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"Es handelt sich nicht um eine Invasion"

Der französische Publizist Alfred Grosser hat den Umgang Europas mit den nordafrikanischen Flüchtlingen als "skandalös" bezeichnet. Obwohl es nur um einige Tausend Menschen gehe, tue man so, als sei es eine Invasion wie die der "Hunnen im Mittelalter".

Alfred Grosser im Gespräch mit Anne Raith | 13.05.2011
    Anne Raith: Die Skepsis ist groß und sie wächst. Die angeschlagene Gemeinschaftswährung stellt Europa auf eine harte Probe. Die Euro-Krise spaltet die Gemeinschaft in die, die am Abgrund stehen und sparen müssen, und die, die Hilfspakete schnüren, Hilfspakete, die Parlamente entzweien und am Ende doch nicht ausreichen. Neben der Schuldenkrise zeigt auch der Streit um Schengen, wie es derzeit um Europa bestellt ist. Nationale Alleingänge wie der Dänemarks, die Grenzkontrollen wieder einzuführen, nehmen zu, auch wegen innenpolitischen Drucks. Was bedeutet das für Europa? - Am Telefon begrüße ich nun den französischen Publizisten Alfred Grosser, einen großen Freund Europas, der sich seit Jahrzehnten insbesondere für die deutsch-französische Freundschaft eingesetzt hat, die ja gerne als Motor Europas bezeichnet wird. Guten Morgen, nach Paris!

    Alfred Grosser: Guten Morgen!

    Raith: Wie groß ist Ihre Sorge um Europa in diesen Tagen?

    Grosser: Sie ist sehr groß, unter anderem, weil nichts getan wird, um das Positive zu zeigen, um zu zeigen, was wir an Europa schon haben, und die Presse macht mit, die Medien machen mit. Nur um ein Beispiel zu geben: Das Parlament, das Europäische Parlament arbeitet hervorragend, macht eine Reihe von Dingen, wer kennt in Deutschland jemand wie Elmar Brok, ein in Straßburg, in Brüssel hoch anerkannter Deutscher, der lange gearbeitet hat, damit diese gemeinsamen Gesetze aus Straßburg gehen können.

    Raith: Und dennoch erhält Europa ja immer öfter den Zusatz "Krise": Euro-Krise, Flüchtlingskrise, Schengen-Krise.

    Grosser: Die Flüchtlingskrise finde ich skandalös. Es handelt sich nicht um eine Invasion; es handelt sich darum, dass wir helfen sollen, um nur das Beispiel zu nehmen, dass Tunesien demokratisch wird, dass denen geholfen wird, wie man nach dem Krieg den jungen Deutschen geholfen hat, wie man 1956 den Ungarn, 1968 versucht hat, den Tschechen zu helfen, dass Leute für die Freiheit sind, momentan Flüchtlinge sind, und viele wollen wieder zurückgehen oder bei uns arbeiten. Das sind einige Tausende und man tut, als sei es so eine Invasion wie die Hunnen im Mittelalter.

    Raith: Aber wie ist Europa denn, Herr Grosser, in diese Schieflage gekommen? Warum besinnen sich alle wieder zurück auf sich?

    Grosser: Unter anderem, weil niemand gesagt hat, wie es ist, zum Beispiel wie viel Deutschland profitiert hat, wie viel Deutschland in der Katastrophe wäre, zusammen mit Frankreich, wenn zum Beispiel Frankreich den Euro verlassen würde, was unmöglich ist, aber nehmen wir es mal an. Dann bricht der Fonds völlig zusammen, dann kann Frankreich nicht mehr importieren. Das heißt, dass Deutschland nicht mehr nach Frankreich exportieren kann. Und in Deutschland wird nie richtig gesagt, wie viel seit Jahren die Bundesrepublik davon profitiert hat, dass es keine Grenzen mehr gibt.

    Raith: Aber warum gelingt es offenbar nicht, diese europäische Idee, diese Vorteile zu transportieren?

    Grosser: Weil es viel einfacher ist zu sagen, alles Gute kommt aus Berlin oder aus Paris und alles Schlechte kommt aus Brüssel, das böse Brüssel. Oder zum Beispiel das Bundesverfassungsgericht: Das Gute sind wir, das Schlechte ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, und wir müssen dem überlegen sein. Und diese Art, ich will zeigen, dass ich besser bin als die europäische Ebene, die gibt es überall und man profitiert. Die Landwirte haben total profitiert von Europa; sie tun, als sei das nicht so wichtig, als sei die Hilfe, die sie von Europa bekommen, Nebensache, und sie ist keine Nebensache.

    Raith: Fehlt es Europa an überzeugten Europäern, die eben das klar machen?

    Grosser: Ja, unbedingt! Also wenn zum Beispiel - ich sage das nicht aus französischem Nationalismus -, wenn noch ein Jacques Delors an der Spitze der Kommission wäre, würde es anders aussehen. Ich erinnere daran, dass er die Verantwortung dafür trägt, dass so leicht Europa geholfen hat, die deutsche Wiedervereinigung herzustellen. Dafür ist er damals im Reichstagsgebäude von Richard von Weizsäcker beglückwünscht worden. Heute schweigt eigentlich, sieht man nirgends die Kommission. Seit Delors hat es keinen großen Premier, Präsidenten der Kommission gegeben. Und die Katastrophe ist zum Beispiel, dass man jemand, der überhaupt nichts von Politik und Außenpolitik weiß, die englische Dame, ernannt hat als Außenministerin Europas, und sie ist unsichtbar.

    Raith: Von wem müssten denn Ihrer Meinung nach Impulse ausgehen? Von Catherine Ashton, die Sie ansprechen, oder von Herman Van Rompuy, dem Präsidenten des Europäischen Rates? Den sieht man ja auch wenig.

    Grosser: Gestern war ein Artikel in einer französischen großen Zeitung: "Der Unsichtbare", nein, das war in der Süddeutschen Zeitung: "Der Unsichtbare". Und er ist unsichtbar. Und Catherine Ashton, wenn sie gesehen wird, dann ist es besser, wenn sie nicht gesehen würde. - Nein, es könnte sein, dass endlich aus Berlin und aus Paris Impulse kommen, wo man trotzdem im Konflikt steht, und das sind ganz echte Konflikte, wie hier in Deutschland auch nach innen. Zum Beispiel bei Atom gibt es eine deutsch-französische Spannung, dann hat es die Spannung über Libyen gegeben, wo einerseits Westerwelle Nein gesagt hat - er hätte ja sagen können, ohne dass ein deutscher Soldat engagiert werden sollte -, und auf der anderen Seite unser Präsident, der alles alleine macht und dann erst sagt, man solle europäisch vorgehen. An der Spitze wird momentan kein besonders gutes Beispiel gegeben.

    Raith: Der ehemalige deutsche Außenminister Genscher sagt, die Probleme, mit denen wir heute zu ringen haben, haben wir nicht wegen zu viel Europa, sondern wegen zu wenig Europa. Das mag in den Ohren vieler erst mal paradox klingen. In Ihren auch?

    Grosser: In meinen Augen klingt das völlig richtig, und wie schon seit vielen Jahren bin ich mit Genscher einig. Wir haben momentan eine Überlegung, auch in Paris und in Berlin, dass es doch schade ist, dass doch von vorneherein der Euro nicht zusammengekommen ist mit einer gemeinsamen Steuer-, Währungs- und anderer Wirtschaftspolitik, und langsam entdeckt man, dass es besser wäre, wenn man eine gemeinsame Politik hätte. Das kann aus der Krise etwas Gutes produzieren. Sicher ist das nicht, aber das ist ein Weg. Und man entdeckt, dass man gemeinsam handeln müsste, nicht gemeinsam im Sinne einer plus einer, sondern mit einer gemeinsamen Autorität, und das ist mehr Europa. Genauso wie eine ganze Reihe von Entscheidungen, die das europäische Gericht in Luxemburg trifft, uns alle angeht, unseren Gerichten in Frankreich und in Deutschland sehr gut getan hat und weiterhin gut tut, dass das europäische Recht sich bei uns inhaltlich in Deutschland und in Frankreich in der Jura-Politik eingenistet hat und heute wichtiger ist, aber das weiß niemand und das sagt niemand. Im Dezember 2006, bevor Deutschland Präsident wurde in Europa, gab es eine kleine Diskussion mit der Zivilgesellschaft bei der Kanzlerin. Ich hatte die Ehre, dabei zu sein, und der Einzige, der sagte, man kann in den nächsten sechs Monaten und später auch nichts tun, war der einzige Journalist in der Versammlung. Der Kardinal sagte, man kann, die Sportler sagten, man kann, alle sagten, man kann, taten auch einiges dann in den nächsten sechs Monaten, nur der Journalist sagte, wir können nichts tun.

    Raith: Um noch mal auf den Euro zurückzukommen, sieht es ja im Moment eher so aus, dass dieses Bewusstsein sehr langsam durchdringt und sich im Moment alle noch in den Haaren liegen, wegen der Griechenlandhilfen zum Beispiel.

    Grosser: Genau! Aber man unterschätzt auch, dass man sich genauso in Deutschland in den Haaren liegt wegen der Hilfe nach Osten, wegen der Tatsache, dass zum Beispiel in armen Ruhrstädten, die sowieso verschuldet sind, noch Geld bezahlt werden muss, damit Mecklenburg-Vorpommern einiges bekommen kann, und dass die innerdeutschen Auseinandersetzungen zwischen Bundesrat und Bundestag nicht besser sind oder nicht schlimmer sind als zwischen dem Europäischen Parlament und der Kommission zum Beispiel. Man will aber nicht anerkennen, dass zwar Europa noch kein Staatenbund ist, noch nicht mal eine gemeinsame Außenpolitik, eine gemeinsame Militärpolitik, und doch schon viel weiter auf einem föderalen Weg, als zum Beispiel die Schweiz oder die Vereinigten Staaten, die viel weniger gemeinsame Gesetze haben als Europa heute.

    Raith: Ist diese Entwicklung, die wir gerade zu beobachten glauben, diese Nationalisierung der europäischen Politik, ist die umkehrbar?

    Grosser: Das ist schwer zu sagen. Das hängt von vielen Elementen ab. Zum Beispiel, ich nenne das französische Beispiel: Wenn bei uns Jean-Marie Le Pen einen tollen Wahlerfolg nächstes Jahr hat, wird es noch schlimmer. Momentan scheinen die französischen Parteien fasziniert zu sein, weil das Resultat in Finnland so gewesen ist, weil in den skandinavischen Ländern es einen Ultranationalismus gibt mit Fremdenfeindlichkeit. Alle sagen, sie hat ja nicht recht, aber doch. Und ich bin in Deutschland zum Beispiel entsetzt darüber, was die SPD jetzt macht mit Sarrazin. In Wirklichkeit übernimmt sie die Thesen von Sarrazin, die rassistische Thesen sind.