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Es fehlt eine "offene Aufarbeitung der Geschichte" auf beiden Seiten

Der Inselstreit offenbare alte Wunden und einen tief sitzenden "Hass aufeinander", sagt Eberhard Sandschneider. Japan habe zwar Gesten der Versöhnung versucht, zugleich aber eine Politik der Nadelstiche betrieben. Bei den Demonstrationen zeige Chinas "aufbrandender Nationalismus" seine "hässliche Fratze", so der Direktor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik e.V.

Eberhard Sandschneider im Gespräch mit Dirk Müller | 19.09.2012
    Dirk Müller: Die Proteste in China finden kein Ende. Zehntausende im ganzen Land skandieren "Nieder mit Japan, nieder mit der japanischen Regierung".

    O-Ton: "Die Diaoyu-Inseln oder Senkaku, wie die Japaner sie nennen, gehören zu unserem Territorium. Wenn unser Land Schwierigkeiten hat, ist jeder aufgefordert, etwas zu tun. Als Bürger müssen wir Präsenz zeigen. Ich wünsche mir, dass China den Japanern den Krieg erklärt."

    Müller: Klare Worte von der Straße, eine aufgeheizte Stimmung also, fein abgestimmt auf den historischen Tag, vor allem gestern, dem 18. September. Vor 81 Jahren hatte Japan damit begonnen, das Reich der Mitte zu besetzen, angefangen mit der Mandschurei. Jetzt geht es angeblich um zwei Inseln im ostchinesischen Meer, die die Regierung in Tokio nun gekauft hat. Die Demonstranten sehen dies als aggressiven Akt gegen die Interessen Chinas. Und die Führung in Peking, sie lässt den antijapanischen Tiraden und Aufmärschen freien Lauf. – Darüber sprechen wollen wir nun mit China-Kenner und Politikwissenschaftler Professor Eberhard Sandschneider, Direktor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Guten Morgen!

    Eberhard Sandschneider: Schönen guten Morgen.

    Müller: Herr Sandschneider, lernen die Chinesen schon in der Schule, Japaner zu hassen?

    Sandschneider: Na ja, wir wissen aus unserer eigenen geschichtlichen Erfahrung, wie wichtig Schulbuchpolitik sein kann und wie wichtig das, was man Kindern schon mitgibt, beispielsweise über Nachbarstaaten, letztendlich auch in der Politik werden kann. Erinnern wir uns zurück: Als wir mit Polen begonnen haben, einen Aussöhnungsprozess zu machen, haben wir zunächst mit einer Schulbuchkommission begonnen. In Ostasien fehlen solche Ansätze. Die Proteste, wenn sie nicht gerade um die Inseln selbst gehen, die in China immer wieder aufflammen gegen Japan, richten sich häufig genug gegen japanische Schulbuchpolitik und gegen die Art und Weise, wie Japan sein Vorgehen in China in den 30er- und 40er-Jahren seinen eigenen Kindern verkündet. Also man kann schon sagen: Ja, man lernt zum Teil das Missverständnis des anderen durch eine verfehlte Schulbuchpolitik, übrigens auf beiden Seiten.

    Müller: Beide Seiten. – Reden wir über die japanische, wenn Sie das schon anbieten, Herr Sandschneider. Die Japaner müssen demnach ihre Hausaufgaben noch machen?

    Sandschneider: Da ist es schwierig, einseitig zu werden. Das gilt für beide. In dieser Situation steckt noch unglaublich viel Frustration, aber auf der anderen Seite auch regelrechter Hass aufeinander. Und nun muss man dazu sagen: Japan hat sich natürlich in einer ganz spezifischen Weise grausam verhalten in China. Es gibt die berühmte Schändung von Nanjing im Jahre 1937, was noch tief in der kollektiven Erinnerung in China sitzt, wo innerhalb von zwei Tagen Hunderttausende Chinesen hingeschlachtet worden sind. All das hat nicht dazu geführt, dass es zu einer offenen Aufarbeitung der Geschichte gekommen ist – in beiden Ländern nicht, aber wahrscheinlich vermutlich primär in Japan nicht. Insofern zielt Ihre Frage schon richtig. Die Prozesse, die wir in Europa gemacht haben, die fehlen in Ostasien und die sind auch nicht so einfach in die Tat umzusetzen, und das macht die Situation im Umgang mit der eigenen Geschichte für alle Beteiligten sehr schwierig.

    Müller: Das Thema ist seit längerem ja schon auf der Agenda, zumindest auch aus westlicher Perspektive. Wir haben darüber seit 10, 15, 20 Jahren berichtet, dass die Japaner zumindest immer wieder versucht haben, so kleine Gesten der Versöhnung, der Entschuldigung, der Verantwortung in Richtung China zu senden. Das hat offenbar nicht funktioniert?

    Sandschneider: Offizielle Entschuldigungen und das Eingeständnis einer historischen Schuld hat es nicht nur einmal, sondern mehrfach gegeben, von mehreren japanischen Regierungen. Aber auf der anderen Seite gibt es immer wieder auch diese kleinen Nadelstiche, die Besuche eines Ministerpräsidenten bei dem sogenannten Yasukuni-Schrein, wo auch Kriegsverbrecher mit verehrt werden, das Verhalten auf den Senkaku- oder Diaoyu(tai)-Inseln, was in China sofort auf den richtigen Nerv trifft. Und dann muss man sagen, es reicht für einen Aussöhnungsprozess nicht, dass eine Seite Initiativen ergreift. Die andere muss bereit sein, die entsprechenden Initiativen mitzuergreifen. Und ich habe bei dieser ganzen Debatte, die da hin- und herwogt, oft den Eindruck, dass man in China manchmal auch gar nicht bereit und willens ist, auf einen solchen Aussöhnungsprozess chinesischerseits einzugehen. Es ist ein herrliches Mittel, um auf Japan Druck auszuüben, praktisch wann immer man diesen Druck braucht.

    Müller: Dann bleiben wir bei diesem Punkt, gehen wir auf die Perspektive Pekings. Warum unternimmt die chinesische Regierung nichts, eben den Weg auch zu bereiten, die ganze Sache auszusöhnen?

    Sandschneider: Na ja, das ist nichts, was eine Regierung per Verordnung verkünden kann, und Sie sehen ja: vieles von den Dingen, was wir jetzt auf den chinesischen Straßen sehen, mag vielleicht sogar regierungsseitig ein bisschen angeschoben sein. Aber man muss hinzufügen: dieser Hass, diese Wut und all die Aktivitäten, die Plünderungen, die sich ergeben, die kommen schon von der chinesischen Bevölkerung selbst. Da braucht es keine Regierung. Solche Dinge zu steuern, ist unglaublich schwierig. Und auf chinesischer Seite beobachten und diskutieren wir eigentlich seit Jahren das Problem des wachsenden Nationalismus, der so intensiv ist, wenn er sich im Internet beispielsweise auch in Worte kleidet, dass wir das schon nicht mehr nationalistisch nennen würden, sondern chauvinistisch. Und wenn in dem kleinen Beitrag, den Sie gesendet haben, da einer schreit, "erklärt den Japanern den Krieg", dann ist das fast noch milde, bezogen auf manche Äußerung, die man dann im Internet findet. China hat einen gewaltig aufbrandenden Nationalismus, der sich einerseits im Selbstbewusstsein des Landes übersetzt, andererseits aber auch diese hässliche Fratze von Plünderungen und Hasstiraden zeigt.

    Müller: Wie diskutiert das denn die intellektuelle Welt, die Elite in China, jedenfalls die, die frei diskutieren können beziehungsweise von denen wir das wissen? Ist China inzwischen so selbstbewusst geworden, dass China eine aggressive Macht werden kann oder schon ist?

    Sandschneider: Diesen Automatismus würde ich nicht herstellen. Aber in China hat man das kollektive Trauma von mindestens 140 oder 200 Jahren Unterdrückung in der Weltpolitik jetzt kompensieren können durch 30 Jahre Aufstieg in der Weltpolitik, und auch in der intellektuellen Diskussion nimmt man sehr genau wahr, dass der wirtschaftliche Erfolg sich jetzt praktisch ohne Zutun Chinas Tag für Tag in politischen Einfluss, aber auch in militärische Macht übersetzt, und entsprechend selbstbewusst tritt China auf. Das ist die positive Seite der Variante.

    Das chinesische Selbstbewusstsein kommt in der Region natürlich in einer Form an, die mit Verdrängung mindestens, wenn nicht mit Bedrohung übersetzt wird. Das gilt im übrigen nicht nur für diese Diaoyu(tai)-Inseln, es gilt auch für das chinesische Verhalten im südchinesischen Meer, das in den letzten Monaten alles andere als sanft und verständnisvoll war. Sowohl mit Vietnam als auch mit den Philippinen hat es ähnliche Konflikte gegeben, wie wir sie jetzt mit Japan beobachten. Das trifft auch auf die Wahrnehmung der meisten südostasiatischen Staaten zu, was das Verhalten des großen mächtigen Nachbarn angeht. Es ist keine automatisch aggressive Macht, aber es wird schwierig, eine Gratwanderung hinzubekommen zwischen gewachsenem Selbstbewusstsein und einer Überdehnung der eigenen Position.

    Müller: Wir müssen, Herr Sandschneider, ein bisschen auf die Zeit achten. Dennoch die Frage: Inwieweit spielen die innenpolitischen Querelen oder die ungeklärten Fragen in der Führungsspitze eine Rolle, jetzt bei diesen Auseinandersetzungen?

    Sandschneider: Das ist schwierig einzuschätzen. Man kann natürlich vermuten, dass es der Regierung oder der Partei ganz lieb ist, dass ein außenpolitisches Problem jetzt von diesen innenpolitischen Debatten ablenkt, aber das bleibt natürlich blanke Spekulation. Auf der anderen Seite würde ich nicht davon ausgehen, dass die chinesische Führung wegen dieser Debatten in solchen außenpolitisch sensitiven Fragen handlungsunfähig ist. Kein Führungskader in der Volksrepublik China kann es sich leisten, in solchen Fragen nationaler Souveränität Schwäche zu zeigen, und das wird die kommunistische Partei mit Sicherheit nachdrücklich umsetzen, wenn es sein muss.

    Müller: Bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk China-Kenner und Politikwissenschaftler Eberhard Sandschneider, Direktor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Vielen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören nach Berlin.

    Sandschneider: Auf Wiederhören.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.