Freitag, 19. April 2024

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"Es geht jetzt darum, die individuelle Schuld der Täter nachzuweisen"

Für die Opfer der NSU-Morde steht eine wichtige Frage im Vordergrund: Warum haben diese Verbrechen ausgerechnet in Deutschland stattgefunden? Die Ombudsfrau Barbara John stellt klar, dass das Gericht diese Frage nicht beantworten kann. Die politische Aufarbeitung stehe noch bevor.

Barabara John im Gespräch mit Silvia Engels | 06.05.2013
    Silvia Engels: Beate Zschäpe steht heute wegen des Verdachts der Mittäterschaft an zehn Morden vor Gericht. Morde, die die rechtsextremistische Zelle NSU in den Jahren 2000 bis 2007 verübt hat und die sich gezielt gegen Zuwanderer richtete. Lange Jahre erkannten die Ermittler den rechtsextremistischen Hintergrund der Taten nicht. In einer beispiellosen Kette von Behördenversagen gerieten stattdessen teilweise Angehörige der Mordopfer unter Verdacht. Umso wichtiger ist es für die Familienangehörigen, dass heute der Prozess gegen das mutmaßliche NSU-Mitglied Beate Zschäpe und viel mögliche Komplizen tatsächlich beginnt. Am Telefon ist Barbara John, sie ist die Obfrau der Angehörigen der Opfer des NSU-Terrors. Guten Morgen, Frau John!

    Barbara John: Guten Morgen, Frau Engels!

    Engels: Sie haben mit vielen Angehörigen der Opfer gesprochen. Welche Gefühle, welche Erwartungen bewegen sie?

    John: Ja, natürlich vor allem das Gefühl, warum ist uns das geschehen, warum ist es überhaupt passiert? Warum konnten die Ermittler nicht frühzeitig eingreifen und diese Mordserie beenden? Aber natürlich auch das Gefühl, da muss endlich Recht gesprochen werden, das heißt, das Unrecht muss erkannt und die Schuld muss gesühnt werden. Aber vor allen Dingen, wir haben gestern Abend noch mal zusammengesessen, auch die Frage, warum ist das überhaupt passiert und wie wird es weitergehen in Deutschland? Dieser ganze Vorgang und die Reaktionen darauf haben doch die Hinterbliebenen und Opfer sehr – ja, erstaunt kann man sagen oder waren nicht so, dass sie sehr viel Mitgefühl oder überall Mitgefühl gespürt haben. Und das ist etwas, was sie nach wie vor beunruhigt.

    Engels: Es wird wahrscheinlich ein sehr langwieriger und komplizierter Prozess werden, der sich auf Indizien stützt. Wie sind die Angehörigen auf einen solchen Verlauf vorbereitet?

    John: Es ist für sie der erste Strafprozess, und gleich so ein großer und wichtiger ja auch für ganz Deutschland. Die ganzen Prozessrituale sind ihnen mit Sicherheit nicht vertraut. Sie haben ihre Anwälte bei sich, die ihnen das vielleicht erklären können. Es sind auch vier Konsekutivdolmetscher da, denn nicht alle können einem solchen Prozess folgen, besonders nicht die älteren. Also ich bin gespannt, wie das überhaupt sprachlich machbar ist. Aber es wird wichtig sein, unglaublich wichtig sein, dass auch nach den Tagen, am Abend, viel darüber gesprochen wird. Wir sind ja hier mit den meisten Hinterbliebenen und Opfern zusammen in einer Einrichtung, in einem Übernachtungshaus, ein Exerzitienhaus etwas weiter draußen von München und können uns darüber austauschen. Aber das wird auch nötig sein.



    "Den Nebenklägern muss natürlich klar sein, worum es da geht"
    Engels: Viele Beobachter gehen ja davon aus, dass die Hauptangeklagte, Beate Zschäpe, größtenteils oder komplett schweigen wird. Welche Rolle spielt das für die Opferangehörigen?

    John: Ja, darauf sind sie natürlich durch die Presse schon vorbereitet. Das Wünschenswerte wäre, aber das ist auch das ganz und gar Unwahrscheinliche, dass die Mittäterin sagt, wie es dazu gekommen ist, warum die Opfer ausgesucht worden sind, warum überhaupt dieser Tötungshass entstanden ist. Das wird sicher nicht der Fall sein, und all das ist, glaube ich, nicht mehr die große Enttäuschung für die Opfer, denn über Beate Zschäpe haben sie sich ihr Bild gemacht. Es gibt auch Hinterbliebene, die nicht gekommen sind und sagen, ich will diese Frau nicht sehen, ich will ihr nie in meinem Leben begegnen. Auch das ist eine mögliche Reaktion. Aber wichtig ist, dass das, was im Prozess abläuft, dass das erklärt wird. Denn der Prozess ist natürlich die große öffentliche Abrechnung mit diesem Verbrechen, und da muss den unmittelbar Beteiligten, den Nebenklägern natürlich klar sein, worum es da geht. Wir haben gestern Abend schon miteinander gesprochen, und ich habe gesagt, es geht jetzt darum, die individuelle Schuld der Täter nachzuweisen. Das leuchtet allen ein, aber eigentlich wollen sie, warum ist das überhaupt in Deutschland passiert. Das steht für sie noch im Vordergrund.

    Engels: Das war ja auch gestern zu hören, als mehrere Anwälte von Angehörigen der Opfer ja vor die Kameras traten und gestern gefordert haben, dass auch das Versagen staatlicher Stellen und das Umfeld des Nationalsozialistischen Untergrunds in diesem Mordprozess behandelt werden müssten. Kann der Prozess das überhaupt leisten?

    John: Das kann er mit Sicherheit nicht leisten, sondern er muss die Straftaten, die geschehen sind, in der Vorbereitung, in der Durchführung, die muss er nachweisen, und das ist natürlich etwas ganz anderes. Das andere gehört zur politischen Aufarbeitung. Der zweite Untersuchungsausschuss des Bundestages hat sich darum bemüht, wird in Kürze seinen Abschlussbericht vorlegen. Dann darf es aber nicht zu Ende sein, das Ganze geht ja weiter. Und zwar, das ist es auch, was die Angehörigen umtreibt, wie geht es weiter, wie wird künftig verhindert, dass in dieser Art und Weise wieder junge Deutsche aufwachsen, sich in diesen Hass begeben, um dann Richter zu spielen, wer darf hier leben und wer muss sterben. Das sind ja so ungeheure Vorgänge, wie wir noch gar nicht, glaube ich, begriffen haben, was da eigentlich passiert ist.

    Engels: Der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Kenan Kolat, ruft heute in der "Mitteldeutschen Zeitung" nach der Höchststrafe für die Angeklagten, also lebenslänglich. Solche Forderungen sind emotional verständlich, aber sind sie mit Blick auf das Gericht hilfreich?

    John: Ja, ich denke, dass es viele Menschen gibt, die eine solche Forderung erheben würden, ob sie das nun leise oder laut tun – aber das wird ein Gericht mit so viel Erfahrung natürlich nicht beeindrucken. Es muss hier nach Recht und Gesetz gehen. Die Verbrechen sind so unglaublich und ungeheuerlich, dass man sehr leicht auf diese Forderung kommt. Und wir werden sehen, wie das Ganze ausgeht.

    Über die Hinterbliebenen: "Der Prozess ist heilsam für sie selbst"
    Engels: Im Zentrum eines Strafprozesses steht zwingend der oder die Angeklagte der oder die Angeklagte, nicht das Opfer. Das heißt, vor dem Gericht werden die Fakten des Hergangs eines Mordes an einzelnen Menschen behandelt, aber nicht der ermordete Mensch selbst gewürdigt. Wir wird das für die Angehörigen auszuhalten sein?

    John: Ja, das stelle ich mir auch unglaublich schwierig vor, und das ist ein Spannungszustand, den sie erst einmal erleben müssen. Wie gesagt, sie waren noch nicht in einer solchen Situation, und wir müssen viel abends darüber sprechen. Es wird sie auch sehr beschäftigen, dass das so ist. Sie kommen natürlich mit dem Bild ihres Angehörigen hierher, mit ihrem Leid, mit ihren Verwundungen und sehen jetzt, dass sich alles voll auf die Täterin und die Mittäter konzentriert. Das ist schon eine Herausforderung für sie, eine große seelische Anspannung. Wir werden auch sehen, es ist ja der Prozessbeginn, viele haben sich vorgenommen, auch später noch da zu sein, wenn die Tatorte verhandelt werden. Ob sie das machen werden, wird sich in diesen ersten drei Tagen entscheiden.

    Engels: Wird allein schon deshalb der Prozess zur Enttäuschung für die Angehörigen werden?

    John: Das kann ich nicht sagen. Wir haben den Prozess noch nicht begonnen. Aber der Prozess wird ein Auftakt sein, wie neu über das Leben in Deutschland, wie hier Recht gesprochen wird, dass sie darüber nachdenken. Und wir haben gestern Abend auch darüber gesprochen, dass einige der Hinterbliebenen, besonders die zweite Generation, die Geschwister auch des einen Ermordeten, unbedingt etwas machen wollen, damit sich in Deutschland etwas ändert. Also diese Aktivität – ich finde es trotzdem unglaublich wichtig, dass die Hinterbliebenen und Opfer an diesem Prozess teilnehmen. Das ist heilsam für sie selbst. Denn jetzt sprechen sie Recht, jetzt sitzen sie zu Gericht über die Täter. Das ist etwas, was ihnen helfen kann, auch damit fertig zu werden und wieder Aktivität zurückgewinnen, die sie ja brauchen für das Leben in unserer Gesellschaft.

    Engels: Barbara John, Obfrau der Angehörigen der Opfer des NSU-Terrors. Vielen Dank für das Gespräch!

    John: Ich danke Ihnen!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.