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Erster Weltkrieg
Münkler: Deutschland hat heute ähnliche ökonomische Rolle wie 1914

Deutschland komme heute in ökonomischer Hinsicht eine ähnliche Funktion zu wie vor dem Ersten Weltkrieg, sagt der Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler im DLF. Auch jetzt laste auf dem Staat die Herausforderung, mit seiner Lage in der Mitte Europas vernünftig umzugehen und eine Teilung des Kontinents zu verhindern.

Herfried Münkler im Gespräch mit Peter Kapern | 30.12.2013
    Die ersten deutschen Soldaten überqueren zu Beginn des 1. Weltkriegs 1914 die französische Grenze.
    Die ersten deutschen Soldaten überqueren zu Beginn des 1. Weltkriegs 1914 die französische Grenze. (picture alliance / dpa)
    Peter Kapern: 2014, das wird das Jahr des Erinnerns an die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, wie George F. Kennan den Ersten Weltkrieg getauft hat. Dieser Weltkrieg begann am 1. August 1914, und zwar mit schmetternden Reden des deutschen Kaisers.
    O-Ton Kaiser Wilhelm II.: “Alle offenkundige und heimliche Feindschaft von Ost und West, von jenseits der See haben wir bisher ertragen im Bewusstsein unserer Verantwortung und Kraft. Nun aber will man uns demütigen. Es muss denn das Schwert nun entscheiden.“
    Kapern: Kaiser Wilhelm II. zum Beginn des Ersten Weltkriegs. Tempi passati? Alles längst vergangen und vorbei? Der Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler gehört zu jenen, die zum Jahrhundertgedenken neue Bücher über den Ersten Weltkrieg geschrieben haben. Seines heißt „Der große Krieg“ und vor der Sendung habe ich ihn gefragt, ob der Blick eines Politikwissenschaftlers auf den Ersten Weltkrieg anders ausfällt als der eines Historikers.
    Herfried Münkler: Ein Historiker wird vor allen Dingen Quellen studieren, ein Politikwissenschaftler schaut sich die Interaktionszusammenhänge an, also wie wer auf wen reagiert und vor allen Dingen, was er daraus lernt.
    Kapern: Was gibt es denn beispielsweise für heutige Politiker zu lernen aus dem, was zum Ersten Weltkrieg geführt hat?
    Münkler: Eine ganze Menge. Wir haben natürlich eine Reihe von Problemen. Wir haben das Balkan-Problem, das 1914 eine verhängnisvolle Rolle gespielt hat, natürlich wieder, und man kann sagen, dass 1990 folgende in den jugoslawischen Zerfallskriegen sich in mancher Hinsicht die Spaltungslinien von 1914 wieder gezeigt haben. Aber es ist diesmal gelungen, zweifellos auch unter Einbezug der USA, was die Differenz gegenüber 1914 darstellt, den Balkan ruhigzustellen. Das wird die Aufgabe der Europäischen Union sicherlich für die nächsten Jahrzehnte sein, mit einer Mischung aus ökonomischen Anreizen und der Präsenz von Polizei, aber auch Militäreinheiten zu verhindern, dass dort die verschiedenen Völkerschaften und Religionen aufeinander losgehen.
    Kapern: Geschichte wiederholt sich nicht, auch wenn Marx das ja anders gesehen hat. Aber Sie weisen in Ihrem Buch auf Konstellationen hin, die Ähnlichkeiten oder Parallelen erkennen lassen, die einen Leser durchaus irritieren. So bezeichnen Sie zum Beispiel den Ersten Weltkrieg als Krieg um die Mitte Europas, und diese Mitte, die habe seit 1945 nicht mehr existiert wegen der Blockbildung in Europa. Jetzt aber mit der Überwindung der Teilung findet sich Deutschland plötzlich wieder in einer Mittellage - soweit diese Analogie. Aber was hat diese, durch die Einbindung in die NATO und die EU geprägte Mittellage Deutschlands eigentlich noch mit der zu tun, die Deutschland vor 100 Jahren innehatte?
    Der Politologe Herfried Münkler
    Der Politologe Herfried Münkler (picture alliance / dpa - Erwin Elsner)
    Münkler: Auf den ersten Blick, da haben Sie sicher recht, ist das nicht zu vergleichen. Aber wenn wir bereit sind, mehrere Machtsorten voneinander zu unterscheiden, politische, militärische, ökonomische und kulturelle oder zivilisatorische Macht, dann kann man sagen, dass der Bundesrepublik Deutschland heute in ökonomischer Hinsicht wieder eine ähnliche Funktion zukommt. Da spielt also die NATO gar keine so entscheidende Rolle, sondern entscheidend ist eher die Frage, ob es gelingt, ein Auseinanderbrechen Europas, sagen wir mal, in eine Zone des Süd-Euro und eine des Nord-Euro, was ja vor einem Jahr sozusagen fast auf der politischen Agenda gestanden hat, zu verhindern, also der auf Deutschland lastende Zwang, mit dieser geopolitischen Herausforderung durch die Mittellage klug und vernünftig umzugehen und die daraus erwachsenen besonderen Chancen, aber auch die gesteigerte Verantwortung wahrzunehmen.
    "Wir müssen in kluger Weise in den Zusammenhalt Europas investieren"
    Kapern: Was heißt das konkret für Deutschland?
    Münkler: Na ja, wir lernen daraus, dass 1914 die Mechanismen darauf hinausgelaufen sind, den Konflikt nach beiden Seiten zu eskalieren, zu glauben, man könne aus der Mitte heraus in der Weise gewinnen, dass man nach beiden Seiten ausgreift. Wenn wir das einmal auf die Konstellationen des heutigen Europa übertragen, dann kommt es darauf an, dass wir in kluger Weise in den Zusammenhalt Europas investieren, das heißt, auch bereit sind, zusätzliche Lasten zu übernehmen, von denen wir vermutlich auf längere Sicht profitieren werden, die gleichwohl aber kurzfristig betrachtet Lasten sind. Und da lassen sich eine Reihe von Verbindungslinien zu 1914 herstellen, vor allen Dingen was, sagen wir mal, das Aufkommen von Ressentiments, von Ärger, dem Gefühl, von außen nicht angemessen und gerecht behandelt zu werden, und so weiter entspricht.
    Kapern: Welche Ressentiments meinen Sie da jetzt genau?
    Münkler: Na ja, nationalistische Ressentiments, dass, was weiß ich, sagen wir es mal so, wie das gelegentlich in bestimmten Journalen stand, wir durch die faulen Griechen, Italiener und Spanier, also sozusagen die PIIGS des Südens Europas ausgeplündert werden und denen nur zur Hilfe kommen müssen, und Ähnliches mehr, also sozusagen das Ressentiment als eigentlich die größte Herausforderung der politischen Vernunft.
    Kapern: Nun gilt aber doch für das Europa des Jahres 2013/2014 der Grundsatz, Demokratien führen keine Kriege gegeneinander. Oder gilt dieser Grundsatz gar nicht?
    Münkler: Na ja, das ist sozusagen eine statistische Beobachtung aus der politischen Theorie, die aber auf sehr dünnen Füßen steht. Dass die Griechen und die Türken in den letzten 20, 30 Jahren nicht aneinandergeraten sind, und zwar auch zu Zeiten, wo sie durchaus Demokratien waren, hat eher was mit der Präsenz der Amerikaner und der Rolle der NATO zu tun, als mit dem demokratischen Charakter.
    Kapern: Und was gilt mit dem anderen Grundsatz, der da lautet, die wirtschaftliche Verflechtung im heutigen Europa ist so groß, dass wir wirklich nicht mehr in eine so brisante Situation wie vor 1914 kommen können?
    Münkler: Ja, dieser Satz speist sozusagen seine Plausibilität daraus, dass die Situation vor 1914 nicht wirklich angemessen betrachtet wird. Denn damals hatte man einen Grat der ökonomischen Verflechtung. Der war so hoch, dass er im globalen Maßstab eigentlich erst in den 1970er-Jahren wieder erreicht worden ist. Und er war besonders hoch und intensiv zwischen England und Deutschland, und deswegen haben ja auch Leute wie der englische Journalist Ralph Angell oder der polnische Bankier Johann von Bloch eigentlich gesagt, es kann keinen Krieg in Europa geben aufgrund dieses Ausmaßes der ökonomischen Verflechtung, oder die Europäer wären verrückt. Das war dann 1918 genau der Fall.
    Kapern: Herr Münkler, lassen Sie mich noch mal nach einer Analogie fragen. 1914 da war der Kriegsauslöser die Ermordung des österreichischen Thronfolgers in Sarajewo. Das war ein Vorfall, der seine Wurzeln in einem Konflikt an der Peripherie Europas hatte und der dann plötzlich im Zentrum der europäischen Politik stand. Kann so etwas heute noch mal passieren, dass etwas Peripheres plötzlich handlungsbestimmend für das ganze Zentrum wird?
    Münkler: Im Prinzip kann das passieren. Wir können uns ja durchaus vorstellen, dass der Konflikt über diese Inselgruppe, den Japan und China sich zurzeit leisten, dass der in die Zentren der ostasiatischen Politik vordringt, also das gewissermaßen das deren Balkan wird. Es kommt unter diesen Umständen darauf an, das Zentrum zu sichern, beziehungsweise umgekehrt dafür Mechanismen zu erfinden, dass Konflikte, wenn sie denn ausgebrochen sind, lokalisiert bleiben, das heißt nicht um sich greifen, nicht auf andere Konflikte ausstrahlen und so weiter.
    Kapern: Insgesamt können wir, glaube ich, zusammenfassen, dass Sie mutmaßen, dass uns die Vorkriegszeit des Jahres 1914 strukturell viel näher ist, als wir eigentlich gedacht haben in dem Jahr, in dem wir bald den 100. Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkriegs begehen werden?
    Münkler: Ganz exakt. Das bringt das sehr auf den Punkt, was wir die ganze Zeit besprochen haben. Wir haben uns gleichsam eine Lernblockade auferlegt, indem wir gesagt haben, na ja, gut, entweder die Deutschen waren schuld, oder wir sind alle in diesen Krieg hineingeschliddert, und haben uns davon freigestellt, seine Dynamiken und seine Entstehungsgründe präzise zu analysieren. In dem Augenblick, wo man mit einer entsprechenden wissenschaftlichen Gelassenheit da rangeht, zeigt sich, dass das eigentlich der Konflikt ist, aus dem sich politiktheoretisch, aber auch im Hinblick auf operatives Handeln am meisten lernen lässt.
    Kapern: Der Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.