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"Es geschieht, ob Du willst oder nicht"

Der Literaturwissenschaftler Gerhard Neumann hat sich in einem Buch mit Franz Kafkas Verhältnis zu allen Arten von Macht auseinandergesetzt. Sein Ergebnis: Immer wieder sind es die fremden und die eigenen Mächte, an denen sich der Schriftsteller in Leben und literarischem Werk abgearbeitet hat.

Von Martin Becker | 19.11.2012
    Es gibt eine frühe Erinnerung, eine Urszene im Leben Franz Kafkas, in der viel von dem vorweggenommen ist, was sein gewaltiges Werk später prägen wird: Als kleines Kind bettelt Kafka in einer Nacht um Wasser. "Gewiss nicht aus Durst", schreibt der Autor, "sondern wahrscheinlich teils um zu ärgern, teils um mich zu unterhalten." Der Vater, die übermächtige Instanz schlechthin, hört sich das Jammern des Kindes eine Weile an. Dann greift er zu einem rigorosen Erziehungsmittel: Er sperrt den kleinen Franz auf den Balkon und lässt ihn allein in seinem Hemdchen dort stehen. Schon in der Einleitung erzählt Gerhard Neumann in seinem Buch "Franz Kafka: Experte der Macht" von dieser Begebenheit, die dem jungen Kafka im Rückblick einen "innern Schaden" zufügte – und bringt dann seine Grundthese auf den Punkt:

    Kafka weiß, "dass die Macht in kleinsten Lebenseinheiten, also dort am stärksten ist, wo sie anonym und gewissermaßen 'unsichtbar' bleibt."

    Gerhard Neumann, der Kafka als "den Begründer einer Mikrologie der Macht" sieht, beginnt also bei den Wurzeln – und lässt vor allem den Autor selbst sprechen. Nicht nur durch seine Literatur, auch durch überlieferte Aussagen, durch Tagebucheinträge – und durch Kafkas Zeichnungen, denen Neumann ein eigenes Kapitel widmet. Der Band über den "Experten der Macht" ist komplex komponiert: Da nimmt ein Literaturwissenschaftler nicht Kafkas gesammelte Werke zur Hand und führt an möglichst exemplarischen Auszügen vor, auf welche Art und Weise sich Machtkonstellationen bilden, wo und wie Macht ausgeübt oder empfangen wird: Stattdessen hat Neumann aus seiner seit mehreren Jahrzehnten andauernden Kafka-Forschung Aufsätze ausgewählt und in verschiedenen Themenkomplexen arrangiert.

    So liest man sich nicht durch eine trockene Abhandlung, die sich mit Blick auf das Thema der Macht an Kafkas Texten und passender Sekundärliteratur entlang hangelt - stattdessen liefert der Autor tiefe und überraschende Einblicke in das Leben und Schreiben Franz Kafkas. In sieben Kapiteln nimmt Neumann sich Kafkas Werk vor - immer mit sehr unterschiedlichem Ansatz und unterschiedlichem Resultat. Mal widmet er sich den Tagebüchern als Lebenswerk an sich, dann wiederum seziert er die Struktur von Kafkas "Proceß" - dem Romanfragment über Macht und Ohnmacht schlechthin –, und im letzten Kapitel beispielsweise hinterfragt er anhand verschiedener Kurztexte die Rolle Franz Kafkas als Ethnologe. Eine leichte oder schnelle Lektüre bietet dieser anspruchsvolle Band nicht, dafür gibt es viel zu viele Querverweise und Fußnoten, die allerdings niemals überflüssig erscheinen.

    Dennoch liest man das Buch, hat man erst hineingefunden, mit großem und wachsendem Genuss: Weil Neumann in flüssigem Stil schreibt. Weil er kaum Vorkenntnisse vom Leser erwartet und stets den zu behandelnden Kafka-Text auch inhaltlich anreißt – und, weil der Literaturwissenschaftler Neumann sich selbst wieder und wieder als leidenschaftlicher, ja, als obsessiver Leser Franz Kafkas entlarvt, dessen Aufsätze somit nicht zuletzt eine Anstiftung zur persönlichen Lektüre des Kafka'schen Werks sind. Ein gutes Beispiel für Neumanns Strategie ist der Aufsatz zu Kafkas "Schloß", dem unvollendeten, enigmatischen Roman, in dem der Landvermesser K. versucht, in eben jenes Schloss zu gelangen – und sich dabei immer weiter von ihm entfernt.

    Neumann erklärt in wenigen Worten messerscharf und präzise, welche Rolle er dem Romanfragment zuschreibt:

    Das Schloß ist der am weitesten gediehene Versuch Kafkas, Lebensgeschichte als Prozess interkommunikativer Realisation zu schreiben: Es ist also der Versuch, einen Liebesroman zu schreiben

    Wenn auch, so möchte man hinzufügen, den Roman einer unglücklichen, unmöglichen Liebe. Einerseits, weil Kafkas Arbeit am "Schloß" in die Zeit der wechselvollen Beziehung zu Milena Jesenská fällt – andererseits, weil das Fragment exemplarisch für das dauerhafte Scheitern zwischenmenschlicher Beziehungen bei Kafka steht: "Liebe als Form der Kommunikation", folgert Neumann, könne "nur noch als Inszenierung des Störgeräuschs" gezeigt werden.

    Auch das Hauptthema der Macht scheint immer wieder auf subtile Weise durch: Gerhard Neumann legt die verschiedenen Anfänge des Romanfragments nebeneinander, die der Autor niedergeschrieben hat, analysiert, verweist auf Tagebücher, auf Briefe – und auf andere Arbeiten Kafkas. Beispielsweise auf ein Stück Kurzprosa, ein Exempel für das Kafka'sche Spiel der Machtverhältnisse: In "Blumfeld, ein älterer Junggeselle" erscheinen im Leben eines einsamen Außenseiters plötzlich zwei springende Bälle aus Zelluloid, die ihrem neuen Herrn keine Ruhe mehr lassen. Blumfeld kann tun, was er will: Die Bälle weichen nicht von seiner Seite. Kafka selbst schreibt:

    Daß sie sich auf Teppichen so wenig bemerkbar machen können, scheint Blumfeld eine große Schwäche der Bälle zu sein. Man muss ihnen nur einen oder noch besser zwei Teppiche unterschieben und sie sind fast machtlos. Allerdings nur für eine bestimmte Zeit, und außerdem bedeutet schon ihr Dasein eine gewisse Macht.

    Ein großer Vorzug dieses Bandes: Gerhard Neumann sichtet und ordnet das vorhandene Material und zieht in wohltuend gelassenem Tonfall seine Schlüsse – ohne dem Autor auch nur ein einziges Mal zu früh ins Wort zu fallen. Und so ist es in erster Linie Franz Kafka selbst, der durch die Aufsätze hindurch das komplexe Selbstporträt eines "Experten der Macht" liefert. Kafkas Blick richte sich, resümiert Neumann,

    auf die Beobachtung, dass es die Sprache selbst ist, ihre Performanz, die Macht verleiht und Macht erleiden lässt; die also den Protagonisten wahlweise zum Verurteilten macht oder zu freiem Handeln befähigt."

    Übrigens war Kafka, so eine Erkenntnis des Bandes, nicht nur das Opfer, das von den Gewalten der Welt in die Knie gezwungen wurde. Er wurde sich im Laufe der Zeit seiner Macht bewusst – und er lernte, sie auszunutzen. Sei es in den Mitteilungen gegenüber seinen Geliebten, in denen er auf subtile Weise Druck ausübte – oder sei es im Schreiben an sich: Kafka benutzte seine Kunst als Weg, um sich zur Wehr zu setzen – um beispielsweise die traumatische Situation, in der er als kleines Kind vom wütenden Vater auf den Balkon gesperrt wurde, mit den Mitteln der Literatur nachzuspielen. "Nicht mehr als Opfer, sondern als Herr der Situation", wie Gerhard Neumann folgert. Der Prager Schriftsteller wusste also um seine Macht – wenn auch auf verzweifelte Art, wie sich in Kafkas letzter Tagebuchaufzeichnung zeigt:

    Der Trost wäre nur: Es geschieht, ob Du willst oder nicht. Und was Du willst, hilft nur unmerklich wenig. Mehr als Trost ist: Auch Du hast Waffen.


    Prof. Dr. Gerhard Neumann: "Franz Kafka - Experte der Macht"
    240 Seiten mit Abbildungen,
    19,90 Euro, ISBN 978-3-446-23873-2