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"Es ist eine gefallene Welt"

Johnsons Roman handelt vom Krieg in Vietnam, sein Zeithorizont erstreckt sich von 1963 bis zu einem Nachspiel im Jahr 1983. Johnson, der es immer schon verstand, seine düstere Weltsicht in knappen Formulierungen auf den Punkt zu bringen, braucht nur ein paar Zeilen, um den Absturz aller edlen Vorsätze in die Barbarei zu skizzieren.

Von Eberhard Falcke | 29.12.2008
    Sein Vater war amerikanischer Offizier, er wurde 1949 in München geboren, er wuchs in Tokio und Manila auf und schon mit zwanzig veröffentlichte er seinen ersten Gedichtband. In Deutschland setzte die Entdeckung von Denis Johnson aber erst 1995 zögerlich mit seinem Erzählband "Jesus' Son" ein, doch dann begann sein Ruhm mit jedem neuen Buch unaufhaltsam zu wachsen.
    "Ein gerader Rauch" heißt sein jüngster Roman, ein monumentales, umfangreiches Werk, für das Denis Johnson im vergangenen Jahr den National Book Award erhielt. Und in diesem Fall wurde der nationale Buchpreis einmal an einen Roman vergeben, in dem es tatsächlich um nationale Belange von größter Tragweite geht. "Ein gerader Rauch" ist nämlich ein Roman über den Vietnam-Krieg. Und wer heute von Vietnam spricht, meint ja bekanntlich fast immer auch den Irak. Das heißt Johnsons Roman thematisiert über das Beispiel Vietnam hinaus zugleich generell das amerikanische Sendungsbewusstsein, das schon häufig in Gestalt von bewaffneten Interventionen in aller Welt seinen Anspruch auf Vorherrschaft demonstriert hat.
    Merkwürdigerweise wurden übrigens die weitreichenden historischen und politischen Schlussfolgerungen, die dieser Roman auch zu bedenken gibt, in der amerikanischen Rezeption nicht sonderlich beachtet. Doch jetzt, nachdem plötzlich allenthalben von den dunklen Jahren der Bush-Administration gesprochen wird, will es fast scheinen, als käme dieser Roman gerade zur rechten Zeit.

    Als sie den Tafelberg hinter sich ließen, um zu einem Bach tief unten in einer Schlucht abzusteigen, drang von irgendwo hinter dem nächsten Gipfel ein schwaches Knistern an ihr Ohr, und sie gerieten in den Schatten einer Rauchwolke am Himmel, einer schwarzen Säule, die in der Windstille senkrecht vor ihnen emporragte. Und es soll Blut und Feuer und Rauchdampf geben - das war aus Joel, oder? Joel, ja, das dritte Kapitel, meist mit "Rauchdampf" oder "Rauchsäule" übersetzt und irgendwo hieß es auch "ein gerader Rauch".

    Ein bejahrter Geistlicher schleppt sich durch den kambodschanischen Dschungel, um die Überreste eines auf unbekannte Weise zu Tode gekommenen Missionars zu bergen. Das ist eines von vielen Endspielen, die sich in Denis Johnsons neuem Roman aneinanderreihen. Die Sprache der Bibel spielt in der modernen Literatur der von Pilgervätern mitbegründeten Vereinigten Staaten nach wie vor eine bedeutsame Rolle. Johnsons Roman trägt das biblische Bild schon unheilverkündend im Titel: "Ein gerader Rauch".
    Der Roman handelt vom Krieg in Vietnam, sein Zeithorizont erstreckt sich von 1963 bis zu einem Nachspiel im Jahr 1983. Johnson, der es immer schon verstand, seine düstere Weltsicht in knappen Formulierungen auf den Punkt zu bringen, braucht nur ein paar Zeilen, um den Absturz aller edlen Vorsätze in die Barbarei zu skizzieren.

    Na schön, die Kinder tun einem eine Zeit lang leid. Man ist traurig, der Kinder wegen, der Tiere wegen, man vögelt keine Frauen, man knallt keine Tiere ab, aber dann wird einem klar, dass dies ein Kriegsgebiet ist und alle, die hier sind, darin leben. Es ist einem egal, ob man selber morgen lebt oder stirbt, man tritt nach den Kindern, man vögelt die Frauen, man knallt die Tiere ab.

    Handlungs-, figuren- und intertextuell beziehungsreich entrollt Johnson ein riesiges Tableau, das vor allem eines zeigt: Der militärische Interventionismus gebiert Katastrophen, moralische, geistige, existentielle, von den politischen ganz zu schweigen. "Wir sind an einem grauenvollen Ort", sagt einmal jemand zu Kathy Jones, einer humanitären Helferin, worauf diese erwidert: "Es ist eine gefallene Welt."
    Die Fallhöhe der katastrophalen Desillusionierung manifestiert sich in der Entwicklung von Skip Sands. Er gehört zu dem halben Dutzend Hauptfiguren des Romans, die an entscheidenden Stationen ihres Weges abwechselnd in den Vordergrund der Erzählung treten. Skip Sands ist als junger CIA-Agent nach Südostasien gekommen, mit einem optimistischen Bild von den USA und deren Mission in der Welt.

    "Hören Sie, diese Leute hier werden es nie viel besser haben als jetzt. Aber ihre Kinder vielleicht. Freie Marktwirtschaft bedeutet Innovation, Bildung, Wohlstand, den ganzen Schmalz. Und freie Marktwirtschaft breitet sich zwangsläufig aus, das ist nun mal ihr Wesen. Die Urenkel der Leute hier werden es besser haben als wir in den Vereinigten Staaten."
    "Tja", sagte Kathy Jones verblüfft, "das sind hübsche Gedanken, hoffnungsvolle Sätze, aber die Leute hier können keine Sätze essen. Sie müssen Reis in den Bauch bekommen ..."


    Um den Ruf des amerikanischen Helden, der in aller Welt ebenso wie in Hollywoodfilmen und an ideologischen Fronten für die Werte des Westens eintritt, steht es nicht gut. Denis Johnson beschwört in diesem Roman nichts Geringeres herauf als die große amerikanische Heldendämmerung, und es ist bestimmt kein Zufall, wenn er das gerade jetzt tut. Bereits die Schauplätze der Handlung markieren entscheidende Stationen aus der Geschichte des imperialen Interventionismus: Auf den Philippinen eroberten die USA in brachialen Kriegen die Nachfolge der spanischen Kolonialherrschaft; in Vietnam setzten sie sich an die Stelle der aus dem Feld geschlagenen Franzosen; und die Heimatfront, die im Roman durch Phoenix, Arizona repräsentiert wird, lieferte das Material für die fernen Kriege. Von dort kommen die Gebrüder Bill und James Houston, die Söhne einer kaputten Unterschicht-Familie. Sie sind die Fußsoldaten des amerikanischen Weltbefreiungstraums. Als orientierungslose junge Burschen werden sie in den Dschungelkrieg geschickt, als schwer geschädigte Asoziale kommen sie wieder heraus. James erlebt, wie seine Einheit in der legendären Tet-Offensive des Vietcong aufgerieben wird.

    Wenn der Tod in der Nähe war, bekamst du es mit deiner Seele zu tun. Er sah Mündungsfeuer und hörte das Pop-pop-pop von Kalaschnikows und das Geknatter von M16-Gewehren. Er hörte Düsenjäger. Er hörte Hubschrauber. Er hörte Raketen. Wie erstarrt stand er mit der Waffe in der Hand neben der Hängematte, verängstigt und weinerlich, dumm und allein. Geschützfeuer rings um ihn herum. Ein Schuss prallte von seinem Helm und Gewehr ab.

    Auch Skip Sands erfährt bald am eigenen Leib, dass diese Art des Krieges allein zu Zerstörung, Korrumpierung und zum moralischen Bankrott führt. Er beginnt als Nachrichtendienstler quasi wie ein Ethnologe, der die Vietnamesen kennen lernen möchte, und er endet als Waffenhändler. Wer bei Johnson auf Lichtgestalten im Inferno hofft, der hofft vergebens. Es treten Nahkämpfer auf, die sich bei ihrer blutigen Arbeit im Tunnelsystem des Vietcong zu Handwerkern des Tötens verwandeln; der Südvietnamese Hao hält sich an dem Traum fest, dorthin auszuwandern, wo seine unseligen Befreier herkommen; der Vietcong Trung dient als Doppelagent bei einer Geheimdienstintrige; Sergeant Storm von der Psychologischen Kriegsführung verliert sich wie ein Held Joseph Conrads zwischen Kulturen und Fronten.
    Wie schon in anderen Fällen haben Johnsons Figuren auch hier oft ein verwackeltes Verhältnis zu Realität und Vernunft. Ihr Blick auf die Dinge wird verzerrt vom Daseinsschmerz und der Erfahrung des Grauens. Manche sehnen die religiöse Erlösung herbei. Doch wenn Denis Johnson von Erlösung spricht, dann ist das nur ein weiterer schwarzer Gedanke. Denn die Religiosität seiner Figuren hat viel gemein mit einem halluzinatorischen Wahn.
    Einer, der schon lange an nichts mehr glaubt und schon gar nicht an die Aufrichtigkeit der Politik, ist Colonel Sands, Skips Onkel und Chef. Er ist im Roman die zentrale Symbolfigur für die Korrumpierung des Sendungsbewusstseins von "Gods own Country". Im Zweiten Weltkrieg, mit dem sich die USA als strahlende Siegermacht etablierten, wurde er zum Helden. Nun, in Vietnam, wirkt er widerwillig daran mit, wie dieser Ruf verspielt wird. Colonel Sands startet die Aktion "Gerader Rauch", weil er den Verdacht hegt, dass die Erkenntnisse des CIA für politische Zwecke verfälscht und missbraucht werden.

    Mir gefällt die verdammte Auswahl nicht, Skipper. Was unter anderem ausgesiebt wird, ist die eine, spezielle Information, die uns das Leben schwermachen würde, weil sie unseren Vorgesetzten nicht passt. Und was übrig bleibt, ist eine Lüge, die auf dem Schreibtisch des Vorgesetzten landet, eine fröhliche, eine monströse Lüge. Die Lügen wandern nach oben, und was wieder runterkommt, ist schlechte Politik, falsche Politik.

    Solche gezielten Verfälschungen der Geheimdienstarbeit sind der Regierung Bush längst nachgewiesen. Unverkennbar steht Vietnam hier zugleich für den Irak. Ist dies also ein politischer Roman? Keineswegs! Denn Johnson arbeitet nicht mit politischen, ja nicht einmal mit historischen Argumenten sondern allein mit der poetischen Anschaulichkeit und dem bewegenden Vergegenwärtigungszauber großer Erzählkunst. Damit allerdings befindet er sich zweifellos auf der Höhe einiger schmutziger historischer Wahrheiten. Deshalb besitzt dieses finstere, zornige, beunruhigende Erzählwerk eben doch beträchtliche politische Brisanz. Einen wichtigeren, kühneren Roman als diesen hat es zwischen Los Angeles und New York lange nicht gegeben.

    Denis Johnson: Ein gerader Rauch. Roman.
    Deutsch von Bettina Abarbanell und Robin Detje. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2008. 880 Seiten, 24,90 Euro.