Michael Roes: "Herida Duro"

Eine Frau als Mann in einer archaischen Welt

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Cover des Romans "Herida Duro" von Michael Roes vor dem Hintergrund eines albanischen Bergdorfs: Auf einem Schwarz-Weiß-Bild sind Häuser über einen mit Bäumen bewachsenen Hügel verteilt.
In seinem Roman "Herida Duro" zeichnet Michael Roes ein barockes Textgemälde, das durch seine Üppigkeit überwältigt. © Schöffling & Co. Verlag / Imago / Martin Siepmann
Von Dirk Fuhrig · 24.04.2019
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Das Buch "Herida Duro" erzählt die Geschichte einer albanischen Frau, die nach einem alten Gesetz als Mann lebt. Der Roman von Michael Roes spielt in einer archaischen Umgebung - und lässt sich als Studie über Geschlechterrollen und -wechsel lesen.
Herida wird in einem albanischen Dorf als Mädchen geboren, wächst aber als Junge auf und nennt sich Marijan. Sie ist eine der "Schwurjungfrauen", denen ein altes Gesetz erlaubt, als Männer zu leben und die Familien-Tradition fortzuführen, sofern kein männlicher Nachfolger geboren wurde. Eine seltsame Sitte in einem Umfeld, das ansonsten Frauen als minderwertig in die Rolle von Dienstboten und Geburtsmaschinen drängt.
Michael Roes taucht in eine archaische Welt ein, die sich auch dann kaum verändert, als der Sozialismus in Albanien in Gestalt des Alleinherrschers Enver Hoxha Einzug hält. Mehr als 40 Jahre hat er das Land in strenger Isolation von der Außenwelt gehalten.

Sexuelle Orientierung schwankend

Herida Duro schafft es aus dem Dorf in die Hauptstadt Tirana. Auf der Suche nach einem freieren Leben landet sie zunächst als Rinderzerteilerin in einem Schlachthaus, bevor sie Arbeit beim Film findet und in den Dunstkreis der Herrscherclique um Enver Hoxha gelangt. Sie macht sich als Lichtgestalterin einen Namen, erträgt den diktatorischen Sozialismus jedoch nicht und setzt sich nach Italien ab, wo sie sich in einem Pasolini-Milieu aus erfolglosen Bohémiens und Strichjungen durchschlägt. Ihr Lebenstraum ist es, einen Film über die Geschichte Jesu zu drehen.
Ein zweiter, nur vage verbundener Erzählstrang schildert eine historisch sehr viel weiter zurückliegende, im Mittelalter angesiedelte vormoderne Stammesgesellschaft, die mit Pfeil und Lanze durch die albanischen Bergen streift und nach alter Väter Sitte Jungfrauen verfeindeter Clans entführt. Auch hier sind Geschlechtszuschreibungen und sexuelle Orientierung schwankend.

Schwierige Selbstfindung eines Individuums

Die Handlung ist im Detail schwer nachzuerzählen und noch verschlungener, als es in dieser Beschreibung anklingt. So wie sich die albanischen Krieger durch das Unterholz ihrer ruralen Umgebung schlagen, so wird dem Leser einiges abverlangt an Spürsinn, Durchhaltevermögen und Instinkt, um die zahllosen Fährten, die der Autor legt, einigermaßen schlüssig zu entwirren - von der kaum zu überblickenden Anzahl der Romanfiguren ganz abgesehen. Hier leistet ein Register Hilfestellung.
"Herida Duro" lässt sich als Studie über Geschlechterrollen und -wechsel lesen, lange vor der gegenwärtigen akademischen Dekonstruktion von Geschlecht. Es ist aber auch ein Werk über die schwierige Selbstfindung eines Individuums. Und über die Unbedingtheit von Kunst, nicht nur der Filmkunst, sondern auch der Malerei und Fotografie.

Barockes Textgemälde

Michael Roes, mittlerweile 58 Jahre alt, hat mit "Herida Duro" erneut ein kolossales Werk vorgelegt. Er zeichnet in seinem 13. Roman ein barockes Textgemälde, das durch seine Üppigkeit überwältigt – ähnlich wie schon in "Das leere Viertel", mit dem er vor mehr als 20 Jahren so erfolgreich die literarische Bühne betrat.
Den Viel- und Langschreiber haben seine literarischen Reisen rund um die Welt geführt, in den Jemen, nach Algerien, in die Südstaaten der USA, nach China, und zuletzt in das Preußen Friedrichs II. Der Weltenwanderer erforscht Stammeskulturen und Geschlechterverhältnisse, die Kunst und die Strukturen der Macht. Roes' Schreiben ist anarchisch, der Text scheint aus ihm herauszubrechen wie eine Naturgewalt - allen Regeln der Marktgängigkeit entgegen. Das macht Michael Roes zu einem der sprachmächtigsten Schriftsteller der Gegenwart.

Michael Roes: Herida Duro
Schöffling & Co. Verlag, Frankfurt am Main 2019
584 Seiten, 28 Euro

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