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Erster Weltkrieg
Der Krieg als Großereignis für die ganze Familie

Aus Briefen und Tagebüchern rekonstruiert Dorothee Wierling die Geschichte einer zu Anfang des 20. Jahrhunderts prominenten, heute vergessenen Familie. Sie lässt den Leser miterleben, mit welchen Gedanken und Gefühlen Menschen einem Krieg entgegen sahen, den sie völlig unterschätzt hatten und der sie schließlich verschlang.

Von Helmut Mörchen | 08.07.2014
    Die Schriftstellerin, Frauenrechtlerin und SPD-Mitglied Lily Braun in einer zeitgenössischen Aufnahme.
    Die Schriftstellerin, Frauenrechtlerin und SPD-Mitglied Lily Braun in einer zeitgenössischen Aufnahme. (picture alliance / dpa)
    Das Buch schöpft aus einem riesigen, im New Yorker Leo-Baeck-Institut aufbewahrten Konvolut von Briefen und Tagebüchern einer im frühen 20. Jahrhundert prominenten, heute gänzlich vergessenen deutschen Familie. Lily Braun, 1865 als Tochter des späteren General Hans von Kretschmanns geboren, war eine populäre Sozialdemokratin und Feministin, die in zweiter Ehe mit dem Journalisten Heinrich Braun, Jahrgang 1854 und Herausgeber der sozialdemokratischen Monatszeitschrift "Neue Zeit", verbunden war. Für Heinrich Braun war dies bereits die dritte Ehe. Im Jahr 1897 wurde ihr gemeinsamer Sohn Otto geboren. Zu dieser Familie stößt Anfang 1913 die damals 29-jährige Kunsthistorikerin Julie Vogelstein, die zur Freundin wurde und alle drei lange überlebte.
    Die Ehe der Brauns war zu diesem Zeitpunkt bereits durch quälende finanzielle Streitigkeiten und einen offenen Ehebruch Lilys belastet. So kam Julie eine Schlüsselstellung zu: zunächst als Vertraute Lilys und schwesterliche Freundin des Sohnes. Dann als Geliebte Heinrichs, der sie 1920, vier Jahre nach dem Tod Lilys heiratete. Als schließlich Heinrich 1927 starb, kümmerte sie sich, 1936 in die USA emigriert, bis zu ihrem Tod im Jahre 1971 unermüdlich um den Nachruhm der Familie.
    Der Vater übernimmt eine weibliche Rolle
    Im Mittelpunkt des Buches steht Otto Brauns Weg in den Krieg. Nach dem Abitur schien die Vorbereitung dieses hochbegabten, ehrgeizigen jungen Mann auf eine Führungsposition in der deutschen Gesellschaft selbstverständlich zu sein. Der Ausbruch des Kriegs löste im Blick auf dieses Ziel im Familienquartett Turbulenzen aus. Dorothee Wierling:
    "Ich denke, dass man Otto am leichtesten verstehen kann. Der ist 17, der ist in der Adoleszenz, den interessieren Fragen von Männlichkeit und Heroismus und er beschäftigt sich damit, ein zukünftiger Führer zu werden. Und dann bricht der Krieg aus, den er gar nicht erwartet hat und er sieht in diesem Krieg sozusagen die Chance, dieses Ideal, das er von sich selbst hat, unmittelbar in Realität umzusetzen. Die Mutter, Lily Braun, die nimmt den Krieg nun besonders begeistert auf, also sie wird sozusagen unmittelbar eine Aktivistin in diesem militarisierten Milieu, und man kann an den Briefen sehr schön zeigen, dass sie sich nicht nur selbst als Soldatin entwirft, also sie würde eigentlich gerne selber in den Krieg ziehen, aber weil das nicht geht, wird der Sohn sozusagen von ihr delegiert, ich würde so weit gehen zu sagen, sie schickt ihn in den Krieg, während der Vater Heinrich eher die weibliche Rolle spielt.
    Dem ist das Militär als Milieu völlig fremd. Lily Braun kommt ja aus einem Generalshaushalt. Der Krieg ist ihm unheimlich, und er will den Sohn eigentlich vor dem Krieg bewahren und das gelingt ihm eben nicht, daran scheitert er. Und schließlich Julie Vogelstein, die Freundin und Geliebte, übernimmt eine etwas merkwürdige Rolle als Chronistin und Biografin der Braun-Familie, aber schon während des Krieges versucht sie diesen Krieg zu erklären, ihn mit Sinn und mit Schönheit auszustatten, und ihr Mittel - sie ist ja sozusagen Kunsthistorikerin - ist sozusagen eigentlich das Vorbild der griechischen Tragödie, sie erzählt und beschreibt den Krieg als sagen eine Welt, in der ewig gültige Werte zum tragen kommen."
    Jubel über Fronteinsatz
    Ottos Impuls, sich noch als Schüler als Kriegsfreiwilliger zu melden, wurde durch die Musterung und Tauglichkeitserklärung Anfang August 1914 forciert. Dem Notabitur wenige Tage danach folgte das Warten auf die Einberufung. Der gerade 17-Jährige wurde im September zur militärischen Grundausbildung eingezogen. Die erste Kommandierung im Dezember 1914 führte aber erst mal in die Etappe, auch im Frühjahr 1915 blieb die Hoffnung auf "Feld" und "Feuer" erst einmal unerfüllt. Otto Braun litt darunter, "dass er den Krieg eben nicht erlebte, sondern nur imaginierte." So blieb viel Zeit für Korrespondenz mit den Eltern und für Lektüre der ihm von zuhause zugesandten Bücher. Auch dieser Aspekt ist von Dorothee Wierling von Interesse. Sie widmet den "Kriegslektüren" einen ausführlichen Exkurs.
    Die Bücher, die Otto mit sich führte, Sachliteratur und Belletristik, darunter klassische Dichtung wie auch einfache Unterhaltungslektüre, kommentiert sie aufschlussreich. Geschichtsbücher versprachen "Ordnung, Sinn und Ziel in das zunehmend komplexere und unbegreiflichere Geschehen zu bringen." Poetische Texte trugen zur "Ästhetisierung des Krieges" bei, unterhaltende Lektüre eröffneten dem ja noch so jungen und lebensunerfahrenen Soldaten die Perspektive, dass es "jenseits der Welt des Krieges noch eine andere gab, eine in der gedichtet, geliebt und getrauert wurde, in der Menschen in Schlössern und in der Natur lebten, in der sie Reiseabenteuer erlebten, Familien gründeten und sich bildeten." So liest er zum Beispiel Knut Hamsuns Liebesroman "Viktoria" in Erinnerung an eine erste, unerfüllt gebliebene Liebe während der Berliner Wartezeit auf ein neues, letztes Einrücken in den Krieg.
    Julie Vogelstein wiederum, hier ganz die Kunsthistorikerin, fantasiert Otto als griechischen Helden. Als er im Juli 1915 an die russische Front abkommandiert wird, beglückwünscht sie ihn "zum Ausmarsch", zur Erfüllung seines Wunsches:
    "Im Traum sah ich Sie neulich reiten, wie einer der Griechenjünglinge vom Parthenonfries, den Blick hoch und vorausgerichtet, alles schien diesem Blick dienstbar, Roß und Körper des Reiters, ja fast als rücke der sich selber näher."
    Während die "Ereignislosigkeit seines Alltags ‚im Feld'" Otto in Langeweile und Ungeduld trieb, stürzte sich seine Mutter, Lily Braun, in die Rolle einer "Kriegerin" an der Heimatfront. Ähnlich wie Thomas Mann seine "Betrachtungen eines Unpolitischen" als "Kriegsdienst mit der Feder" verstand, reiste sie 1915 mit ihrer Schrift "Die Frauen und der Krieg" durch Deutschland, um vor meist vollen Sälen die deutschen Frauen nicht nur für den Krieg als "höchste Kulturstufe" zu begeistern, sondern zu bewusster Mutterschaft zu bewegen:
    "Für jede Hand, die sich jetzt sterbend um die Waffen klammert, schafft andere Hände, - viele kleine Kinderhände, die sich sehnend der Sonne entgegenstrecken, die den Tempel des Friedens bauen werden, auf dem einmal unsere Opferfeuer rauchen. Und für all die Hirne, die die Kugeln durchbohren, schafft andere Hirne, viele kleine Kinderhirne, die die großen Gedanken von der Befreiung der Menschheit aus den Banden aller Knechtschaft einmal zu Ende denken."
    In der Todesangst das Leben intensiv spüren
    Fassungslos stehen wir heute vor solch wahnhaftem Denken. Waren das nicht gebildete, aufgeklärte, politisch wache Menschen? Dorothea Wierling findet dafür keine einfache Erklärung:
    "Na ja, man kann zumindest einen Fall erzählen, in dem, hoffe ich jedenfalls, dieser Wahn nachvollziehbar wird. Die Brauns sind ja durchaus symptomatisch für das deutsche Bildungsbürgertum, wenn auch, wie ich schon gesagt habe, in einer reichlich extremen Ausprägung, aber sie repräsentieren natürlich auch nur ein Segment der deutschen Gesellschaft und sind jetzt nicht für die Deutschen repräsentativ. Aber mir ging's auch darum, so nah wie möglich an diese vier heranzukommen, damit irgendwie verständlich wird, warum und wie der Krieg von denen eigentlich als eine Chance gesehen wird, aus ihrem Leben was zu machen, was Höheres, was Erhabenes, oder warum Otto zurück an die Front will anstatt das Jahr 1917 in Berlin zu verbringen, nämlich weil er die Erfahrung gemacht hat, dass in der Todesangst an der Front das Leben für ihn besonders intensiv spürbar wird, und mir ist klar, dass uns Heutigen das völlig fremd ist, aber als Historikerin natürlich glaube ich eben auch, dass wir versuchen können das zu begreifen, also es kann fremd bleiben, aber - wir sollten - ich würde gerne eine Geschichte erzählen, die es möglich macht, diese Leute ansatzweise zu verstehen."
    Lily Braun stirbt krank und erschöpft am 9. August 1916, 51 Jahre alt, an den Folgen eines Schlaganfalls. Otto Braun fällt am 29. April 1918, 20-jährig, an der Somme. Gerade weil die Zeit, die die Brauns geprägt hat, uns so fern und fremd ist, ist Dorothee Wierlings Familiengeschichte ein besonders interessanter Beitrag innerhalb der reichhaltigen Literatur zum Ersten Weltkrieg. Er lässt uns aus der Nähe miterleben, mit welchen Gedanken, Erwartungen und Gefühlen Menschen einem Krieg entgegen sahen, den sie völlig unterschätzt hatten und der sie schließlich verschlang.
    Dorothee Wierling: "Eine Familie im Krieg. Leben, Sterben und Schreiben 1914-1918". Wallstein Verlag, Göttingen 2013. 415 Seiten, Euro 24,90.