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"Es ist ein Land ohne Zusammenhalt"

Libyen leidet an einem Dualismus zwischen West und Ost. Dieser sei historisch bedingt, sagt Günter Meyer vom Geografischen Institut der Universität Mainz. Für die weitere Entwicklung sei es wichtig, dass die Rivalitäten zwischen den verschiedenen Stämmen überbrückt werden können.

Günter Meyer im Gespräch mit Jasper Barenberg | 23.08.2011
    Jasper Barenberg: Gaddafis Sohn Saif mit dem Victory-Zeichen, mitten im umkämpften Tripolis. Der Auftritt gestern Abend, er zeigt vor allem, wie unübersichtlich die Lage in der Hauptstadt weiterhin ist. Die Rebellen geben an, inzwischen 95 Prozent zu kontrollieren. Offenbar konzentrieren sich die Kämpfe inzwischen auf die Residenz des Diktators, ein riesiges Gelände mitten in der Stadt, wohl noch immer in der Hand schwer bewaffneter Regierungstruppen.

    Durchhalteparolen der verbliebenen Stützen des Regimes in Libyen also und Zuversicht auf Seiten der Rebellen, dem Sieg nahe zu sein. Alles schwer zu überprüfende Angaben, unter anderem: wo steckt Muammar al-Gaddafi selber. Auch auf diese Frage gibt es keine verlässliche Antwort. Die US-Regierung hat keine Beweise, dass er aus Tripolis geflohen ist, und auch die Rebellen wissen offenbar nicht, wo er sich versteckt hält. Verwirrung um einen Diktator, der länger regiert als alle anderen Potentaten in der arabischen Welt, der vom Westen angefeindet wurde, später aber auch toleriert, ja hofiert.

    Mitgehört hat Günter Meyer vom Geografischen Institut der Universität Mainz. Er beschäftigt sich dort unter anderem intensiv mit der politischen Geografie in der arabischen Welt. Schönen guten Tag, Herr Meyer.

    Günter Meyer: Herr Barenberg, ich grüße Sie.

    Barenberg: Nach allem was Sie wissen und erfahren in diesen Tagen, ist das Regime in Libyen am Ende?

    Meyer: Das Regime in Libyen ist sicherlich am Ende. Gestern gingen viele Quellen davon aus, innerhalb von 24 Stunden; das hat sich inzwischen überholt. Aber es kann sich definitiv nur noch um Tage handeln.

    Barenberg: Einige waren ja überrascht, wie schnell der Vormarsch der Rebellen in die Hauptstadt Tripolis vonstatten ging. Manche mutmaßen, dass es entscheidend gewesen sei, dass Gaddafi nun auch den Rückhalt bei verbliebenen wichtigen Stämmen und Stammesführern verloren hat. Würden Sie da zustimmen?

    Meyer: Wir haben anders als bei dem bisherigen, sehr langsamen, sehr zögerlichen Vormarsch von Osten, von den Truppen, die vom Nationalen Übergangsrat kommandiert worden sind, hier eine ganz andere Situation. Wir haben eine koordinierte Aktion zwischen der Bevölkerung in Tripolis selber und den Stämmen im Westen des Landes. Der Aufstand innerhalb der Stadt, der auch gerade dadurch gefördert worden ist, dass Gaddafi gleich zu Beginn der Unruhen in sehr spektakulärer Weise Waffen zur Verteidigung seiner Herrschaft frei an die Öffentlichkeit vergeben hat, dieser Aufstand innerhalb von Tripolis wurde koordiniert mit dem Angriff der Truppen aus dem Westen, und das ist ein ganz wichtiger Aspekt, denn hier kommt der alte Konflikt wieder zum tragen zwischen dem Westen des Landes und dem Osten des Landes. Unter dem König wurde das Land vom Osten aus regiert, hier gingen alle Privilegien hin. Unter Gaddafi, dort wurde der Westen massiv ausgebaut und unterstützt, während der Osten weitgehend diskriminiert worden ist. Dieser Dualismus, diese Zweiteiligkeit, die wird jetzt wieder bestätigt, indem die siegreichen Truppen aus dem Westen kommen, gemeinsam mit der Bevölkerung in der Hauptstadt. Dagegen die Truppen aus dem Osten von der Übergangsregierung, die sind erst ganz langsam vorgestoßen. Das heißt, die politische Macht liegt gegenwärtig noch im Osten, und es ist die Frage, ob die Truppen im Westen, die siegreich gewesen sind, sich jetzt tatsächlich dem fügen werden, was hier der Nationale Übergangsrat in Zukunft anordnen wird.

    Barenberg: Welche Erwartungen haben Sie?

    Meyer: Die ersten Kritiken werden schon sehr deutlich, vor allem die massive Forderung, wo ist der Nationale Sicherheitsrat. Er sollte hier in Tripolis sein. Das heißt, die Kritik wächst bereits und dann auch die Spekulationen, die hier gehört werden, eben auch angesprochen wurden, was ist denn mit Saif al-Islam, ist er möglicherweise freigelassen worden, ist es Korruption. Hier kommen schon wieder die Konflikte zwischen Ost und West zum tragen und es wird sehr spannend zu sehen, wie es dem Nationalen Übergangsrat hoffentlich gelingen wird, diese Rivalitäten zu überbrücken.

    Barenberg: Beschreiben Sie uns doch ein wenig, wer sich hinter den Kräften im Osten und hinter den Kräften im Westen jeweils verbirgt, wer dahinter steht.

    Meyer: Also der Nationale Übergangsrat wird gebildet von 31 Vertretern der verschiedenen Regionen, der Stämme und der Städte. Aber das sind überwiegend Vertreter, die aus dem Osten des Landes kommen. Im Westen, da haben wir große Stämme, die sehr lange davon profitiert haben, dass sie auf der Seite Gaddafis standen. Offensichtlich ist es aber gelungen, sie jetzt abzuwerben, so dass sie sich gegen Gaddafi gestellt haben und gemeinsam mit den Rebellen das alte Regime stürzen wollen.

    Barenberg: Was Sie beschreiben, Herr Meyer, ist ein Land ohne Zusammenhalt? Kann man das so sagen?

    Meyer: Es ist ein Land ohne Zusammenhalt. Es ist von 130 bis 140 verschiedenen Stämmen die Rede, wobei wir uns das nicht so vorstellen müssen wie die klassischen beduinischen Stämme mit einem Stammesoberhaupt und einer klaren Identität, bewaffnet, die einheitliche Zielsetzungen verfolgen. Dadurch, dass die Mehrheit der beduinischen Bevölkerung in der Zwischenzeit schon seit ein, zwei Generationen überwiegend in den Städten wohnt, dadurch hat die Stammesloyalität deutlich nachgelassen. Und das führt dazu, dass auch die Stammesführer sich keineswegs auf die Loyalität aller Stammesangehörigen verlassen können. Das heißt, es gibt hier sehr viele widerstreitende Interessen, es gibt auch sehr große Rivalitäten zwischen den einzelnen Stämmen, die für die Zukunft des Landes eine wichtige Rolle spielen werden.

    Barenberg: Wie groß ist denn dann die Gefahr, die manche Fachleute jetzt schon an die Wand zeichnen, die Gefahr, dass wir es mit einem Land zu tun haben werden, das zerrissen sein wird von verschiedenen Interessen, möglicherweise von gewaltsamen Auseinandersetzungen, ein gescheiterter Staat?

    Meyer: Das Land versinkt im Chaos und Bürgerkrieg, wie auch in den Medien zum Teil zu lesen ist. Dagegen spricht eindeutig, dass die Hauptströmung der Rebellen sich durchaus einig ist, wir wollen demokratische Verhältnisse. Gerade der Konstitutionsentwurf, der hier aufgelegt worden ist von Mustafa Abdul Dschalil, dem Vorsitzenden des Nationalen Übergangsrates, klare Forderung, Freiheit, Demokratie, Gerechtigkeit, Gleichheit, und das ist wichtig: in einem gemäßigten islamischen Rahmen, das heißt von vornherein die Absage gegenüber Extremisten, gegenüber Al-Kaida-Anhängern, die es durchaus auch im Lande gibt, gegenüber Salafisten, ein gemäßigter islamischer Rahmen wird hier angestrebt. Ob diese Zielsetzung erreicht werden kann, auch das, was dann weiter als Ziel kommt, nämlich innerhalb von drei Monaten soll die Verfassung aufgestellt werden und nach sechs Monaten dann die ersten demokratischen Wahlen, welche Hindernisse bis dahin noch überwunden werden müssen, das wird die nächsten Monate ganz entscheidend bestimmen.

    Barenberg: Was Sie gerade skizziert haben, Herr Meyer, eine Art Blaupause für einen Weg in eine demokratische Zukunft, das hat in einem Gespräch mit einer italienischen Zeitung auch der libysche Botschafter dort heute skizziert. Er hat auch gesagt, es wird dann eine provisorische Regierung eingesetzt, es wird innerhalb eines Monats Wahlen für eine Nationalversammlung geben, eine Verfassungskommission, über die dann per Referendum abgestimmt werden soll, also über die Verfassung, die diese Kommission dann ausarbeiten soll. Das klingt wie ganz glasklare Schritte. Aber welche Hürden sehen Sie noch auf diesem Weg?

    Meyer: Nun, wir sehen, wie schwierig das ist, selbst in einem Land wie Ägypten solche Reformen durchzuziehen. Ägypten hat eine Vielzahl von Institutionen, auf die das Land aufbauen kann. Genau das hat Libyen nicht. Wir haben hier diese Volks-, diese Massendemokratie. Das sind keine politischen Institutionen, durch die ein demokratisches System funktionieren kann. Das heißt, wir fangen hier wirklich von null an, obwohl es positive Entwicklungen gibt auf der Basis von Komitees, die sich in den verschiedenen Städten gebildet haben und die gegenwärtig die kommunale Verwaltung unter ihre Kontrolle gebracht haben. Das ist ein positiver Ansatz. Aber bis alle die erforderlichen politischen Institutionen geschaffen werden, da ist es sehr zweifelhaft, ob das innerhalb des vorgesehenen Zeitraums tatsächlich möglich ist.

    Barenberg: Zum Schluss vielleicht die Frage: Wir haben über den Nationalen Übergangsrat gesprochen. Trauen Sie diesem Nationalen Übergangsrat die Kraft zu, die Durchsetzungsfähigkeit, das jetzt zu moderieren, diesen Prozess?

    Meyer: Eine Frage, die gegenwärtig nicht zu beantworten ist. Mustafa Abdul Dschalil, der Vorsitzende des Nationalen Übergangsrates, genießt hohes Vertrauen, ehemaliger Justizminister, der als einer der ersten dann zu den Rebellen übergelaufen ist, der als Richter immer faire Urteile gefällt hat, auch gegen die damalige Regierung. Er genießt einen wichtigen Vertrauensvorschuss. Aber wir haben sonst keine charismatische Persönlichkeit, die hier etwa die entscheidende Rolle für die Zukunft spielen könnte.

    Barenberg: Günter Meyer vom Geografischen Institut der Universität Mainz. Danke, Herr Meyer, für das Gespräch.

    Meyer: Ich danke Ihnen, Herr Barenberg.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.