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Es glimmt bis heute - das Irrlicht

Nun ist sie erschienen, nach zwei durchgruselten Jahrzehnten, die Nummer 1000 der Heftromanserie "Irrlicht". Geschrieben hat sie eine Düsseldorfer Autorin, die mit gutbürgerlichem Namen Heike Meyer-Kahle heißt.

Von Hartmut Kasper | 24.08.2011
    So hat es angefangen:

    Der Zug war schon längst wieder abgefahren, als sich das mittelgroße, etwa 25 Jahre alte junge Mädchen im Bahnhof von Port William noch immer suchend umsah. (...) Sie wollte eben einem der Gepäckträger winken (...) als plötzlich die große gläserne Flügeltür (...) von einer kräftigen Männerhand energisch aufgestoßen wurde.
    Der hochgewachsene, gut aussehende Mann (...) kam (...) ohne zu zögern, mit kräftigen
    Schritten geradewegs auf das Mädchen zu.
    "Ich nehme an, Sie sind Miss Gillen", sagte er. Dabei musterte er sie mit einem raschen Blick seiner durchdringenden stahlblauen Augen von Kopf bis Fuß.


    Aber auch die Zwischenräume wird Lord Richards, denn um niemand Geringeres handelt es sich, einer Besichtigung unterziehen. Und Miss Gillen reagiert artgerecht, will sagen: So, wie junge Frauen es in romantischen Romanen eben tun:

    Ihr Herz, das im Umgang mit Männern bisher völlig unerfahren war, fing noch eine Spur stürmischer zu klopfen an.
    (...) "Hatten Sie eine angenehme Reise, Miss Gillen?"
    "O ja, danke, Sir" (...)
    "Nennen Sie mich nicht Sir und Mylord, Miss Gillen (...) Sie werden (...) merken, dass ich für verstaubte Etikette nicht all zu viel übrig habe (...). Sie kommen auch nicht auf ein verwunschenes Märchenschloss, falls Sie sich so etwas vorgestellt haben, sondern in einen gutbürgerlich funktionierenden Haushalt."


    Kein verwunschenes Schloss? Da irrt der forsche Lord, denn der Roman, der soeben begonnen hat, "Schatten über Rainmoor-Castle", ist der erste einer neuen Reihe von Heftromanen, die ohne Spuk- und Märchenschlösser, ohne verfallene Ruinen und heimgesuchte Herrenhäuser völlig undenkbar wäre. Diese Nummer eins erschien im Jahr 1991, also vor 20 Jahren. Die Reihe heißt "Irrlicht", im Untertitel: "Unheimliche Geschichten". Einen redaktionellen Hinweis darauf, was es mit dieser Reihe auf sich haben könnte, fehlte damals. Einzig auf der Rückseite des Heftes stand eine Reklame, die für eine Haftcreme mit gesteigerter Haftkraft warb.

    Der Kelter Verlag hatte es in jenen Tagen bereits zweimal versucht, seine Leser mit sanftem Schauder zu locken. Aber sowohl der "Kerzenschein-Roman" als auch die "Lady-Romanze" hatten sich nach einem kurzlebigen Dasein auf dem Heftromanmarkt zu ihren Ahnen versammelt.

    Das Irrlicht aber, einmal angezündet, glimmt bis heute. Jetzt und nach zwei durchgruselten Jahrzehnten ist der Jubiläumsband Nummer 1000 erschienen.

    Geschrieben hat ihn eine Düsseldorfer Autorin, die mit gutbürgerlichem Namen Heike Meyer-Kahle heißt. Als "Irrlicht"-Autorin zeichnet sie mit Vanessa Lane.

    Die Wissenschaft weiß auf die Frage, was ein Irrlicht sei, noch keine ganz erschöpfende Antwort.

    Unter einem Irrlicht, manchmal auch als Irrwisch bezeichnet, wird eine bläuliche oder grünliche Leuchterscheinung verstanden, die des Nachts in Mooren oder in Sümpfen gesehen werden kann.

    Manche erklären sie als biolumineszenten Effekt. Ein Glühwürmchen vielleicht. Andere meinen, es handele sich um Faulgase, die sich spontan entzündet haben und binnen weniger Augenblicke abbrennen.

    Ein Schnappschuss von Irrlichtern konnte noch nicht geschossen werden. Hier bleibt für die internationale Irrlichtforschung noch viel zu tun.

    Immerhin hatten die Irrlichter in der Literatur den einen oder anderen Auftritt. In der Walpurgisnacht in Goethes Faust beispielsweise bietet sich ein Irrlicht als Fremdenführer zum Blocksberg an:


    Allein Bedenkt! Der Berg ist heute zaubertoll,
    Und wenn ein Irrlicht Euch die Wege weisen soll.
    So müsst Ihr´s so genau nicht nehmen.
    (Verse 3868-70)


    "Irrlicht" Nummer 1000 trägt den Titel "Romantischer Alptraum". Fragen wir einmal die Autorin, wie sie es mit dem Irrlicht hält:

    "Man kann sich nicht an dem Wort Irrlicht festhalten. Unter diesem Wort kann vielschichtig geschrieben werden. Man kann einen historischen Roman schreiben, in dem Gespenster durch zugige Gänge geistern, man kann es aber auch in der Gegenwart spielen lassen. Der Sinn ist immer, dass etwas Außergewöhnliches, für den Verstand nicht Fassbares passiert."

    Tatsächlich versprechen alle Titel der "Irrlicht"-Romane etwas für den Verstand nicht Fassbares, Grausig- oder Gruseliges wie

    "Höllenvisionen", Das Skelett im alten Turm", "Die Wunderquelle" oder - geradezu ein Klassiker des Genres - "Das Geheimnis von Loch Ness".

    Seit einiger Zeit wird die Titelzeile durch kurze Untertitel ergänzt, die nicht etwa den Leser ansprechen, sondern der Hauptfigur gewidmet sind und in einem mahnend-warnendem Ton gehalten werden:

    "Seine Augen sind nicht von dieser Welt, Sarah!"
    "Diese Burg ist dein ganz persönlicher Albtraum, Jennifer"
    "Vor dem Gespenst kannst du nicht fliehen, Ann Potter!"
    "Deine Neugier wirst du büßen, Dorina!"


    Man ist per du mit der weiblichen Hautperson, die meist das heiratsfähige Alter erreicht und bei Weitem nicht überschritten hat, aber zum Handlungszeitpunkt völlig unverheiratet ist.
    Zu dem Zeitpunkt also, als das Schicksal zuschlägt und die Heldin mit übernatürlichen Ereignissen konfrontiert, die ihr die Haare zu Berge stehen lassen - was ihr, soviel ist klar, ausnehmend gutsteht.
    So auch Elaine, der Heldin der Jubelnummer:

    "Elaine, meine Heldin, ist eine sehr gute Fotografin, die mit ihrem Leben und mit ihrem Umfeld sehr zufrieden ist. Dennoch wird sie mit schöner Regelmäßigkeit nachts von Albträumen heimgesucht, in denen jemand sie würgt. Sie ist ganz verzweifelt und kann sich das nicht erklären. Da bekommt Elaine einen Auftrag, in einem Ort, Anderwood, zu fotografieren. Schon auf dem Weg dorthin hat sie das Gefühl, dass dieser Ort etwas mit ihren Albträumen zu tun hat. Da sieht sie ein Hinweisschild auf eine Brücke, die sie laut Manuskript fotografieren soll. Sie beschließt, dort hinzugehen. Sie verläuft sich. Es setzt ein Gewitter ein. Da sieht sie plötzlich eine engelsgleiche Gestalt in den Bäumen. Kurz darauf schlägt der Blitz in den Baum ein, unter dem sie Schutz gesucht hat. Und diese engelsgleiche Gestalt hat sie von dem Baum weggezogen und sich schützend über sie geworfen. Das war der erste Kontakt zu Julia oder Julias Geist."

    Man merkt: Der Geist muss kein Böser sein. Er kann im Gegenteil Leben retten und bergen und alles zum Guten wenden. Aber noch sind wir nicht soweit. Der "Romantische Albtraum" geht weiter:

    Elaine erfährt, dass ihr der Geist einer seit Jahren spurlos verschwundenen Frau erschienen ist. Sie findet auch jenes efeuüberwachsene Haus wieder, das sie im Traum gesehen hat. Und als ihr das nächste Mal Julias Geist begegnet, fotografiert sie ihn.

    "Als sie in den Ort hineinkommt, findet sie in einer Pension ein Bild mit dem Foto dieser jungen Frau, und erfährt, dass sie schon seit zehn Jahren verschwunden ist. Sie marschiert an dem Nachmittag noch durch Anderwood, sieht dann dieses efeuüberwachsene Haus, das ihr auch im Traum erschienen ist, und fotografiert es, und als sie sich abwenden will, sieht sie wieder diese Gestalt, die sie wie verrückt fotografiert, weil sie jetzt glücklich ist, ein Beweisstück zu haben, dass das nicht alles eine Ausgeburt ihrer Fantasie ist, sondern dass es da irgendetwas gibt. Nur: Als sie sich dann später die Fotos ansehen will, ist da bloß eine weiße Fläche, sonst nichts. Das heißt: Geister kann man nicht fotografieren."

    So weit, so grausig. Es weht etwas Altväterliches um diese Romane, und all die haunted houses, die geheimnisgesättigten Dörfer, Schlösser, Herrenhäuser wirken ein wenig wie aus alten Miss-Marple-Filmen entwendet, umsortiert und neu aufgestellt. Nur dass in dieser rätselvollen Landschaft keine hartnäckige Detektivin unterwegs ist, um jeden Zauber als faul zu entlarven. Der Spuk ist echt.
    Geht das? Einige Jahre mochte es in der Literatur scheinen, als wäre der Grusel passé. Aber dann - übrigens sechs Jahre nach Start der "Irrlicht"-Serie - kam Harry Potter und öffnete den Zauberern und Gespenstern, den Geistern mit und ohne Tintenherz wieder Tür und Tor. Seitdem ist diese Sektion der fantastischen Literatur global gesellschaftsfähig. Dabei ist der romantische Thriller, wie er heute heißt, keine eben neue Erfindung. Die Frau mochte sich seit der Romantik vor übersinnlichen Erscheinungen gruseln. Und durfte nicht sogar noch Effi Briest Gespenster sehen oder wenigstens an Geister glauben?

    Immerhin bleibt das Grauen in den "Irrlicht"-Heften heute außer Landes, genauer: ein zutiefst britisches Phänomen. Die Autorinnen und Autoren zeichnen mit Künstlernamen wie Vanessa Lane, A. S. Black, Brenda Moon, Erica Summer oder Harriet Windsor. Das klingt ein wenig, als hätten sich einige spukkundige Damen, angeführt von einer Muhme der englischen Königin, bei Tee und Gebäck zusammengesetzt, um einander Geistergeschichten zu erzählen.
    Theoretisch gilt natürlich:

    "Die 'Irrlicht'-Romane können überall spielen. Ich bevorzuge Irland und England, weil sich dort die Atmosphäre anbietet für Geschichten, in denen es spukt, in denen Geistererscheinungen vorkommen, und weil auch die Landschaft sie anbietet, und die alten Herrenhäuser."

    Was ist an England eigentlich so gespenstisch?

    "An England ist sicher nichts gespenstisch. Man kann sich vorstellen: Wenn ein Haus in Schottland steht, und zwar an einer Klippe, dass da eher jemand herunter gestoßen wird als in Düsseldorf auf der Kö."

    Dazu kommt als unverzichtbare Ingredienz das passende Wetter. In der Meteorologie des Schreckens hat es zu gewittern, und auch der Regen regt zu romantischen Gedankengängen an:

    "Es regnet draußen. Ich denke: Regen ist gut, und fang mit Regen an und weiß gar nicht, was sich daraus entwickelt. "

    Versteht sich, dass ein beträchtlicher Teil der Szenerie nur matt ausgeleuchtet ist, bevorzugt von Kerzenlicht und Mondschein. Nächtliche Schlossgärten, Burgruinen und Katakomben gehen vor Einkaufsstraße. Das weiß natürlich auch der Verlag:

    Die Neigung nach wohligen Schaudergefühlen ist bei der Leserschaft besonders verbreitet, denn diese unheimlichen Stories erzeugen zugleich ein besonders romantisches Ambiente. Gothic-Romane besitzen allgemein einen sehr hohen Stellenwert. Der fein gestrickte Liebesroman mit Gänsehauteffekt begeistert alle, die ein Herz für Spannung, Spuk und Liebe haben.

    Denn Spuk und Liebe sind, wie die Liebhaber der Gothic-Romane wissen, eng verwandte Gefühle. Aber geht die Liebe unter diesen Vorzeichen auch gut aus? Wird die Welt, nachdem sie ins Geisterhaft-Gespenstische entstellt wurde und aus den Fugen geraten ist, je wieder heil?

    "Ich denke, die Leser mögen - wie wir alle - am liebsten heile Welten. (...) Das Happy End gibt es. Das erwarten wir auch alle. Wenn wir vor dem Fernseher kleben und die Königshochzeiten sehen, sind wir doch auch ganz glücklich darüber, dass sich jetzt zum Schluss Kate und William gefunden haben."

    Nach dem Vorbild solcher königlichen Hoheiten hat schon Miss Gillen in ihrem Rainmoor Castle ihren Weg in die Arme ihres Lords gefunden, und so findet nun auch Elaine durch Spuk und geisterhafte Erscheinung ins Glück - natürlich nicht, ohne unterwegs noch das Rätsel um Julia gelöst zu haben. Die kann nun, da ihr Mörder gestellt ist, zur Ruhe kommen:

    Julia Harding ... Ihr Geist, ihre Seele hatte sie gesucht und gefunden - das Gute hatte
    gesiegt und das Böse war bestraft worden.
    Und so ganz nebenbei - oder nicht nebenbei, sondern von einer höheren Macht gesteuert? - war ihr Traumprinz begegnet.
    Er war in ihrem Leben, und das wollte sie nicht mehr zerdenken, sondern genießen, und (...) dann wollte sie noch etwas ganz dringend ... sie wollte von David Procter, diesem
    Herzensdieb, geküsst werden, und das nicht nur einmal ...
    Ende gut, alles gut!
    Das war das Letzte, was sie dachte, danach ... nun, danach fühlte sie nur noch, und das war wunder-, wunderschön!


    So also kann es gehen, wenn man dem Irrlicht folgt. Und wenn die Sehnsucht anhält, nach dem Schaurig-Schönem, nach postmortalen Damen ohne Fleisch und Blut und - warum nicht - nach dem traditionellen englischen Regenwetter, dann wird das "Irrlicht" sicher noch sehr lange über den deutschen Heftromanmarkt geistern.

    Vanessa Lane: "Irrlicht" Nummer 1000: "Romantischer Alptraum", Kelter Verlag