch ihre weltanschauliche Ausrichtung eher konservativ."
    Abgrenzung zu Reformschulen
    Schülerselbstregierung wie an anderen Reformschulen akzeptierte Steiner nicht, für ihn war der Lehrer eine Art Priester, der Geheimwissen über die göttliche Verbindung von Mensch und Kosmos weitergab. Trotz dieser esoterischen Ausrichtung wurde die Schule ein Erfolg, weitere entstanden noch vor Steiners Tod 1925. Nach 1933 wurde die Anthroposophische Gesellschaft verboten, aber die Nazis sahen auch Gemeinsamkeiten – etwa mit Steiners Evolutionstheorien von der Überlegenheit einer arischen Rasse. Der Kulturhistoriker und Steiner-Biograf Helmut Zander:
    "Adolf Hitler hielt die okkultistischen Gruppierungen für schlichten Unfug, aber es gab auch andere Fraktionen im Nationalsozialismus, dazu zählen Hess und Himmler, die beide an Lebensreformtraditionen ein großes Interesse hatten. Vor diesem Hintergrund hat Hess die Waldorfschulen geschützt, er wollte sie anthroposophisch entkernen und zu Versuchsschulen machen."
    Neuer Aufschwung in den 60er-Jahren
    Trotzdem wurde 1941 die letzte Waldorfschule geschlossen. Nach dem Krieg führten die Schulen ein Nischendasein, das änderte sich ab den 60er-Jahren. Die Konzepte von Schulautonomie und notenfreiem Lernen sprachen alternative Milieus an, die Wertschätzung der Hochkultur dagegen Konservative, denen die Bildungsreformen zu weit gingen. Für Kontroversen sorgte ab den 90er-Jahren die mangelnde Auseinandersetzung mit den rassistischen Anteilen an Steiners Lehre. Eine kritische Sicht auf die Anthroposophie wird bis heute an der Waldorfpädagogik vermisst.
    "Die Lehrerausbildung ist auch noch ein Thema, was kontrovers gesehen werden muss. Die Waldorfschulen verfügen über die einzige eigenständige Lehrerbildung außerhalb der staatlichen Regelschulen. Nur 50 Prozent der Waldorfpädagogen haben eine universitäre Lehrerausbildung absolviert. Und die empirischen Studien zeigen, dass sie sich zu 95 Prozent auf die Anthroposophie beziehen, also dass Waldorfschulen durchaus Weltanschauungsschulen sind."
    Die überwiegende Mehrheit der Eltern hat dagegen kein Interesse an der Anthroposophie und nutzt pragmatisch die Vorzüge einer Schule, die Lernen ohne Leistungsdruck mit einer hohen Abiturquote verbindet. Die ist auch dem sozialen Hintergrund der Waldorfschüler geschuldet, die laut Studien zu 95 Prozent deutsche Muttersprachler sind, überdurchschnittlich viel Nachhilfe erhalten und zu zwei Dritteln Eltern mit Abitur haben.
    Die Identifikation der Waldorfschüler mit ihrer Schule ist hoch, aber die Mehrheit ist der Anthroposophie gegenüber distanziert bis kritisch eingestellt. In diesem Spannungsfeld zwischen Ideologie und den Anforderungen einer anspruchsvollen Eltern- und Schülerschaft bewährt sich die Waldorfschule heute erfolgreich als private Alternativschule.