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Lagebericht aus der Türkei
Der Staat entlässt seine Forscher

Selbstbestimmt forschen, lehren und lernen - daraus speist sich die akademische Freiheit, das geistige Fundament der Universitäten. Doch kritisches Denken ist auch unbequem. In der Türkei versucht die Politik schon lange das Tun seiner Forscher in kontrollierbare Bahnen zu lenken. Spätestens seit dem Putschversuch eskaliert die Situation.

Von Anneke Meyer | 09.04.2017
Sicherheitskräfte der Polizei gehen am 10.2.2017 vor der Universität in der türkischen Hauptstadt Ankara bei einem Einsatz gegen Demonstranten vor, die gegen die Entlassung von 330 Akademikern protestieren.
Wissenschaft unter Druck: Polizisten gehen vor der Universität Ankara gegen Demonstranten vor, die gegen die Entlassung von 330 Akademikern protestieren. (imago / Depo Photos)
15. Juli 2016, Freitagabend gegen 22 Uhr. Kampfjets fliegen tief über Ankara. Panzer sperren die Bosporusbrücken in Istanbul. Fernsehsender werden gestürmt. Unzählige Menschen gehen auf die Straße, um sich den Soldaten entgegenzustellen.
In den Morgenstunden ist der Putsch gescheitert. Zwei Tage später spricht Reccep Tayyip Erdogan bei dem Begräbnis ziviler Opfer:
"Reicht es, die putschenden Militärs zu entlassen? Nein! Das reicht nicht! Wir werden auch weiter alle staatlichen Institutionen von diesem Virus säubern."
Ausschnitte aus den DLF- und den ARD-Nachrichten:
"Heute traf es das Bildungswesen in der Türkei, die Hochschulen und Schulen. Insgesamt etwa 36.000 Lehrer, Professoren und Dekane müssen ihren Hut nehmen."
"Mit harter Hand ging die Regierung auch heute gegen die für den Putsch verantwortlich gemachten Anhänger des Predigers Gülen vor. Der Hochschulrat verfügte ein Ausreiseverbot für das gesamte Lehrpersonal der Hochschulen."
"Auch vier Monate nach dem Putschversuch gingen die Festnahmen in der Türkei heute weiter."
"Zu den entlassenen Staatsbediensteten gehören auch mehrere Hundert Wissenschaftler. Einige davon hatten Anfang letzten Jahres eine Petition für das Ende der Militäreinsätze im kurdisch geprägten Südosten der Türkei unterschrieben."
Jesse Levine:
"Es gibt kein Land, in dem Verstöße gegen die akademische Freiheit nicht passieren. Eine Sache haben alle Angriffe, egal wo sie geschehen, gemein: Sie richten sich gegen Universitäten als Ort, an dem die staatliche Autorität herausgefordert wird."
Latife Akyüz:
"Wir haben in der Türkei nie wirklich akademische Freiheit gehabt."
Olga Hünler:
"Die Politische Leitlinie hat schon immer Einfluss auf die Wissenschaft genommen. Seit dem Putschversuch ist das einfach nur offensichtlich geworden. Als wäre eine Bombe geplatzt."
Friedenspetition mit Folgen
Frankfurter Uni-Viertel. Es ist einer der ersten milden Frühlingsnachmittage. Studenten sitzen vor den Cafés. Es ist vorlesungsfreie Zeit. Latife Akyüz zündet sich eine Zigarette an.
"Die Friedenspetition zu unterzeichnen, das war meine gesellschaftliche Verantwortung als Wissenschaftlerin. Ich bin Soziologin. Als Soziologin muss man sich einmischen. Wir können nicht nur denken, analysieren, schreiben. Zur Theorie gehört Praxis. Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnis. Das ist unsere Aufgabe, nicht einfach ein rein persönliches Interesse."
Im Sommer 2015 ist der Kurdenkonflikt in der Türkei mit voller Brutalität wieder aufgeflammt. Im Januar 2016 fordert sie zusammen mit 1128 Wissenschaftlern von der Regierung eine Wiederaufnahme von Friedensgesprächen in den kurdischen Gebieten. In der Petition heißt es:
"Wir fordern die Regierung auf, die Bedingungen für eine friedliche Beilegung des Konflikts zu schaffen. Hierfür soll die Regierung eine Roadmap vorlegen, die Verhandlungen ermöglicht und die Forderungen der politischen Vertretung der kurdischen Bewegung berücksichtigt. Um die breite Öffentlichkeit in diesen Prozess einzubinden, müssen unabhängige Beobachter aus der Bevölkerung zu den Verhandlungen zugelassen werden. Wir bekunden hiermit unsere Bereitschaft, freiwillig an dem Friedensprozess teilzunehmen. Wir stellen uns gegen alle repressiven Maßnahmen, die auf die Unterdrückung der gesellschaftlichen Opposition gerichtet sind."
Akyüz:
"Ich hatte Reaktionen erwartet. Eine disziplinarische Untersuchung an der Uni vielleicht. Naja, das hatte ich gedacht. Am 11. Januar haben wir Pressekonferenzen in Ankara und Istanbul gehalten. Einen Tag später fing es an, in Dücze."
Präsident Reccep Tayyip Erdogan hält eine Rede, in der er auf die Forderungen der Wissenschaftler reagiert:
"Unter denen, die sich vermeintlich mit der Würde von Akademikern und Wissenschaftlern schmücken, gibt es eine Bande. Der Staat, der die Bevölkerung und den Boden gegen die Terrororganisation verteidigt, wird angegriffen. Was sagen sie: Recht und Freiheit würden verletzt. Ja, wegen der Aktionen der Terrororganisation werden die Rechte und Freiheiten der in der Region lebenden Menschen verletzt. Aber diese Kopien von Aufgeklärten erzählen davon, dass der Staat ein Massaker verübt. Hey Ihr Abgesang der Erleuchteten, ihr seid die Dunkelheit!"
Akyüz:
"Ich war die erste, die es getroffen hat. Ein lokaler Fernsehsender und einige Zeitungen hatten Bilder von mir auf der Titelseite mit der Überschrift 'Ein Terrorist hält sich in Düzce auf'. Ich war in meinem Büro und korrigierte die Klausuren zum Semesterende, da rief mich ein Freund an: 'Hey Lati, ich will dich nicht erschrecken, aber da steht etwas in der Zeitung.' In wenigen Minuten wurden die Zeitungsmeldungen 300 Mal über soziale Medien geteilt. Da wurde mir klar: Es ist ernst. Drei Tage später bin ich zu Freunden nach Istanbul. Und am selben Tag hat die Uni mich suspendiert. Mir ist das gar nicht persönlich mitgeteilt worden. Kein Anruf, kein offizieller Brief. Sie haben einfach nur auf der Homepage geschrieben: Sie ist suspendiert."
Am 16. Januar 2016, berichten Fernsehsender landesweit: Latife Akyüz, ehemals Soziologieprofessorin,wird per Haftbefehl gesucht. Dazu ein Bild von ihr und eine lange Auflistung von festgenommenen Wissenschaftlern.
Olga Hünler. Klinische Psychologin. Unterzeichnerin der Friedenspetition:
"Es wurde eine richtige Hexenjagd auf alle veranstaltet, die die Petition unterzeichnet hatten"
Eigentlich raucht sie nicht mehr. Jetzt fingert sie doch an einer Zigarette herum.
"Meine Universität konnte dem Druck nicht standhalten und leitete ein Disziplinarverfahren gegen alle Unterzeichner ein. Ich bin niemals in meinem Leben so erniedrigt worden. Die Befragung war auf vielen verschiedenen Ebenen beleidigend. Die Uni hat dann sogar Videokameras in den Vorlesungsräumen installiert. Angeblich um Studenten die Wiederholung von Lehrinhalten zu erleichtern. Aber wir wissen alle: Es ging darum, uns zu kontrollieren."
Olga Hünler wartet ihre Entlassung und damit den Verlust ihrer Rentenansprüche, Sozialversicherung und des Reisepasses nicht ab. Seit Sommer 2016 forscht sie in Deutschland. Viele türkische Hochschullehrer haben ihr Land inzwischen verlassen.
"Ich denke nicht, dass wir das Problem auf ein paar Akademiker, die eine Petition unterzeichnet haben, beschränken können. Was gerade passiert, wird die Zukunft der türkischen Hochschullandschaft bestimmen. Das klingt fürchterlich melodramatisch, aber die Universität sollte ein Ort der Debatten und Diskussionen sein. Wenn man die Möglichkeit wegnimmt – was dann bleibt, ist einfach ein Gebäude."
Ideal der akademischen Freiheit prägte einst auch die türkischen Unis
Akademische Freiheit wird den Universitäten in vielen Ländern per Gesetz zugestanden. Sie umfasst drei gleichwertige Aspekte. Forschungsfreiheit, Lehrfreiheit und Lernfreiheit. Eingeschränkt wird die akademische Freiheit durch die Verfassung. Strukturelle und finanzielle Autonomie sollen gewährleisten, dass akademische Regeln nicht etwa politischen Interessen unterliegen.
Dieses Ideal hat auch die türkischen Universitäten geprägt, erklärt Kader Konuk, Leiterin des Instituts für Turkistik an der Universität Essen-Duisburg:
"Die Türkei wurde 1923 gegründet und 1933 wurde in der Türkei eine Universitätsreform durchgeführt, die dann endete 1946 mit der Einführung der Idee der Universität als autonome Institution, die selbstbestimmt Forschung und Lehre betreiben kann. Und diese Art von Universitätsverständnis hat bis zum Jahre 1980, dem dritten Militärputsch, in der Türkei weiter Bestand gehabt. Und seit 1980 werden die Universitäten durch die Yükseköğretim Kurulu, den Hochschulrat mitbestimmt."
Der Hochschulrat YÖK ernennt seitdem Rektoren und Dekane der Universitäten, kontrolliert deren Haushalte, bestimmt die Lehrpläne. Von den 21 Mitgliedern wird ein Drittel direkt durch den Staatspräsidenten bestimmt. Der Ministerrat bestimmt ein weiteres Drittel. Nur die verbleibenden sieben Mitglieder wählen die Hochschulen.
"Das heißt die Autonomie der Universitäten wurde nach dem dritten Militärputsch stark eingeschränkt, und man hat einen starken Einschnitt in die Gesellschaft, in die Universitäten erwirkt. Der Hochschulrat, den man nach dem Militärputsch eingerichtet hatte, kontrolliert bis heute noch die Universitäten."
Die wichtigste wissenschaftliche Förderinstitution, TÜBITAK, bleibt von der Reform unbeeinflusst. Sie bleibt weitestgehend autonom. Im Jahr 2005 weigert sich der damalige Ministerpräsident Erdogan jedoch, den gewählten Vorstand zu bestätigen. Mithilfe eines neuen Gesetzes besetzt die islamfreundliche Regierung die Leitung des TÜBITAK stattdessen mit Kandidaten, die sie selbst ausgesucht hat.
2013 demonstrieren Wissenschaftler und Studenten vor der Marmara Universität in Istanbul. "Rückwärtsgewandte raus" skandieren sie. Drinnen findet die erste türkische Kreationismus-Tagung statt. Unterstützt durch den Universitätsrektor und YÖK.
Evolutionstheorie aus dem Lehrplan gestrichen
Mehmet Somel, Evolutionsbiologe an der Middle East Technical University in Ankara. Er ist Mitbegründer der Türkischen Gesellschaft für Ökologische und Evolutionsforschung:
"Man hat schon das Gefühl, als Evolutionsbiologe würde einem das Leben ein bisschen schwergemacht. Die finanzielle Unterstützung und die Akzeptanz der Forschung könnten besser sein. Aber es ist nicht so, dass unsere Forschung systematisch abgelehnt würde. Ganz so ist es nicht.
Laut Umfragen halten 50 Prozent der Türken die Evolutionstheorie für falsch. Die Evolution des Menschen kommt seit den 70ern nicht mehr im Schulunterricht vor. Im neu beschlossenen Lehrplan vom Januar 2017 ist das Thema komplett gestrichen.
"Natürlich ist das besorgniserregend, wenn eine breite Öffentlichkeit denkt, unsere Forschung wäre totaler Quatsch. Aber ich denke innerhalb der akademischen Gemeinschaft ist das Problem nicht so ausgeprägt. Vor einiger Zeit wurde ein Förderantrag für einen Workshop durch den TÜBITAK abgelehnt. Einer der Gutachter war offensichtlich ein religiöser Fanatiker. In der Ablehnung hieß es "Evolution sei eine zu kontroverse Idee". Wir konnten das Treffen trotzdem organisieren, aber eben ohne staatliche Förderung. Ein anderer Workshop wurde im gleichen Antragsjahr genehmigt – und da ging es sogar um die Evolution des Menschen. Man kann da nichts vorhersagen. Es kommt einfach darauf an, wer in dem Gutachterkomitee sitzt."
In der Türkei gibt es gut 100 Fakultäten für Biologie. Nicht einmal zehn davon geben in ihrem Internetauftritt an, evolutionsbiologische Forschung zu betreiben.
"Ein wirklich wichtiger Punkt, über den bisher in der Öffentlichkeit kaum geredet wird, ist das Problem, sich als Evolutionsbiologe zu habilitieren: Um Professor werden zu können muss man eine Prüfung ablegen. Das Prüfungskomitee wird aus Wissenschaftlern zusammengesetzt, die aus dem gleichen Forschungsfeld kommen wie der Prüfling. Man kann eine Reihe verschiedener Felder von einer festgelegten Liste angeben - und nun hat der YÖK 'Evolution' von dieser Liste gestrichen. Nicht als einziges. Auch andere Gebiete sind betroffen, aber natürlich hat uns das alarmiert."
In einem Werbespot für die Präsidentschaftswahl beschwört Reccep Tayyip Erdogan die Vision der Türkei im Jahr 2023:
" Wir haben unsere Träume für die Türkei aufgebaut, für die Türkei haben wir sie umgesetzt. Jetzt ist es an der Zeit für noch größere Ziele."
Das Land feiert dann 100-Jähriges Jubiläum. Bis dahin soll sich der wirtschaftliche Aufschwung, der unter der AKP Regierung Einzug gehalten hat, weiter beschleunigen.
"Mit einem pro Kopf Einkommen von 25.000 Dollar werden wir eine der zehn größten Volkswirtschaften werden."
Gelingen soll das auch durch den Ausbau von Forschung und Entwicklung. Der Forschungsetat hat sich seit 2005 verdoppelt und beträgt jetzt rund ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Von den rund 170 Hochschulen des Landes wurden 50 in den letzten zehn Jahren gegründet. Besonders produktiv sind Forschung für die Landwirtschaft, Ingenieurswesen und Medizin.
Angewandte Forschungsbereiche, die der Wirtschaft nutzen und durch "nationale Prioritäten" und TÜBITAKs Förderstrategie priorisiert werden.
Wahlwerbung:
"Für die ganz großen Ziele sind wir bereit. Die Türkei ist bereit."
80 Kilometer vierspurige Autobahn verbinden Istanbul mit Dilovasi. Einer 50.000-Einwohnerstadt am Marmara-Meer. Von Strand ist nicht viel zu sehen, stattdessen rauchende Schornsteine. Die Industrie war hier schon immer stark, und zwischen 2005 und 2012 stieg die Zahl ansässiger Unternehmen noch einmal um 35 Prozent.
Forschung über Luftverschmutzung sorgt für Kritik der Behörden
Onur Hamzaoglu, bis vor kurzem Leiter der Abteilung für Gesundheitswesen an der nahe gelegenen Kocaeli Universität, kennt die andere Seite des Aufschwungs:
"Ich habe einen medizinischen Hintergrund, aber ich habe Krankheit immer als etwas gesehen, das auch mit Lebensumständen und Gesundheitspolitik zu tun hat. Vor diesem Hintergrund habe ich angefangen, mich dafür zu interessieren wie Umweltverschmutzung durch die Industrie die Gesundheit beeinflusst."
2002 beginnt er, Todesfälle in Dilovasi zu untersuchen. Eine Analyse des örtlichen Sterberegisters ergibt, dass rund 33 Prozent der Einwohner Dilovasis an Krebs sterben. Der landesweite Durchschnitt liegt bei 13 Prozent Eine weiterführende Studie bestätigt die Ergebnisse und legt als Auslöser die industrielle Umweltverschmutzung nahe.
"Wir haben unsere Ergebnisse an der Uni und darüber hinaus bekannt gemacht und daraufhin wurde vom türkischen Parlament 2006 die 'Dilovasi-Untersuchungskommission' eingerichtet. Die wichtigste der 29 Empfehlungen im Bericht der Kommission war, den Ausbau des Industriegebiets möglichst nicht fortzusetzen. Die Investitionen gingen aber trotzdem weiter. Als sich nichts geändert hat, wollten wir darauf noch einmal aufmerksam machen."
Onur Hamzaoglu und seine Kollegen messen die Luftverschmutzung in Dilovasi und einem weniger industriellen Ort in derselben Provinz. Parallel dazu untersuchen sie die Schwermetallbelastung in Muttermilch und im Kindspech von Neugeborenen. Das Studienvorhaben wird von der Ethikkommission genehmigt. Auch die wissenschaftliche Methodik wird begutachtet und genehmigt. Die Universität sichert die Finanzierung zu.
"Im Herbst 2010 begannen Bauarbeiten für eine dritte Metall- und Stahlfabrik in Dilovasi. Ein befreundeter Journalist schrieb einen Artikel über die möglichen Folgen und fragte nach unseren Forschungsergebnissen. Wir waren mit den ersten Auswertungen fertig und ich sagte: "Die Luftverschmutzung ist an beiden Orten hoch, aber höher in Dilovasi. Die Schwermetallbelastung von Müttern und Kindern zeigt das gleiche Muster."
Nachdem der Artikel veröffentlicht war, wurden die Behörden plötzlich hellhörig. Es wäre ihre Aufgabe gewesen, sich um Lösungen zu kümmern. Stattdessen haben sie sich darüber aufgeregt, dass wir unsere Ergebnisse öffentlich gemacht haben."
Das Gesundheitsministerium, das Hamzaoglus Forschung ursprünglich unterstützt hatte, reicht eine Beschwerde beim Hochschulrat YÖK ein. Die Bürgermeister von Dilovasi und Kocaeli zeigen Onur Hamzaoglu an. Zehn Jahre hat er in die Forschung gesteckt. Fünf Jahre kosten ihn Disziplinarverfahren und Gerichtsprozesse. Im Mai 2016 wird er von allen Vorwürfen freigesprochen.
"Für meine Karriere waren die Prozesse belanglos. Aber: Sie haben verhindert, dass ich weiter Wissenschaft treiben konnte. Ich habe keine Forschungsgelder mehr bekommen. Ich bin gezielt wissenschaftlich isoliert worden."
Entlassen wird er schließlich, weil er die Friedenspetition unterzeichnet hat.
"Scholars at Risk" dokumentiert Angriffe auf die akademische Freiheit
Der Druck auf das Hochschulwesen nimmt zu. Nicht nur in der Türkei.
Jesse Levine, leitender Rechtsreferent bei "Scholars at Risk":
"Es ist ein wachsendes und sehr ernstes Problem. Egal ob es um die Rechte einzelner Wissenschaftler geht oder darum, die Standards für den Schutz akademischer Freiheit weltweit zu erhöhen – es gibt eine Menge zu tun."
Die in New York ansässige Initiative setzt sich weltweit für den Schutz des Hochschulwesens und akademischer Werte ein. Sie dokumentiert Angriffe auf die akademische Freiheit und berichtet internationalen Gremien wie den Vereinten Nationen.
"Unser Mandat ist global, also beobachten wir alle Staaten. Die Türkei ist allerdings eines der Länder, das schon länger immer wieder in unseren Fokus rückt. Es gab wiederholt Fälle in denen akademische Freiheit untergraben wurde, Freiräume eingeschränkt wurden. Also sehr ernste Bedenken, dass Akademiker dort ihre Arbeit nicht in einer freien und ergebnisoffenen Weise fortführen können."
1998 wird die Soziologin Pınar Selek unter Terrorverdacht festgenommen. Insgesamt wird ihr Fall drei Mal vor Gericht gebracht. Sie wird jedes Mal freigesprochen.
2009 wird der Chemie-Ingenieur Kemal Gürüz, in Gewahrsam genommen. Der ehemalige Vorsitzende des Hochschulrats YÖK soll einer Geheimorganisation angehören, die einen Putsch geplant hat. Ob die Geheimorganisation je existiert hat, ist unklar.
2011 wird der Politikwissenschaftlerin Büşra Ersanlı vorgeworfen, eine terroristische Organisation zu leiten. Sie wird festgenommen und bleibt neun Monate in Haft.
Levine:
"Es wäre übertrieben zu sagen, die Türkei hätte eine lange Tradition, akademische Freiheit zu beschneiden. Zumindest nicht mehr als das in anderen Ländern auch der Fall ist. Es gab eine Reihe von sehr besorgniserregenden Vorfällen. Aber weiter würde ich nicht gehen, um das Land zu beschreiben – bis zur Friedenspetition. Seitdem hat die Zahl der Angriffe auf Akademiker exponentiell zugenommen."
"Scholars at Risk" dokumentiert und überprüft seit 2013 Angriffe auf die akademische Freiheit systematisch. Seit Beginn der Aufzeichnungen bis Anfang 2016 wurden neun Vorfälle in der Türkei registriert. Zwischen Januar und Juni 2016 werden knapp 80 Wissenschaftler entlassen oder suspendiert. Die allermeisten haben die Friedenspetition unterschrieben und gelten damit als Sympathisanten der Terroristischen PKK. Rund tausend Disziplinarverfahren werden eingeleitet.
Seit dem Putsch im Juni sind 15 Universitäten geschlossen worden. Mehr als 7.000 Hochschulangestellte wurden per Notstandsdekret entlassen. Die meisten sollen der als terroristisch eingestuften Gülen Bewegung angehören und gelten damit als Unterstützer des Putschversuchs.
Levine:
"Die Tatsache, dass es Anti-Terror-Gesetze gibt und Menschen, die einen Putsch unterstützt haben, danach verurteilt werden, ist an sich kein Problem. Natürlich hat jede Regierung ein Recht, sich gegen Angriffe zu verteidigen. Aber diese Gesetzte können leicht als Vorwand benutzt werden, um Intellektuelle zu verfolgen, deren Botschaft eine Regierung nicht hören will. Das Problem in der Türkei ist, dass kaum Beweise gegen die Beschuldigten vorgebracht werden. Verhaftungen und Entlassungen passieren massenhaft und ohne jegliche Rücksicht auf die Menschenrechte. Wenn wir uns auf Beispiele beschränken, verlieren wir das wirkliche Problem aus den Augen: Die Menge und die Leichtigkeit mit der vorgegangen wird."
Dekane müssen Listen mit Gülen-Anhängern erstellen
Ausschnitt aus den "tagesthemen":
"Seit Monaten läuft eine Kampagne gegen Kurdische Oppositionelle und Anhänger des Predigers Gülen. Staatspräsident Erdogan wird zitiert 'Europäische Türken, haltet euch nicht zurück, denunziert die Gülen-Anhänger'."
Konuk:
"Der YÖK wird jetzt gerade als Mittel zur Gleichschaltung der Universitäten genutzt, sodass beschlossen wurde, dass der Rektor einer jeden Universität in der Türkei vom Hochschulrat bestimmt werden kann."
In dem neuen Verfahren schlägt YÖK drei Kandidaten vor, aus denen der Präsident seinen Favoriten ernennt. Er kann die Vorschläge aber auch verwerfen und einen nicht nominierten Professor seiner Wahl direkt ernennen. Im November wurde so der neue Präsident der Istanbuler Boğaziҫi-Universität bestimmt. 350 Hochschullehrer weigerten sich, den neuen Rektor anzuerkennen.
Konuk:
"Der Hochschulrat YÖK hat die Dekane dazu gezwungen, Listen zu erstellen mit Regime-Kritikern, die entweder der Gülen-Bewegung nahestehen oder aber als Unterstützer der Kurdischen Terroristischen Vereinigung bezichtigt werden könnten."
Die Listen werden in den regelmäßig erscheinenden Dekreten abgearbeitet. Statistiken dazu, wie viele Wissenschaftler das Land verlassen haben, bevor ihnen durch Entzug des Reisepasses die Möglichkeit dafür genommen wird, gibt es nicht.
Konuk:
"Ich selbst habe wenig Wissen darüber wer an diese Stellen eigentlich rückt, weil man fragt sich ja wirklich, gibt es eine andere gebildete Schicht, die darauf gewartet hat und in diese Position hineinrücken kann."
Viele Doktoranden haben ihre Betreuer verloren. Ihre Promotion können sie nicht zu Ende bringen. Studenten von Universitäten die geschlossen wurden, sollen auf Hochschulen in anderen Landesteilen umgelegt werden. Aber auch dort fehlen Hochschullehrer.
Hamzaoglu:
"Am siebten September 2016 haben wir ein trauriges Fest auf dem Campus von Kocaeli gefeiert. Es war fast wie eine Rebellion. Es waren so viele Studenten und Kollegen da, um uns zu verabschieden. Es waren Sicherheitskräfte angeheuert worden, um alles abzusperren. Aber sie haben uns einfach in Ruhe gelassen. Wir haben uns verabschiedet, aber die Botschaft war: 1. Wir kommen wieder. 2. Wir gehen nicht weg aus Kocaeli. 3. Wir werden auch weiter unsere Studenten unterrichten."
"Wir nehmen weiter Einfluss"
Drei Wochen später, zum offiziellen Semesterbeginn, eröffnen Onur Hamzaoglu und die 20 mit ihm entlassenen Kollegen die "Kocaeli Solidaritäts Universität". Einmal die Woche halten sie Seminare im Haus der Lehrergewerkschaft ab.
"Wir lassen uns nicht zu Opfern machen. Wir nehmen weiter Einfluss", sagt er. Regelmäßig kommen zu den Veranstaltungen über hundert Teilnehmer.
Hünler:
"Ich bin mit meinen Gedanken ganz in der Türkei. Was ich und Kollegen hier versuchen, ist, eine Stimme zu sein, die Bewusstsein dafür schafft, was an türkischen Hochschulen passiert."
Somel:
"Die Wissenschaftswelt und der Rest der Gesellschaft haben sich zu parallel Welten entwickelt. Und selbst wenn dadurch auch Vorteile entstehen, es ist ein Problem, dass die Wissenschaft es nicht schafft, die öffentliche Meinung zu erreichen."
Akyüz:
"In meiner ersten Woche hier in Deutschland hörte ich davon, dass diese AFD-Studenten an den Universitäten immer stärker werden. Mit was für Aktionen sie provozieren. Genau so hat es in der Türkei angefangen. Ich meine nicht, dass ich glaube, Deutschland würde dasselbe passieren. Aber wir müssen für solche Entwicklungen sensibel sein. Denken wir nur an Trump in den USA, die Ultranationalisten in Frankreich. Wir müssen alle zusammen, international etwas dagegen tun."