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Es geht ums Ganze

Bücher, die zerstreut erschienene Texte eines Autors aus knapp zwei Jahrzehnten versammeln, können für Leser und Rezensenten eine Zumutung, nämlich eine bloße Buchbindersynthese sein. Sie können ihre Leser aber auch überraschen - dann nämlich, wenn sich herausstellt, dass ein Autor vielen philosophischen Themen, literarischen Motiven, bedeutenden Gedichten, politischen Konstellationen und aufschlussreichen Biographien nachgeht und dabei einem roten Faden folgt. Genau dies ist bei der Essaysammlung des Herausgebers der berühmten Zeitschrift "Sinn und Form" der Fall.

Von Jochen Hörisch | 14.01.2009
    Sebastian Kleinschmidt erinnert sich an seine DDR-Kindheit in einem Pfarrhaus, er unterhält sich, dabei ordentlich pokulierend, mit dem Philosophen Hans-Georg Gadamer, er interpretiert Gedichte u.a. von Peter Huchel, Elisabeth Borchers, Lutz Seiler und Hilde Domin, er verweist auf halbvergessene Denker wie Gerhard Nebel und Vladimir Jankélévitch, er fragt nach den Gründen für die System-Loyalität kluger Köpfe in der DDR, und er bringt posthum Elias Canetti und Ernst Jünger, die sich zeit ihres langen Lebens nie aufeinander bezogen haben, ins hochkontroverse Gespräch über das Geheimnis des Todes.

    "Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen", sagt der Theaterdirektor im Vorspiel von Goethes "Faust". Sebastian Kleinschmidt hält sich nicht an diese wohlfeile Maxime. Ihm geht es nicht um manches, vieles oder etwas, um dies oder das, ihm geht es vielmehr - sagen wir's getrost pathetisch - ums Ganze. Nicht umsonst findet sich in der Mitte des wohlkomponierten Bandes ein Essay mit dem Titel "Pathosallergie und Ironiekonjunktur". Der Titel ist die These: wir leben nach dem Kollaps hybrid pathetischer nationalistischer und kommunistischer Projekte in postpathetischen Zeiten - und das ist auch gut so. Ironie aber hat heute eine allzu wohlfeile Konjunktur. Und dies nicht nur, weil die Zeiten ernst sind (wann waren sie das nicht?), sondern weil die Einsicht verlorenzugehen droht, dass Ironie auf ihre Gegenmacht, auf Pathos, angewiesen ist. "Ironie und Pathos sind Gegenmächte, sie können sich nicht vermischen. Ironisches Pathos ist kein Pathos, und pathetische Ironie ist nicht ironisch. Doch bei aller Opposition gilt auch hier: Der Feind ist die eigene Frage als Gestalt. Die Widersacher brauchen einander. Eine Kultur der Dauerironie wäre nicht weniger grauenvoll als eine Konjunktur des Dauerpathos."

    Damit ist der rote Faden angezeigt, der so gut wie alle Beiträge des Bandes durchzieht. Kleinschmidt versteht sich auf das elementare Pathos, ohne das selbstreflexive Ironie nicht möglich wäre. Es ist das Pathos der klugen, weil aller kritikbedürftigen Welt- und Menschenmängel eingedenkenden Affirmation. So rühmt Kleinschmidt George Steiner als "einen Mann der Verehrung in der Epoche der Verachtung." Er hört aus dem basso continuo der Prosa Ernst Jüngers die Botschaft "Todesfurcht bannen!" heraus, die in einer "metaphysischen Bejahung" endlichen Daseins gründet und die in Canettis obsessiver Maxime "Todeshass schüren!" ihr Widerlager findet. Ihn fasziniert Hartmut Langes Formel "im freien Fall zur Ruhe kommen", und ihm leuchtet die Hermeneutik Gadamers als "die ideale Philosophie der Wiedervereinigung" ein.

    Dennoch ist Kleinschmidt kein Schönredner. Der eigentümliche Reiz der Überlegungen des eleganten Stilisten beruht nämlich in der Spannung, die schon das Titelwort der Essaysammlung umkreist: "Gegenüberglück", das meint das Glück des Gegenüber, ohne das es eigene Glückserfahrungen nicht gäbe; das meint aber auch die Dimension, die über Glück hinaus in dunklere Sphären verweist. Kleinschmidt versteht sich auf die Kunst der Affirmation, die nach einem tiefen Wort Hegels schwerer zu erlernen ist als die der Negation. Kritisieren - die Politik, die Wirtschaft, das Klima, die Ungerechtigkeit etc. - kann jeder; rühmen zu lernen, ohne dass dieses Rühmen peinlich profan wird wie das der Werbeindustrie, ist eine komplexere und heiklere Aufgabe. Warum? Weil "alles Schöne und Lichtvolle endlich (ist), radikal endlich. Darum machen schönheitsselige, lichthungrige Menschen auch in radikaler Weise die Erfahrung der Vergänglichkeit. Jede Berührung, jedes Leuchten der Helligkeit steht im Zeichen von Abschied und Verlust."

    Abschied und Verlust als Grundlage bzw. Abgrund des Schönen und Lichtvollen - das ist eine Formel, die aussagekräftig ist, eben weil sie die gemeinsame Struktur von Gegenglück und "Gegenüberglück" bezeichnet. Zumindest einmal gewinnt die Formel vom "Gegenüberglück" bei Kleinschmidt aber auch gespenstische Dimensionen. Und zwar ausgerechnet da, wo er ganz autobiographisch und in schöner literarischer Tradition vom Glück der Kindheit in einem linkssozialistisch orientierten, idyllisch gelegenem DDR-Pfarrhaus schreibt: "Ich aber sehe sie (die Familienmitglieder) alle sitzen um den großen Tisch im Wohnzimmer im Schein der Lampe, an den Wänden alte Bilder, die Gäste sind da, man trinkt und ist fröhlich, und ich, frisch gewaschen und gekämmt, werde auf dem Arm meiner Mutter noch einmal hereingetragen, um Gute Nacht zu sagen. Und da sehe ich, dass man mich gern hat, und ich winke ihnen allen zu und lasse mich hinaufbringen in ein Bett, und einverstanden mit dem Leben schlafe ich ein, während unten noch lange weitergesprochen wird." Das klingt gut, da schwingt geradezu ein Proust-Sound mit. Jedoch: Nur eine Seite zuvor hieß es: "Drei (von sieben) Söhne(n) hat sie (die Mutter) verloren. Einer ist vermisst, mit zehn Jahren ging er am Heiligabendvormittag aus dem Haus und kehrte nie wieder. Einer starb mit zweieinhalb, der einzige, der ihre braunen Augen hatte. Der Dritte nahm sich das Leben mit siebzehneinhalb."

    Es sind gerade solche abgründigen Motive, die Kleinschmidts Essay-Sammlung zur denkwürdigen Lektüre machen. Denn Kleinschmidt weiß, wovon er schreibt, wenn er die Kunst der Affirmation von der sturen Entschlossenheit zum Ja-Sagen unterscheidet. Letztere hat erstaunlich viele DDR-"Kulturschaffende" nicht verlassen. Dafür, dass "es in der DDR vier Jahrzehnte lang diese durch nichts zu erschütternde Loyalität der Schriftsteller zum Staat gegeben hat," hält Kleinschmidt eine plausible Erklärung parat. "Eine Art Moraldämonismus ist in die Fundamente des Staates (DDR) gegossen. Er selbst verkörperte das Gute, wer oder was sich ihm entgegenstellte, das Böse. (...) Das Geheimnis der Loyalität des Geistes gegenüber der Macht, der Kultur gegenüber dem Staat, lag in der Identifikation mit der Idee, der sozialistischen Idee, der ‚gerechten Sache'." Zum gelingenden "Gegenüberglück" gehört es eben auch, sich an die Maxime Goethes zu halten, auf die sich Kleinschmidt mit Gadamer ausdrücklich beruft: "ein Blick ins Buch und zwei ins Leben!" Es lohnt sich, mehr als nur einen Blick in das Buch von Sebastian Kleinschmidt zu werfen.


    Sebastian Kleinschmidt: Gegenüberglück - Essays. Berlin 2008 (Matthes & Seitz, 265 Seiten)