Freitag, 29. März 2024

Archiv

Erzählungen von Anton Čechov
Die Notwendigkeit eines selbstbestimmten Lebens

Anton Čechov war ein Meister der Kurzgeschichte - über 100 verfasste er in seinem Leben. Seine späten Erzählungen sind geprägt von seinen Erfahrungen als Arzt in der Provinz. Sie spiegeln die Schwere zwischen den Armen und der Intelligenzija wider und zeigen die unüberwindbare Distanz zwischen Moskau und Petersburg auf der einen und der Provinz auf der anderen Seite.

Von Jochen Schimmang | 06.06.2016
    Das Denkmal von Anton Tschechow in Taganrog.
    Das Denkmal von Anton Tschechow in Taganrog. (Imago Stock & People)
    Einige von seinen Theaterstücken hat Anton Čechov explizit Komödien genannt, obwohl etwa Die Möwe tödlich endet. Als Prosaautor hat er mit humoristischen Erzählungen begonnen, schnell und in großen Mengen für Zeitschriften geschrieben, um Geld zu verdienen. Auch die späten Erzählungen aus den letzten zehn Lebensjahren, die der Diogenes Verlag jetzt in zwei Bänden vorgelegt hat, sind immer noch Komödien. Schon lange vor Eugène Ionesco, der einmal gesagt hat, dass der moderne Geist nichts mehr ganz ernst und ebenso nichts mehr ganz leicht nehmen könne, spiegelt Čechovs Werk diese Grundverfassung der Moderne wider. Das erklärt den großen Erfolg seiner Stücke auf deutschen Bühnen in den siebziger und achtziger Jahren, nach den fehlgeschlagenen kollektiven Räuschen und Träumen der Sixties, die vielfach im Kater endeten. Da haben wir uns dann selbst auf der Bühne gesehen, ratlos, und da haben wir über uns selbst gelacht oder traurig den Kopf geschüttelt. Das erklärt auch, warum man nach Čechovs Erzählungen süchtig werden kann, warum man nicht aufhören mag, immer noch und noch eine zu lesen, damit die verzweifelte Komödie niemals ende.
    Eine junge Fabrikerbin, sechsundzwanzig, möchte wenigstens zum Feiertag den Armen Gutes tun, schafft es dann aber doch nicht und kommt am Schluss zu dem Ergebnis, dass sie, wie ihre Hausangestellten auch, einfach nur ein dummes Weib sei. Im Dorf in der Schlucht betreibt Cybukin einen Kolonialwarenladen und mehr, denn er
    "… handelte mit allem, wie es sich ergab, und wenn zum Beispiel im Ausland Elstern für Damenhüte verlangt wurden, verdiente er an jedem Paar Flügel dreißig Kopeken; er kaufte Wald zum Abholzen auf, verlieh Geld gegen Zinsen und war überhaupt ein betriebsamer Alter."
    Cybukin hat auch zwei Söhne, von denen der Ältere bei der Polizei ist und später im Gefängnis landen wird, weil er Falschgeld in Umlauf bringt. Später versteht Cybukin die Welt nicht mehr so ganz, und die Frau seines jüngeren Sohnes reißt alles an sich: die Geschichte einer Aufsteigerin, die auch vor einem Mord an einem Kleinkind nicht zurückschreckt. Natürlich gibt es auch die Dame mit dem Hündchen, die eines Tages zur Kur nach Jalta kommt und dem Moskauer Beamten Gurov auffällt, der schon seit zwei Wochen dort ist. Was als Spielerei beginnt, wird zur wirklichen Liebe, kann dann aber nicht gelebt werden, weil beide verheiratet sind, Gurov in Moskau und Anna Sergeevna in der Provinz. Am Ende heißt es:
    "Und es schien, als bräuchte es nur noch ein wenig – und die Lösung wäre gefunden, und dann würde ein schönes neues Leben beginnen; und beiden war klar, dass es bis zum Ende noch sehr sehr weit war und dass das Komplizierteste und Schwierigste eben erst begonnen hatte."
    Darüber reden, was man eigentlich tun müsste
    In dieser berühmtesten seiner Erzählungen lässt Anton Čechov zum Schluss also ein Fünkchen Hoffnung, auch wenn wir zu ahnen meinen, dass die Beiden es nicht schaffen. Ein schönes neues Leben wollen viele in seinen Geschichten haben, für sich selbst oder für ihr Dorf oder für die Armen und Ungebildeten, und sie wissen, dass etwas getan werden müsste, aber in den meisten Fällen verlässt sie die Kraft oder der Mut, weil das Herkömmliche auf jeden Fall ein vertrauteres Gelände ist als das Neue. Čechovs Menschen lieben vor allem eins: Darüber zu reden, was man eigentlich tun müsste.
    Gewiss gibt es die eine oder andere Person unter den Privilegierten und aus der Intelligenzija, meistens Frauen, die tatkräftig die hygienischen Verhältnisse in ihrer Umgebung verbessern wollen oder gegen die Unbildung und den Analphabetismus ankämpfen. Ein besonders markantes Beispiel dafür ist Lida Volčaninova aus der Erzählung Das Haus mit dem Mezzanin, die im Untertitel übrigens als Erzählung eines Künstlers bezeichnet wird, denn der Ich-Erzähler ist ein Maler, der sich als Gast auf einem Landgut von seiner Arbeit erholt. In seinem Müßiggang und seiner ästhetischen Lebenshaltung ist er der schärfste Gegensatz zu Lida, die mit ihrer jüngeren Schwester und ihrer Mutter zusammen auf einem Nachbargut lebt, und uns gleich am Anfang so vorgestellt wird:
    "Sie kam mit einer Spendenliste zugunsten der Brandopfer. Ohne uns anzublicken, erzählte sie uns sehr ernst und umständlich, wie viele Häuser im Dorf Sijanovo abgebrannt seien, wie viele Männer, Frauen und Kinder das Dach über dem Kopf verloren hätten und was das Komitee für die Brandopfer, dem sie jetzt als Mitglied angehöre, fürs Erste zu unternehmen gedenke."
    Sie lädt den Maler ein, jederzeit zu Besuch zu kommen, eher im Namen ihrer Mutter und ihrer jüngeren Schwester als im eigenen. Denn Lida ist immer unterwegs und tätig, und das Komitee für die Brandopfer ist selbstverständlich nicht das einzige, in dem sie Mitglied ist. Sie ist auch im Zemstvo, also der lokalen Selbstverwaltung auf dem Lande, die nicht lange nach der Aufhebung der Leibeigenschaft eingeführt wurde. Ihre jüngere Schwester Ženja dagegen, siebzehn oder achtzehn, liest den ganzen Tag, wenn sie nicht gerade mit dem Erzähler, der nun öfters das Gut aufsucht, Crocket spielt. Es versteht sich, dass dieser sich in das junge Mädchen verliebt – und umgekehrt, denn beide verbindet die ästhetische Auffassung der Existenz. Dass die ältere Schwester diese Verbindung nicht zulassen kann und sie am Ende durch einen Coup auch zu verhindern weiß, versteht sich auch.
    In der zeitgenössischen Rezeption ist der Erzähler dieser großartigen Geschichte fast durchgängig schlecht weggekommen, wie man Peter Urbans Kommentar entnehmen kann. Für die Mehrzahl der heutigen Leser, wage ich zu vermuten, sind jedoch gerade dieser Maler und seine Liebe Ženja die Sympathieträger, und schließlich erzählt Čechov nicht umsonst die Geschichte aus seiner Perspektive.
    Unüberbrückbare Distanz zwischen Stadt und Provinz
    Als Anton Čechov diese und andere Erzählungen schrieb und sich unaufhaltsam seinem frühen Tod durch Tuberkulose näherte, war er selbst wie Lida Volčaninova im Zemstwo tätig und tat unendlich viel Gutes. Als Arzt behandelte er arme Bauern unentgeltlich; er initiierte den Bau mehrerer Schulen und versuchte unermüdlich die Lebensverhältnisse auf dem Land zu verbessern. Zugleich war er sich im Klaren darüber, dass all das nur Tropfen auf den heißen Stein waren und die Distanz zwischen den Armen und der Intelligenzija, zwischen Moskau und Petersburg auf der einen und der Provinz auf der anderen Seite riesig und schier unüberwindbar war. Eine Vielzahl gerade seiner späten Erzählungen spiegelt diese Schere – ironisch, melancholisch, zuweilen auch mit verdeckter, aber doch spürbarer Wut.
    Was ihm immer wieder vorgeworfen wurde, dass er keine Botschaft habe, dass er allem Dogmatismus abhold war, dass seine Menschen ihr Leben verfehlen, dass seine Geschichten keine Spannungsbögen und oft kein richtiges Ende hätten, dass er oft nur skizziere, statt auszumalen – eben das macht Anton Čechov bis heute zum modernsten russischen Schriftsteller des neunzehnten Jahrhunderts und seine Erzählungen unsterblich, solange noch gelesen wird.
    Čechov in deutscher Sprache, das heißt seit Jahrzehnten Čechov in der Übersetzung und Vermittlung von Peter Urban. Der Anmerkungsapparat zu beiden Bänden ist gewohnt enzyklopädisch. Ganz konnte er diese Arbeit bis zu seinem Tod Ende 2013 nicht mehr zu Ende führen; die Fertigstellung hat dann Isabelle Vonlanthen übernommen. Die beiden Bände sollten auch als Vermächtnis dieses großen Übersetzers gelesen werden. Ohne ihn wüssten wir in Deutschland über Čechov nur die Hälfte und würden all diese todtraurigen und hochkomischen Geschichten kaum verstehen.
    Anton Čechov: Rothschilds Geige / Die Dame mit dem Hündchen. Späte Erzählungen in zwei Bänden. Übersetzt und mit einem umfangreichen Anhang versehen von Peter Urban. Diogenes Verlag, Zürich 2015, 451 und 624 Seiten, Leinen im Schuber, 48 €.