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Erzählungen von Henry James
Eine Sprache, so raffiniert wie brutal

Unter dem Titel "Das Tagebuch eines Mannes von fünfzig Jahren" hat der Manesse Verlag sechs Erzählungen des amerikanischen Autors Henry James (1843 - 1916) veröffentlicht, die bislang noch nie in deutscher Übersetzung zu lesen waren. Allen sechs Geschichten ist gemein, dass sie die Leser zu zwanghaften Beobachtern machen - zu Voyeuren und Psychologen.

Von Paul Ingendaay | 12.07.2015
    Der Schriftsteller Henry James (1843 - 1916) in einer undatierten Aufnahme
    Der Schriftsteller Henry James in einer undatierten Aufnahme (dpa / picture alliance / Pixfeatures)
    Einen Augenblick könnten wir uns dem Gedankenspiel überlassen, was geschehen wäre, wenn Henry James vor einem halben Jahrhundert einen engagierten Fürsprecher im Suhrkamp Verlag gefunden hätte. 1843 in New York geboren und 1916 als britischer Staatsbürger in London gestorben, wäre James die Idealbesetzung für den Cheftheoretiker des modernen Romans gewesen – wenn er uns denn jemals so nahe gewesen wäre wie andere Große seines Metiers. 25, vielleicht 30 oder noch mehr Bände würde die große Henry-James-Werkausgabe umfassen: Romane, Geschichten, Reisebeschreibungen, Briefe, dazu die unzähligen Essays und Rezensionen, von seinen Arbeits- und Notizbüchern über die Kunst des Romans ganz zu schweigen. Mit dem Siegel der Suhrkamp-Kultur versehen, wäre die Henry-James-Werkausgabe in deutschen Studentenwohnheimen und alphabetisierten Haushalten gelandet, wie es mit dem ebenso anspruchsvollen Marcel Proust geschah, und hätte unser Nachdenken über das Schreiben für immer verändert.
    Oper und Film haben Henry James hierzulande dem Vergessen entrissen
    Denn das ist es, was James mit uns Lesern, selbst den abgebrühtesten, tut: Er nimmt uns die Unschuld, was die gängige Psychologie von Romanfiguren betrifft. Er verwandelt uns als Leser in zwanghafte Beobachter, Voyeure, Psychologen – wie er einer war – und lehrt uns, die Entzifferung der Welt niemals für abgeschlossen zu halten.
    Doch es kam nicht dazu, zumindest nicht bei uns. So erscheint das Werk des enorm produktiven amerikanischen Schriftstellers über viele Verlage verstreut, mal schlechter, mal besser übersetzt, und ein Panoramablick auf sein Gedankengebäude ist kaum zu gewinnen. Erst die Oper und dann der Film haben James hierzulande dem Vergessen entrissen – die Dekadenz italienischer Stadtpaläste lässt sich eben reizvoll bebildern. Und als die Zeit der ambitionierten Werkausgaben für das gebildete Bürgertum definitiv vorbei war, traten vereinzelt Verleger auf den Plan und entdeckten immerhin die eine oder andere versteckte Perle. Wie jetzt wieder der Manesse Verlag, der sechs James-Erzählungen ausgegraben hat, die noch nie in deutscher Übersetzung zu lesen waren.
    Dazu sollte man wissen, dass Henry James 5.000 dichtbedruckte Seiten solcher Geschichten geschrieben hat. Sie waren für die Veröffentlichung in literarischen Magazinen bestimmt – keine short stories im klassischen Sinn, sondern tales, die im Umfang von der längeren Erzählung über die Novelle bis zum kleinen Roman reichen. Die fast fünf Jahrzehnte, in denen sie entstanden – von 1864 bis 1910 –, umspannen als Epoche den bürgerlichen Realismus und die frühe Moderne. Das berühmteste Exemplar dieser Gattung heißt "Die Drehung der Schraube", eine Gespenstergeschichte über eine Erzieherin auf einem einsamen englischen Anwesen. Sie war dem Autor vor allem deshalb teuer, weil sie – sehr zur Überraschung von James selbst – immer wieder nachgedruckt wurde und etwas Geld in die Kasse brachte. Was in der "Drehung der Schraube" zu höchster Virtuosität entwickelt ist, findet sich auch in zwei Stories dieser Neuerscheinung. Ein Erzähler berichtet von Ereignissen, die gar nicht leicht zu durchschauen sind, sondern der Deutung und des detektivischen Mitdenkens bedürfen.
    In der Titelgeschichte "Das Tagebuch eines Mannes von fünfzig Jahren" kehrt ein pensionierter britischer Militär nach 27 Jahren an seinen Sehnsuchtsort Florenz zurück und begegnet einem jungen Mann, der ganz ähnlich um eine junge italienische Adelige wirbt, wie es der alte Soldat seinerzeit mit seiner Angebeteten getan hat – zufällig die Mutter der Freundin des anderen.
    Der Stil dieser 1879 erschienen Erzählung gilt als "mittlerer James": Der selbstsichere, urbane Tonfall ist schon da, auch das Interesse an gesellschaftlichen Zusammenhängen und der ruhige, analytische Blick auf die Umgebung. Als der Erzähler nach Jahrzehnten der Abwesenheit den Salon betritt, den er als junger Liebender so gut kannte, erwacht seine amouröse Vergangenheit zu neuem Leben:
    "Sie ist ein ganz wunderbares Ebenbild ihrer Mutter; ich kam gar nicht darüber hinweg. Schön wie ihre Mutter und doch dieselben kleinen Fehler im Gesicht; aber den vollkommenen Kopf ihrer Mutter und ihre Stirn und ihre mitfühlenden, fast mitleidigen Augen. Ihr Gesicht besitzt dieselbe Eigentümlichkeit wie das ihrer Mutter, welches von allen menschlichen Antlitzen, welche ich je kennengelernt habe, jenes war, das am schnellsten und vollständigsten von einem Ausdruck der Fröhlichkeit zu dem der Ruhe übergehen konnte. Ruhe suggerierte in ihrem Gesicht stets Traurigkeit; und während man dieses Mienenspiel mit einer Art Ehrfurcht betrachtete und sich fragte, von welchem tragischen Geheimnis dies herrühren mochte, breitete sich von einem Moment zum anderen ein strahlendes italienisches Lächeln darauf aus."
    Im Kopf des Erzählers beginnt ein Spiel der Parallelen, Analogien und Reminiszenzen, angefeuert durch den lieblichen Schauplatz und die unheimliche Ähnlichkeit der Tochter mit ihrer verstorbenen Mutter. Aber sieht der alte Militär, der so unverhofft noch einmal den Palast in Florenz betritt, wirklich die Gegenwart vor sich – oder deutet er sie zu seiner eigenen Vergangenheit um? Das ist die Frage, die Henry James mit dieser Erzählung stellt. Denn die Koinzidenz, dass sich bei der Tochter eine Episode im Leben der Mutter zu wiederholen scheint, dient dem Autor nur als Sprungbrett für viel größere Erkundungen von Erinnerung und verdrängter Schuld. "Bezaubernd" nennt der Erzähler die Atmosphäre von Florenz, ein typisches James-Wort. Da gestattet man sich gern, über die gespeicherten Erinnerungen, die wir jahrzehntelang im Kopf tragen, ein wenig zu philosophieren:
    "Wo halten sie sich versteckt? In welchen unbeachteten gelassen und verborgenen Winkeln unseres Seins überdauern sie? Sie sind wie die Zeilen eines in Geheimtinte geschriebenen Briefs; man halte den Brief ein Weilchen ans Feuer, und die wohltuende Wärme treibt die unsichtbaren Worte hervor. Die Wärme dieser gelben Sonne von Florenz ist es, die den Text meiner eigenen jugendlichen Romanze erneut zum Vorschein gebracht hat; dieses Gebilde lag heute als klare, frische Seite vor mir."
    Natürlich ist das ein Irrtum. Hier bleibt überhaupt nichts "klar" und "frisch", und je lauter eine Figur bei Henry James dergleichen behauptet, desto argwöhnischer sollte man als Leser werden. Der alte Offizier a. D. wird zum Opfer seiner eigenen Überzeugungen, die ihn blind machen für die Wirklichkeit der anderen. So mischt er sich in eine Sache ein, die ihn nichts angeht, stülpt ihr seine eigenen misstrauischen Erwartungen über und ist drauf und dran, fremdes Glück zu zerstören.
    Mit größtem Respekt für James' Satzgirlanden übersetzt
    Es gehört zu den Pointen von James' Geschichten, dass der Erzähler selbst nicht bemerkt, wie peinlich das Geschehen auf ihn abstrahlt. Es ist hier, wo man den Sitz des modernen Moralempfindens vermuten darf: in der sensiblen Wahrnehmung der Welt. Unmoralisch ist es nach James, nicht genau hinzuschauen und die eigene Beschränktheit zu vergessen.
    In fünf von sechs Geschichten dieses Bandes, den Friedhelm Rathjen außerordentlich genau, liebevoll und mit größtem Respekt für James' Satzgirlanden übersetzt hat, geht es ums Heiraten. Und das heißt, manchmal um wohltemperierte Glückserwartung unter Wahrung der Konventionen und Etikette, manchmal um Scheu und Unsicherheit, dann aber auch – sogar ganz entschieden – um skrupellos ergriffene Marktchancen. In der Geschichte "Louisa Pallant" erweist sich die hübsche Tochter diesbezüglich als noch gerissener als die schlau kalkulierende Mama, die dem Erzähler immerhin in aller Deutlichkeit erklärt, wie es Frauen ohne Geld so ergeht:
    "Niemals wirklich genug zu haben – ich meine, um bloß die paar einfachen Dinge tun zu können, die wir tun wollten; niemals eine gefüllte Kriegskasse zu haben, wie Sie es wohl nennen würden – über die Mittel zu verfügen, in den Kampf ziehen zu können; an jedem Tag und zu jeder Stunde das bedrängende, unablässige Zwicken verspürt und festgestellt zu haben, dass die Frage von Dollars und Cents (und ihrer fürchterlichen Knappheit) bei allem mitschwingt, was man erlebt, und bei allem, wonach einem der Sinn steht – das macht einen einfach geldgierig, es sorgt dafür, dass Geld einem als ein Gut erscheint, dessen Nutzen alles andere übertrifft, und es ist ganz natürlich, dass es so kommt. Das ist der Grund, warum Linda der Meinung ist, ein Vermögen sei halt stets ein Vermögen. Sie weiß alles über dasjenige Ihres Neffen, wie es angelegt ist, welches Wachstum davon zu erwarten ist, auf exakt wie großem Fuße zu leben es ihr ermöglichen würde. Sie hat beschlossen, dass es reicht, und wenn es reicht, dann reicht es."
    Wunderbar zu sehen, wie brutal die Sprache wird, wenn es darauf ankommt! Mit seinem Blick auf die materielle Dimension der Liebe setzt Henry James eine Tradition des englischen Romans im 19. Jahrhundert fort, der einerseits mit der Eheanbahnung, andererseits dem Vererben der Güter die zwei wesentlichen Handlungsvehikel fand, mit denen die Konflikte der bürgerlichen Gesellschaft erzählbar wurden.
    Henry James hat selbst nie geheiratet, und ob er sich dabei für eine Frau oder doch eher einen Mann entschieden hätte, lässt sich kaum noch endgültig klären. Nach neueren Erkenntnissen verband sich seine sorgsam gebändigte Homosexualität mit einer eigentümlichen Scheu vor dem Erotischen, was ihn andererseits zu einem fabelhaften platonischen Freund verschiedener Frauen machte, darunter auch die Schriftstellerin Edith Wharton, die ihn zu langen Ausfahrten im Automobil animierte.
    In der anspruchsvollen, immer komplexer werdenden Variation der Drehbuchidee Boy meets girl fand Henry James seinen besten Stofflieferanten – oft, aber nicht immer erweitert um das sogenannte "internationale Thema" der Amerikanerin in Europa. Im vorliegenden Band kommen die Frauen dabei übrigens nicht besser weg als die Männer. Auffallend oft ergehen sich die Figuren in abenteuerlichen Hypothesen oder argwöhnen Heiratsschwindel, Doppelzüngigkeit, Betrug. Gelegentlich werden auch konkrete Summen genannt, wie viel Dollar der Kandidat oder die Kandidatin "wert" sei.
    Besonders quälend wird diese Beobachtung für die Erzählerin der mehr als 100 Seiten langen Geschichte "Die Eindrücke einer Cousine". Sie trägt das Warnschild schon im Titel: Eindrücke sind es, keine Wahrheiten. Von den schlimmen Vermutungen der jungen Frau erfahren wir nur durch ihre Tagebuchaufzeichnungen, ihre eigene Stimme und beschränkte Perspektive. Aber können wir ihr trauen? So etwa plappert sie ihre Ablehnung heraus, als ein fünf Jahre jüngerer Mann ihr überraschend einen Heiratsantrag macht:
    "Ich kann Sie niemals heiraten; ich werde niemals irgendwen heiraten. Ich bin eine alte Jungfer, und wie könnte eine alte Jungfer wohl einen Mann haben? Ich will Ihre Freundin sein, Ihre Schwester, Ihr Bruder, Ihre Mutter, aber Ihre Frau werde ich niemals sein. Ihr Bruder möchte ich wirklich sehr gerne sein, denn ich mag den Bruder nicht, den Sie haben, und ich glaube, Sie haben einen besseren verdient. Wie ich schon sagte, glaube ich an alles, was Sie mir erzählt haben – an Ihre Zuneigung, Ihre Zärtlichkeit, Ihre Aufrichtigkeit, die umfassenden Überlegungen, der Sie die ganze Angelegenheit unterzogen habe. Ich bin glücklicher und reicher dadurch, dass ich das alles weiß; und ich versichere Ihnen, es fügt meinem Leben etwas hinzu, was diesem Leben vorher abging. Wir werden gute Freunde sein, liebe Freunde, immer, ganz gleich, was geschieht. Aber Ihre Frau kann ich nicht sein – ich will Sie für jemand anderen."
    Der Irrsinn der einsamen Seelen
    Hinter solchen Monologen lauert schon der Irrsinn der einsamen Seelen, die Henry James – ein stets und gewiss unter mancherlei Opfern alleinlebender Künstler – ein ums andere Mal in den Mittelpunkt seiner Geschichten rückt. Doch er denkt nicht daran, den Lesern die Deutung als Löffelgericht zu servieren. Mit nie nachlassender Geduld und Präzision erfasst er die Gefühlsregungen seiner Figuren, lässt sie miteinander sprechen, streiten, ringen. Prosa sollte für James "die Wirklichkeit" enthalten, doch ebenso die unendlichen Möglichkeiten des Bewusstseins ahnen lassen.
    Deswegen finden sich bei keinem anderen Schriftsteller seiner Epoche so viele Überlegungen zu der Frage, welche Erzählperspektive die angemessene sei. In seinem berühmten Essay "Die Kunst des Erzählens" denkt James darüber nach, was das gängige Wort "Erfahrung" für den aufmerksamen Schriftsteller bedeuten könnte.
    "Welche Art Erfahrung ist gemeint, und wo beginnt und wo endet sie? Erfahrung ist nie begrenzt und nie abgeschlossen, sie ist eine unermessliche Empfindungsfähigkeit, eine Art riesiges Spinnengewebe aus feinster Seide, das die Kammern des Bewusstseins durchzieht und jedes in der Luft schwebende Teilchen in seinem Netz einfängt. Erfahrung ist die Atmosphäre des Geistes selbst, und wenn der Geist fantasievoll ist – umso mehr, sollte es sich um den eines Genies handeln –, nimmt er selbst die leisesten Andeutungen des Lebens auf, verwandelt er die bloßen Schwingungen der Luft in Offenbarungen."
    Das sind programmatische Sätze, so schön und klingend wie die ausgefeilte Erzählkunst, die sie heraufzubeschwören suchen. Henry James empfand sich in Paris, London oder Florenz als Flaneur und Lebensprotokollant zugleich, ein Connaisseur fremder Existenzen, der den sozialen Wahrnehmungsapparat seiner reichen Imagination ständig füttern musste. Es ist ganz und gar unmöglich, sich diesen Autor in der Provinz oder auf dem Dorf vorzustellen: Viele seiner Geschichten beruhen auf wahren Begebenheiten und Gesellschaftsklatsch, der ihm bei seinen zahlreichen Dinner-Einladungen in den Metropolen zugetragen worden war.
    Was er aber dann daraus macht, hat mit dem Kern der ursprünglichen "Story" nicht mehr unbedingt viel zu tun. James verfolgt immer eigene Interessen. Sie sollen dem Leser eine Erkenntnis verschaffen, und sei es nur die der eigenen Wahrnehmungsgrenzen. Einen großen Reiz dieses Bandes machen die raffinierten Erzählkonstruktionen aus, mit denen der Autor seine Geschichten darbietet. "Der spezielle Fall", so der Titel einer weiteren Werbungs- und Heiratsgeschichte, handelt nicht so sehr von der Liebe wie von ihrem Bereden, Bequatschen und Problematisieren. Zwei Freunde werben um zwei Frauen, die beide schon "vergeben" sind – die eine verlobt, die andere verheiratet. James erzählt den Liebesplot mit diabolischem Vergnügen indirekt, über Dritte und Vertraute, lässt also die potenziellen Paare kaum je zusammen auftreten. Das Ergebnis ist eine Studie über Argumentationsmuster und Überzeugungsstrategien im ältesten Spiel der Welt – mit einem Dummen und einem Klugen.
    Das Ganze ist so ausgetüftelt, dass man bei dieser Story aus dem Jahr 1898 manchmal an eine Shakespeare-Komödie oder Mozarts Così fan tutte erinnert wird, dann wieder an einen Woody-Allen-Film. Man würde dem New Yorker Regisseur den Stoff ja auch ans Herz legen, hätte er mit seinen eigenen Dämonen nicht schon alle Hände voll zu tun. In seinem Roman Bildnis einer Dame – in den Augen vieler Leser sein Meisterwerk – stellt Henry James die implizite Frage, ob man einen anderen Menschen einem Experiment unterziehen darf und welche Folgen das nach sich ziehen kann. An solch einem Experiment, das ihre Angehörigen mit den besten Absichten einfädeln, scheitert das Leben der schönen Isabel Archer, die plötzlich an eine Menge Geld kommt und sich prompt an einen Heiratsschwindler verschwendet.
    "Die entscheidende Bedingung" heißt die letzte Erzählung des vorliegenden Bandes, geschrieben im Jahr 1900, und sie hat etwas vom moralischen Ernst des 20 Jahre zuvor erschienenen Romans. Abermals zwei englische Freunde, doch diesmal gibt es nur eine einzige Frau. Der weitaus reichere der beiden Männer, Bertram Braddle, hat die besseren Karten und macht der jungen Witwe Mrs. Damerel einen Antrag, quält sich aber mit dem Gedanken herum, er wisse zu wenig von ihrer Vergangenheit. Darf er sie heiraten, ohne zu wissen, wen er sich einhandelt? Könnte er sich mit seiner Liebe täuschen?
    Das Misstrauen, ja die Obsession, an der charmanten Amerikanerin, die aus dem dem Nichts nach Europa gekommen zu sein scheint, müsse etwas faul sein, entfaltet James in langen Dialogen zwischen den beiden Freunden. Henry Chilver, der Fröhlichere der beiden, sagt, das Verliebtsein verleihe einem Mann womöglich so etwas wie einen Suchscheinwerfer, um der Wahrheit auf den Grund zu gehen. Einen Suchscheinwerfer?, fragt Braddle, als wisse doch jeder, dass Liebe blind macht. Um sie zu durchschauen?
    "Wie kannst du – als Mann von Welt – eine so idiotische Frage stellen? Wo hast du denn wohl jemals den Eindruck gewinnen können, Liebe brächte einen Suchscheinwerfer hervor, brächte irgendetwas anderes hervor als ein höchst verdammenswertes und demoralisierendes Dunkel? Verliebt ist man in diese Geschöpfe doch immer nur gewesen, um festzustellen, dass ein solcher Zustand nichts auf der Welt erhellt außer der eigenen Blödheit."
    Er kann also auch Klartext reden, dieser Autor, selbst in seinem sahnigen Spätstil, der immer weniger Handlung benötigt, um die Erforschung seiner Figuren voranzutreiben, der immer tiefer bohrt und – die Geschmäcker sind hier durchaus verschieden – das Risiko einer gewissen Übertrüffelung läuft. Und am Ende jagt der misstrauische Bertram Braddle einem Phantom hinterher, buchstäblich um die halbe Welt. Und verliert dabei nicht nur die Liebe, sondern auch die geliebte Frau aus den Augen.
    "Das Tagebuch eines Mannes von fünfzig Jahren", so der Titel des ganzen Bandes, ist eine wunderbare Bereicherung des Henry-James-Kanons. Die Figuren schwanken, wie der Autor, zwischen dem forschen Amerika und dem alten Europa und entdecken den Riss durch die Kulturen auch in sich selbst. Etwas Kluges, Elegantes und Melancholisches geht von diesen Geschichten aus; doch manchmal versprühen sie auch Bosheit und eine Komik am Rande der Hysterie. Wie es sich gehört, möchte man meinen, wenn nicht nur das Verhältnis der Geschlechter auf dem Spiel steht, sondern ein früher Kapitalismus des Gefühls.
    Henry James: "Das Tagebuch eines Mannes von fünfzig Jahren"
    Aus dem Englischen von Friedhelm Rathjen.
    Mit einem Nachwort von Maike Albath.
    Manesse Verlag, Zürich 2015
    405 Seiten, 26,95 Euro.