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Erziehungswissenschaftler: Inklusion noch lange nicht umgesetzt

Laut Werner Thole haben die Erziehungswissenschaften große Erfolge in der Erforschung der Durchlässigkeit des Bildungssystems aufzuweisen. Der Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE) kritisiert aber die mangelnde Umsetzung dieser Forschungsergebnisse.

Jörg Biesler sprach mit Werner Thole | 13.03.2012
    Jörg Biesler: Erziehungswissenschaften, das ist ein Fach mit Zukunft, sollte man meinen – denn dass Bildung und Erziehung von zentraler Bedeutung für die Zukunft des ganzen Landes sind, das hat sich mittlerweile herumgesprochen. Da stellt man sich vor, dass die Erziehungswissenschaftler, die sich gerade in Osnabrück treffen, Aufwind spüren und sich der Anerkennung erfreuen. Das ist aber nicht unbedingt so. Stattdessen müssen sie feststellen, dass 20 Prozent der Lehrstühle des Fachbereichs in den letzten 15 Jahren gestrichen wurden. Professor Dr. Werner Thole ist Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaften – guten Tag, Herr Thole!

    Werner Thole: Guten Tag, Herr Biesler!

    Biesler: Sie sagen in Ihrem Eröffnungsstatement, die Erziehungswissenschaft habe an Bedeutung gewonnen, aber an Köpfen eben abgenommen. Die Professorenstellen wurden gestrichen, trotz steigender Studierendenzahlen. Wie kommt's?

    Thole: Zunächst würde ich, glaube ich, gerne darauf hinweisen, dass die Erziehungswissenschaft in der Tat in den letzten anderthalb Jahrzehnten auf eine Erfolgsgeschichte zurückweisen kann. Konnten wir Mitte der 70er-, 80er-, der 90er-Jahre noch etwas zurückhaltend feststellen, dass unsere Forschungsleistung sowohl qualitativ wie auch quantitativ sich zuweilen doch sehr bescheiden präsentieren mussten, so können wir inzwischen hervorheben, dass die Erziehungswissenschaft auch über die empirische Bildungsforschung deutlich ihr Forschungsvolumen steigern konnte. Inzwischen ist das in den Erziehungswissenschaften anzutreffende Drittmittelvolumen vergleichbar mit den Wirtschaftswissenschaften, mit der Politologie, mit der Soziologie, also mit uns verwandten Wissenschaften.

    Biesler: Ja, da hat sich eine Menge getan. Ich erinnere mich noch dran, als ich damals kurz vorm Studienbeginn stand: Wenn da jemand Erziehungswissenschaften studierte, dann hat man gesagt, tja, was ist das denn eigentlich? Das war hoch ideologieverdächtig und galt als weiches oder – ich sag's mal im damaligen Jargon – als Laberfach, das keine wirkliche wissenschaftliche Grundlage hat. Sie haben die empirische Bildungsforschung angesprochen, da hat sich eine Menge verändert.

    Thole: Ja. Es ist nicht nur die empirische Bildungsforschung, die sich auf Unterricht und auf Schule konzentriert, sondern es ist auch eine erziehungswissenschaftliche Forschung, die sich im Bereich der sozialen Arbeit bewegt, die die Erwachsenenbildung in den Blick nimmt, die Berufs- und Wirtschaftspädagogik und in den letzten Jahren auch in der öffentlichen Wahrnehmung mit Handlungsfeldern der Pädagogik der Kindheit, also mit Kindertageseinrichtungen, und eben auch mit Fragen der Gestaltung von Übergängen von Kindergärten zu dem Grundschulbereich, aber auch von der berufsbezogenen Bildung in den Hochschulbereich oder von der Grundschule eben in den weiterführenden Schulbereich. Also es sind vielfältige Fragen, wo erziehungswissenschaftliche Forschung gegenwärtig auch anzutreffen ist.

    Biesler: Ja, Sie sind mittendrin im Geschehen, muss man sagen, weil genau das sind ja die Fragen, die uns alle gerade beschäftigen. Gestern hatten wir hier ja die Vorstellung einer Bildungsstudie, wo es um die Chancengleichheit, Chancengerechtigkeit in den verschiedenen Schulsystemen der Länder geht, wer gefördert wird. Das sind natürlich alles ganz, ganz wichtige Forschungen auch für die Zukunft des Landes – habe ich gerade schon gesagt –, weil wir natürlich darüber nachdenken müssen, wie wir möglichst alle Talente auch nutzen und allen Gelegenheit geben, sich da zu verwirklichen und einzubringen. Aber von den Erziehungswissenschaften hört man ja in der Öffentlichkeit nicht so besonders viel aus dem Mund von Politikern zum Beispiel, da spielen immer die mathematischen, naturwissenschaftlichen Fächer eine Rolle, Ingenieurwissenschaften, also so richtig angekommen ist das bei der Politik noch nicht, wie wichtig Sie sind.

    Thole: Ja, das hat vielleicht auch mit ihren eigenen Studienerfahrungen etwas zu tun. Die Erziehungswissenschaft gilt ja auch in der öffentlichen Wahrnehmung und vielleicht auch in der politischen Wahrnehmung immer noch als ein Fach, das vornehmlich normativ oder, wie Sie eben formulierten, auch ideologisch orientiert ist. Ich glaube, das hat sich in den letzten Jahren insbesondere gewendet. Es gab in den Erziehungswissenschaften eine sozialwissenschaftliche Wende. Wir können darauf verweisen, dass die Erziehungswissenschaft insgesamt sich im Kern auf eine Beobachtung der pädagogischen Angebote konzentriert, aber dass sie durchaus offen ist auch für politikwissenschaftliche, für psychologische, für ökonomische Perspektiven, um ihre Handlungsfelder von der Pädagogik der frühen Kindheit bis zur Pädagogik mit älteren Menschen eben auch empirisch und nicht nur normativ in den Blick zu nehmen.

    Biesler: Vernor Muñoz, der ehemalige UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Bildung, hat ja gesagt, das deutsche Bildungssystem müsse durchlässiger werden für Kinder mit vielfältigsten sozialen Hintergründen und vielfältigsten Begabungen. Da sind Sie ja genau die Fachleute dafür. Sie sind jetzt mit 1800 dieser Fachleute in Osnabrück versammelt, wie ist denn die Stimmung? Haben Sie das Gefühl, dass man auf diesem Weg ein Stückchen vorankommen kann?

    Thole: Ja, ich glaube schon. Die beiden Themen, die sie ansprachen, sind, glaube ich, zentral – zum einen über die Forschungsleistung, die die Erziehungswissenschaften in Kooperation mit anderen auf das Feld der Pädagogik sich konzentrierenden Wissenschaften in den letzten Jahren vorgelegt haben, die sind schon beachtlich. Wir wissen wesentlich mehr auch über die Schwierigkeiten, die die unterschiedlichen Bildungs- und Sozialsysteme haben, die verhindern, dass eine größere Durchlässigkeit, wie Herr Muñoz sie auch noch mal eingeklagt hat – auch für die Bundesrepublik Deutschland –, worin die Schwierigkeiten liegen, dass die sich in der Form nicht realisieren. Und wir sind zum Zweiten natürlich engagiert, in diesem Feld über die Qualifizierungen der zukünftigen Pädagoginnen und Pädagogen an den entsprechenden Institutionen. Die Schwierigkeit, die wir, glaube ich, haben – und das wird zuweilen unterschätzt –, auch wenn man Kenntnisse, Wissen darüber hat, wo beispielsweise Übergänge oder auch Herausforderungen nicht in dem notwendigen Maße realisiert werden, dass sie auch dazu führen, dass eine größere Inklusion – das ist ja der Begriff, der heute da in der Regel gebraucht wird – möglich wird, heißt das noch lange nicht, dass jeweils strukturell oder auch von den Angeboten her diese Möglichkeiten sich sofort umsetzen.

    Biesler: Werner Thole, vielen Dank! Er ist Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaften, die sich gerade in Osnabrück trifft. Danke schön!

    Thole: Ich bedanke mich für das Gespräch ebenfalls!

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