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"Es ist ein neues Kapitel"

"Dead Silence" sei experimenteller als die vorherigen Alben, sagt Billy-Talent-Sänger Benjamin Kowalewicz. Bislang habe es die interne Vorgabe gegeben, sich bloß nicht zu weit zu öffnen. Dass man nun mehr ausprobiert habe, "gibt dem Ganzen mehr Tiefe."

Das Gespräch führte Marcel Anders | 19.09.2012
    Marcel Anders: Ben, "Dead Silence" klingt wie die Rückkehr zum Sound von "II" – das Album, mit dem Billy Talent 2006 den internationalen Durchbruch geschafft haben. Gleichzeitig sind da aber auch viele neue Sachen am Start ...

    Benjamin Kowalewicz: Stimmt.

    Anders: Ist das kein Widerspruch in sich: Einerseits das Festhalten an einer Erfolgsformel, andererseits der Versuch, sich weiterzuentwickeln?

    Kowalewicz: Eigentlich stehe ich schon immer auf eine vielseitige Instrumentierung. Doch bislang war es halt so, dass wir diese interne Vorgabe hatten, uns bloß nicht zu weit zu öffnen, und es im Hinblick auf bestimmte Dinge wie die Instrumentierung nicht zu bunt zu treiben.

    Das ist diese "Rage Against The Machine"-Philosophie. Eben dass alles, was wir machen, auch immer live funktionieren muss. Und dass wir allein deshalb keine verdammten Banjos, Bläser und Streicher einbringen. Aber auf diesem Album waren wir zum ersten Mal ein bisschen offener. In dem Sinne, dass wir mehr ausprobiert haben. Was prima funktioniert hat. Denn es gibt dem Ganzen mehr Tiefe. Es ist wie ein neues Licht.

    Anders: Deshalb auch nicht einfach nur "IV" als Titel – obwohl die Vorgänger ja "I", "II" und "III" hießen? Ist "Dead Silence" Ausdruck eines neuen künstlerischen Anspruchs?

    Um ehrlich zu sein: Der Sache mit den Zahlen haben wir nie große Bedeutung beigemessen. Es war einfach: Dies ist unser erstes Album, das ist das Zweite und hier ist das dritte. Also alles ganz easy. Zumal es ja auch gut bei iTunes und im CD-Regal aussieht. Aber diesmal sagten wir uns: "Es ist ein neues Kapitel, ein neuer Beginn." Es einfach nur "4" zu nennen, würde dem nicht gerecht.

    Anders: Das Coverartwork ziert eine apokalyptische Unterwasserlandschaft: Die Ruine einer Stadt, umgeben von Haien – und in der Mitte eine hell erleuchtete Telefonzelle. Was hat es damit auf sich?

    Ganz einfach: Wir leben doch alle unter Wasser. Und es ist ein starkes Image, das eine Menge Leute anzusprechen scheint. Oder eine starke Anziehung auf sie hat. Und da ist ein Song namens "Swallowed Up By The Ocean", den Ian und ich geschrieben haben. Er ist vor allem textlich sehr interessant.

    Denn der Song und die Melodie haben etwas von einem Liebeslied. Wenn du es zum ersten Mal hörst, denkst du, es ginge um ein Paar, das eine harte Zeit durchläuft und sich trennt. Aber im weiteren Verlauf erkennst du, dass es Mutter Erde ist, die mit den Menschen bricht. Sie sagt so etwas wie: "Ich habe euch all diese Warnungen gegeben. Ich habe euch gebeten, aufzuhören. Aber ihr habt immer weiter gemacht." Und dann drückt sie den berühmten Knopf und schickt riesige Flutwellen, die die gesamte Welt zerstören. Das ist dann die Trennung.

    Wir haben den Text an Ken Taylor, einen australischen Grafiker geschickt, der dann intuitiv dieses Image entwickelt hat. Insofern ist das alles auf eine ziemlich verrückte Art und Weise passiert. Und die Telefonzelle ist ein wichtiger Teil des Bildes. Denn sie bedeutet, dass es immer noch Hoffnung gibt. Selbst wenn alles zu spät scheint, ist da doch immer noch Hoffnung. Und man sollte nie aufgeben.

    Anders: Sprich: Wenn man es bis dahin schafft, kann man entkommen – oder gerettet werden?

    Dann kannst du da raus. Oder es wird zumindest jemand da sein, der dir zuhört. Was auch wichtig ist.

    Anders: Das klingt nach subversivem Gedankengut ...

    Es ist einfach so, dass momentan eine unglaubliche Spannung auf der Welt herrscht. Ein wirklich bedrohlicher Unterton. Wobei das Interessante an den letzten fünf Jahren war, dass wir all diese Themen auf den Tisch gebracht haben: Politik, Soziales, Umweltfragen. Und die Leute haben sehr genau hingehört. Aber dann ist es ihnen irgendwann zu viel geworden. Weshalb sie den Kopf in den Sand stecken und das zu ignorieren und verdrängen versuchen.

    Und dieses Album reflektiert das. Also das Gefühl, dass es jede Sekunde vorbei sein könnte. Dass man uns den Teppich unter den Füßen wegzieht. Was wir aber als positive Motivation einsetzen. Nach dem Motto: Folgt euren Träumen, folgt eurem Herzen. Tut, was ihr wollt, glaubt an euch selbst und lasst euch da von niemandem reinreden. Denn: Wer weiß schon, wann das Ende kommt?

    Anders: Außerdem geht es um blinden Konsum und die Gefahr von sozialen Netzwerken wie Facebook ...

    Richtig.

    Anders: Worin sich Leute regelrecht verlieren.

    Weil wir in einer beispiellosen Zeit leben. Auf unerforschtem Gebiet. Es ist der Wilde Westen. Wobei wir nicht einmal wissen, welche Gefahren das Internet birgt. Ich meine, ich hatte vor kurzem eine Unterhaltung mit jemandem, in der es um die Zeit davor ging – als es das noch gar nicht gab. Und ich muss sagen: Ich schätze mich glücklich, dass ich ohne Internet, ohne Mobiltelefone und diesen ganzen Mist aufgewachsen bin. Denn heute ist es doch so, dass wir ständig am Telefon oder vor dem Computer hängen.

    Ich habe zum Beispiel erst gestern mit der Band, ein paar Mädels von der Plattenfirma und unserem Tourmanager zusammen gesessen. Und statt etwas zu sagen, hat jeder auf sein Telefon gestarrt. Wir saßen uns gegenüber, aber keiner hat den anderen angeschaut. Bis ich meinte: "Lasst uns miteinander reden. Macht endlich eure Telefone aus." Einfach, weil es so wichtig ist, mal ein oder zwei Stunden abzuschalten und sich mit jemandem zu unterhalten. Im Sinne von: Geh ein Bier mit deinem Kumpel trinken. Ruf deine Freundin, Frau oder deinen Freund an - und geh mit ihnen aus. Setz dich hin und rede. Du wirst überrascht sein, was dabei rumkommt.

    Anders: Demnach machen wir uns zum Sklaven der Technik, die uns ja eigentlich helfen soll?

    Das ist Punkt. Wobei ich aber nichts predige. Denn ich mache mich da genauso schuldig. Aber ich sage es, weil wir uns da auf eine geradezu verrückte Weise schikanieren lassen. Und weil das mittlerweile normal ist. Wir sind so daran gewöhnt, unseren Computer anzustarren. Was allein deshalb interessant ist, weil sich ja eigentlich keiner richtig wohl dabei fühlt. Ich meine, wer sitzt schon gerne eine Stunde völlig ruhig in einem Raum? Das ist wirklich verrückt.

    Anders: Wobei da auch ein Generationskonflikt reinspielt: Ein heute 25-Jähriger wird sich kaum an die Zeit ohne Mobiltelefone erinnern können – für ihn ist das ganz normal ...

    Das ist wirklich interessant. Nur: Nach allem, was wir jetzt gesagt haben – wer weiß schon, was in 20 Jahren ist? Welche Entwicklungen werden noch passieren? Solche Sachen wie Twitter oder Facebook sind ja erst fünf oder sieben Jahre am Start – wenn überhaupt. Und jetzt gibt es schon wieder all diese neuen Dinge. Nach dem Motto: "Instagram ist populär. Tumblr ist populär." Oder: "Nein, das ist schon wieder out."

    Es ist so schwierig, immer auf dem neuesten Stand zu sein, und deshalb verweigere ich mich da auch. Denn ich war mal eine Zeit lang bei Facebook und hatte eine Myspace-Seite. Aber dann wurde mir klar: "Was zum Teufel mache ich da eigentlich? Was kümmert mich der Kontakt zu einem Mädchen, mit dem ich rumgemacht habe, als ich 14 war – und die mittlerweile verheiratet mit vier Kindern ist? Da kann ich nur sagen: "Wir haben mal auf einer Party geknutscht."

    Anders: Und jetzt weiß es die ganze Welt?

    Ganz genau. Eben alle meine virtuellen Freunde. Alle, die da sind. Wobei ich aber nicht von mir behaupten würde, dass ich da besser wäre. Und das möchte ich auch noch mal betonen. Ich denke, das Wichtigste ist, dass jeder für sich einen Weg findet, sich auf der Welt wohl zu fühlen. Und einige Leute stehen halt auf diesen Online-Kram, was OK ist. Aber man muss eben auch erkennen, dass es wichtigere Dinge gibt.

    Anders: Zum Beispiel?

    Gutes Essen und ein gutes Glas Wein. Ich bin wirklich nicht der komplizierteste Mensch auf Erden. Ich muss zum Beispiel nicht in irgendwelche Clubs gehen, sondern möchte einfach was Nettes zu Essen und ein Glas Wein.

    Anders: Vor deiner Musikerkarriere hast du bei einem großen Radiosender in Toronto gearbeitet. Könntest du dir eine Karriere als Moderator vorstellen?

    Ja, und irgendwann werde ich das auch angehen. Um ehrlich zu sein: Eigentlich wollte ich damit schon vor dem neuen Album anfangen – und habe auch mit verschiedenen Sendern gesprochen. Sie wollten, dass ich meine eigene Sendung moderiere. Wobei sich das Ganze von einer lokalen zu einer landesweiten Sache entwickelte. Sogar Satellitenradio war im Gespräch. Bis es mir irgendwann zu viel und zu groß wurde. Es fühlte sich einfach nicht richtig an. Also sagte ich ab. Aber eines Tages werde ich meine eigene Radiosendung haben.

    Anders: Mit welchem Anspruch oder Konzept?

    Das Ganze wird wie "Seinfeld": Eine Show über gar nichts. Ich werde einfach über das diskutieren, was ich gerade für wichtig halte.

    Anders: Ist das der Plan für die Rente? Für das Leben nach dem Rock´n´Roll?

    Keine Ahnung, ob das etwas für die Rente ist. Aber ich rede halt gerne mit Leuten. Das ist eine meiner Lieblingsbeschäftigungen. Und ich würde das Radio gerne als Plattform nutzen, um interessante Dinge zu erörtern. Wir könnten zum Beispiel über die Leistung der Toronto Blue Jays reden, über Verkehrsprobleme, oder politische Sachen, die auf der Welt passieren. Wie Pussy Riot. Da gibt es so viele Themen.

    Anders: Ben, vielen Dank für das Gespräch!