Donnerstag, 18. April 2024

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Erster Weltkrieg
1914 - "Auch Stimmung aus Angst und Abwarten"

In Deutschland habe es zwar 1914 Begeisterung für den Krieg gegeben, sagte der Historiker Jörn Leonhard im DLF. Als Grund nannte er das Gefühl, dass das Vaterland von außen - von Russland - angegriffen wurde. Im Gegensatz zur Stadt habe auf dem Land aber eine andere Stimmung vorgeherrscht.

Jörn Leonhard im Gespräch mit Reinhard Bieck | 02.08.2014
    Der Freiburger Historiker Jörn Leonhard, aufgenommen am Donnerstag (08.07.2010) in Stuttgart.
    Für den Historiker Jörn Leonhard habe Deutschland keine Alleinschuld, aber eine Hauptverantwortung. (dpa / Marijan Murat )
    Eine große Welle der Euphorie habe es aber in Deutschland nicht gegeben, sagte Jörn Leonhard. Es gab einen großen Unterschied zwischen Großstädten und dem Land - auf dem Land habe eine Stimmung aus Angst und Abwarten vorgeherrscht. Und bis Ende Juli habe es in Arbeiterbezirken auch so etwas wie Friedensdemonstrationen gegeben. Die Stimmung sei gekippt, als von der Politik propagiert wurde, dass Russland der Angreifer sei. Vieles habe mit dem Gefühl zu tun, das man der Angegriffene sei und nicht der Angreifer.
    Zweiter Weltkrieg
    Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges habe unter anderem auch mit dem Ersten Weltkrieges zu tun. Am Ende des Ersten Weltkrieges wären alle unzufrieden gewesen, erklärte Leonhard, die Sieger wie die Besiegten.
    Schuldfrage
    Hinsichtliche der Schuldfrage im Ersten Weltkriege gäbe es laut dem Historiker keine einfache Antwort. Die Schuldfrage lasse sich nicht einfach erklären, es sei eine komplizierte Form der Interaktion zwischen den unterschiedlichen Bündnissen. Trotzdem habe Deutschland eine Hauptverantwortung, keine Alleinschuld.

    Das Interview in voller Länge:
    "Es gibt nicht nur Euphorie"
    Leonhard: Ja, also ich würde von vornherein infrage stellen, dass es diese Begeisterung in dieser Form so allgemein gegeben hat. Man muss klar sagen, es hat Begeisterung gegeben und sie hat zu tun mit dem Gefühl, dieses Vaterland wird von außen überfallen, es wird angegriffen – das bezieht sich vor allen Dingen auf Russland –, aber man muss ebenso deutlich sagen, es hat nicht die eine große Welle an Euphorie gegeben, es macht einen großen Unterschied, ob man sich in Großstädten in bürgerlichen Quartieren befindet oder auf dem flachen Land.
    Es hat auch bis Ende Juli in vielen Arbeiterbezirken durchaus so etwas wie Friedensdemonstrationen gegeben. Die Stimmung kippt erst dann, als klar wird oder zumindest von der Politik so dargestellt wird, dass Russland der Angreifer ist, und dann kann man gegenüber insbesondere den Arbeitern sagen, das ist ein Kampf gegen das autokratische Zarentum, das 1905 die russischen Arbeiter zusammengeschossen hat. Alles vieles hat mit dem Gefühl zu tun, dass man der Angegriffene ist und nicht der Angreifer.
    Aber noch mal: Auf dem flachen Land gibt es eine Stimmung aus Angst und Abwarten, aus Spannung, es gibt viele Menschen, die das Geld abheben und nur Silber- und Goldmünzen wollen, die keinen Banknoten mehr trauen, es gibt Hamsterkäufe. Es gibt nicht nur Euphorie. Das Augusterlebnis ist sehr viel bunter und spannungsreicher und nicht so eindeutig, wie es die Vorstellung von allgemeiner Kriegseuphorie nahelegt.
    "Am Ende des Ersten Weltkriegs waren alle unzufrieden, die Sieger wie die Besiegten"
    Bieck: Nun kann man sowieso sagen, sofern es überhaupt Begeisterung gab, die hat sich schnell gelegt. Der Erste Weltkrieg hat 17 Millionen Menschenleben gefordert, für Soldaten und die Zivilbevölkerung waren diese vier Jahre wirklich die Hölle auf Erden. Warum konnte es aber dann nur ein paar Jahre später zum Zweiten Weltkrieg kommen?
    Leonhard: Ich bin vorsichtig im Ende des Ersten Weltkriegs sozusagen schon dezisionistisch den Keim zum Zweiten Weltkrieg zu sehen. Sie müssen sich vorstellen, dass es Ende 1917 in Tausenden von Feldpostbriefen von allen Seiten die Hoffnung gibt, das ist der letzte Krieg, und wir müssen ihn mit diesen entsetzlichen Opfern zu Ende führen, um das Prinzip des Krieges nie wieder in dieser Form zu erleben.
    Warum bricht der Zweite Weltkrieg dennoch aus? Das hat viel damit zu tun, dass am Ende des Ersten Weltkriegs alle unzufrieden sind, die Sieger wie die Besiegten - es gibt in Italien die schöne Formel der Vittoria mutilata, des verstümmelten Friedens. Das heißt, auch viele militärische Sieger fühlen, dass sie politisch eigentlich nicht die Dividende eingefahren haben, die sie erhofft hatten, und bei den Besiegten - denken Sie an Deutschland, denken Sie an den Versailler Vertrag - ist es das Gefühl, dass man eine aggressive Revisionspolitik gegen diese Friedensverträge machen muss, das gilt auch für Ungarn, das gilt insbesondere für die Türkei.
    Also viele, die aus diesem Krieg als Geschlagene hervorgehen, werden die Politik der Zwischenkriegszeit nutzen, um die Bedingungen der Friedensverträge zu revidieren, und zwar mit Gewalt. Und das ist auch der Grund dafür, dass dieser Erste Weltkrieg eben nicht das Ende der Gewalt, nicht das Ende des Krieges war, sondern enorme Belastungen in die Zwischenkriegszeit getragen hat.
    "Die Schuldfrage ist die komplizierteste Frage"
    Bieck: In Ihrem Buch machen Sie um die Schuldfrage einen Bogen – warum?
    Leonhard: Ich glaube nicht, dass ich einen Bogen darum mache. Die Schuldfrage ist die komplizierteste Frage, und es gibt keine einfache Antwort im Sinne von, die sind's gewesen. Die Situation ist sehr viel komplizierter, es ist eine komplizierte Interaktion. Wir wissen, um das an einem Beispiel zu erläutern, dass es nicht nur den Blankoscheck der deutschen Regierung gegenüber Wien gegeben hat, es hat auch eine Art von Blankoscheck Russlands gegenüber Serbien gegeben und wiederum eine massive Unterstützung Frankreichs für Russland.
    Das heißt, wir haben eigentlich eine komplizierte Form von Interaktionen zwischen den unterschiedlichen Bündnissen, und deshalb lässt sich diese Schuldfrage gar nicht so einfach erklären. Ich würde trotzdem sagen, Deutschland hat eine Hauptverantwortung, keine Alleinschuld - Schuld ist auch ein stark moralisch aufgeladener Begriff -, und diese Hauptverantwortung, an der ich dennoch festhalten würde, die mache ich daran fest, und das hab ich in dem Buch auch deutlich gesagt, dass der Schlüssel zur Deeskalation wesentlich in Berlin, auch in London, aber wesentlich eben auch in Berlin lag. In vielen Krisen vor 1914 - denken wir an die Balkankriege - hat die Internationalisierung zur Deeskalation beigetragen. Dass das im Sommer 1914 nicht so ist, dass die Internationalisierung zur Eskalation beiträgt, hat wesentlich auch mit der deutschen Politik zu tun, aber nicht nur. Das Bild ist komplizierter, und deshalb gibt es nicht den einen Schuldigen, da sind wir in der Debatte heute erheblich weiter.