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"Es ist eine Illusion zu glauben, dass kleine Kinder weniger brauchen"

Es müsse endlich in der Gesellschaft bewusst gemacht werden, "dass Kinder eigene Rechtspersönlichkeiten" sind, sagt Edith Schwab, Vorsitzende des Verbandes alleinerziehender Mütter und Väter.

Edith Schwab im Gespräch mit Dirk Müller | 20.10.2009
    Dirk Müller: Drei Familien hatten geklagt und bislang Recht bekommen, gegen die Hartz-IV-Sätze für Kinder. Diese richten sich laut geltendem Gesetz nach dem entsprechenden Alter der Kinder. Die Höhe der staatlichen Leistungen beträgt demnach 60, 70 oder 80 Prozent des Erwachsenensatzes, der derzeit bei 359 Euro liegt. Genau darüber geht nun die juristische Auseinandersetzung: ist das kindgerecht, ist das bedarfsgerecht, eine prozentuale Pauschale für die Erziehung der Jüngsten? Das Bundesverfassungsgericht verhandelt jetzt darüber.
    Bei uns am Telefon begrüße ich nun Edith Schwab, Vorsitzende des Verbandes alleinerziehender Mütter und Väter. Guten Tag!

    Edith Schwab: Guten Tag, Herr Müller.

    Müller: Frau Schwab, bekommen Hartz-IV-Kinder zu wenig Geld?

    Schwab: Ja, klar. Das stellt das Bundesverfassungsgericht jetzt gerade fest. Unser Verband hat das schon lange festgestellt. Der Kindesbedarf ist - und das wird auch das Ergebnis dieser Verhandlung in Karlsruhe sein - bisher nicht valide festgestellt, in keinster Form, sondern die Kinderbedarfssätze leiten sich von den Erwachsenenbedarfssätzen ab. Ganz grob gesprochen - das können Sie heute Früh in manchen Tageszeitungen lesen -, es ist ein kleiner Prozentsatz centmäßig für Alkohol enthalten, aber keiner für Bildung und keiner für Kinderwindeln zum Beispiel.

    Müller: Das verstehe ich jetzt nicht. Wie meinen Sie das?

    Schwab: Die Bedarfssätze sind ja errechnet. Das hat ja irgendein schlauer Mensch mal gesagt: was braucht ein Erwachsener zum Leben. Ein Erwachsener braucht zum Leben etwas Alkohol und etwas Narkotikum, also Nikotin. Das ist in diese Bedarfssätze mit eingearbeitet. Das werden Sie dann lernen, wenn das Bundesverfassungsgericht das jetzt auseinanderklamüsert. Diese Bedarfssätze enthalten aber nichts, was Kinder brauchen, also zum Beispiel Bildungsmaterialien, Spielzeug, Kinderwindeln und so weiter. Das ist nicht enthalten, sondern der Kinderbedarfssatz ist lediglich ein Prozentsatz des Erwachsenenbedarfssatzes, also völlig willkürlich festgesetzt.

    Müller: Aber die Tatsache, dass dieser Kindersatz ein Prozentsatz ist - wir haben das ja gesagt, je nach Alter gestaffelt, 60 Prozent, 70 Prozent, 80 Prozent -, muss nun noch kein Beweis dafür sein, dass er zu niedrig ist.

    Schwab: Ja, gut, das wird man feststellen, ob er nicht doch in der Tat zu niedrig ist. Der Verband der alleinerziehenden Mütter und Väter hat sich seit Jahrzehnten damit beschäftigt. Wir haben vor vielen Jahren mal eine Kampagne gestartet - was sind dem Staat die Kinder wert, was sind wirklich die Bedürfnisse der Kinder - und haben eine aktuelle Aktion, die jetzt auch schon über ein Jahr alt ist, und haben festgestellt, mit vielen anderen Verbänden zusammen, dass ein Mindestsatz von 500 Euro das ist, was ein Kind braucht, und zwar ein Kind, unabhängig von seinem Alter. Es ist eine Illusion zu glauben, dass kleine Kinder weniger brauchen. Ich habe die Windeln angesprochen. Wenn Sie allein errechnen, was ein Kind im Laufe eines Monats heutzutage an Windeln braucht, wenn keiner mehr die Windeln wäscht, dann ist das eine feste Bestandsgröße in Ihrem Haushalt, so Sie ein kleines Kind haben.

    Müller: Frau Schwab, 500 Euro sagen Sie pro Kind, ganz gleich wie viele Kinder zur Familie gehören. Bei drei Kindern sind das 1.500 Euro?

    Schwab: Das ist völlig richtig, ja.

    Müller: Dann müssten viele, wenn sie das bekommen würden, nicht mehr arbeiten gehen.

    Schwab: Das ist das, was ich immer höre. In der Tat sind das Dinge, die die Kinder brauchen, und wenn das Bewusstsein wirklich auch Platz greift in dieser Gesellschaft, dass Kinder eigene Rechtspersönlichkeiten sind und eigene Ansprüche haben und diese Bedürfnisse auch tatsächlich haben und auch befriedigt bekommen - da ist natürlich auch ein bisschen Bildung dabei, was ich schon angesprochen habe -, dann ist es so, dass es natürlich nicht im gesellschaftlichen Bewusstsein verankert werden sollte, dass die Eltern jetzt von den Einkünften der Kinder leben. Aber diese Diskussion haben sie bei jeden zehn Euro, die das Kindergeld erhöht wird, gleichermaßen, dass die Eltern das nur vertrinken oder in Alkohol, Zigaretten oder in Elektronik umsetzen. Dieses Argument hören sie immer wieder.

    Müller: Das ist ein Argument. Ist das nicht in Teilen - Sie haben doch viel Erfahrung, auch in der Praxis, Sie kommen mit vielen Familien auch in den Wohnungen der Familien zusammen - ein Vorurteil, oder können Sie das auch bestätigen?

    Schwab: Das ist ein Vorurteil. Ich denke, das ist eine Sache, die sich in den Köpfen der gesamten Gesellschaft abzuspielen hat, dass Kinder gefördert werden sollen und müssen und dass Kinder eigene Ansprüche haben. Dann kann ich, wenn ich das Geld jetzt hätte, meinem Kind auch eine entsprechende Ausbildung zum Beispiel generieren. Ich kann auch mal eine Nachhilfestunde bezahlen. Ich kann auch mal einen Musikunterricht finanzieren. Das Musikinstrument ist da jetzt zum Beispiel schon mal nicht mehr drin. Das ist ja klar, das kostet ein bisschen mehr, wenn es nicht gerade eine Blockflöte ist.

    Müller: Ich muss da noch mal nachfragen, Frau Schwab. Ist das bei vielen Familien nicht die entscheidende Frage, wie mit dem Geld, was man insgesamt zur Verfügung hat, umgegangen wird mit Blick auf die Kinder?

    Schwab: Sie meinen das Haushaltseinkommen?

    Müller: Das Haushaltseinkommen, wie auch immer sich das zusammensetzt. Wie viel Geld bekommen davon die Kinder?

    Schwab: Wir sind nicht der Meinung, dass die Einkünfte der Kinder in die sogenannte Bedarfsgemeinschaft der Hartz-IV-Bedarfe eingerechnet werden sollte. Da sind wir definitiv dagegen, weil wenn sie das immer mit einrechnen - manche Kinder bekommen ja tatsächlich Barunterhalt gezahlt von den abwesenden zweiten Elternteilen -, dass dieser Unterhalt, der für das Kind gezahlt wird, in die Bedarfsgemeinschaft hineingerechnet wird, bedeutet dies, dass das Kind nichts davon hat und auch nicht aus der Armut herauskommt, sondern sie müssen das Kind als eigenständige Persönlichkeit sehen.

    Müller: Das müssen Sie den vielen Familien aber verraten, die das nicht nach innen tun.

    Schwab: Die Familien bemühen sich nach Kräften, aber zurzeit ist es ja so, dass sie zum Beispiel das Kindergeld in den Hartz-IV-Sätzen ja eins zu eins abgezogen bekommen. Das heißt, wenn das Kindergeld sich jetzt vielleicht auf 200 Euro erhöht - zumindest hört man das aus der politischen Landschaft zurzeit -, dann haben alle Leute, die in Hartz IV sind, davon nichts. Sie haben null!

    Müller: Wie ist es denn mit Gutscheinen anstelle von Barmitteln?

    Schwab: Ja, gut, wir degradieren natürlich unsere Bevölkerung jetzt allmählich auch zu Bittstellern. Das heißt, sie gehen mit einem Gutschein irgendwo hin und bekommen irgendwas dafür.

    Müller: Aber das wäre vielleicht besser, als eine weitere Packung Marlboro?

    Schwab: Da habe ich auch nichts dagegen, wenn Sie das so bewerten. Das ist klar: Marlboro ist auch nicht das Gelbe vom Ei. Ich denke, wir fordern Lernmittelfreiheit. Das ist jetzt zum Beispiel diese Gutschein-Diskussion, immer wenn die Schule wieder anfängt. Dann gibt es Gutscheine für Bücher, was ich eigentlich gut finde, aber sie können mit diesen Gutscheinen nur neue Bücher kaufen. Sie dürfen also nicht zu einem Secondhand irgendwo hingehen und hätten dann für dasselbe Geld, also für denselben Gutschein, vielleicht die Bücher für ihr Kind in Gänze gekauft. So kriegen sie ungefähr 50, 60 Prozent davon gekauft und den Rest kaufen sie dann doch wieder aus eigenen Mitteln. Man muss also sehr genau hinschauen, was man da jetzt anbietet. Ich denke aber, dass man nicht alle Eltern generell unter den Verdacht stellen darf - das darf man einfach nicht, das widerspricht der Menschenwürde -, dass sie sich an dem Eigentum oder an dem Einkommen ihrer Kinder vergreifen.

    Müller: Bei uns im Deutschlandfunk Edith Schwab, Vorsitzende des Verbandes alleinerziehender Mütter und Väter. Vielen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Schwab: Bitte sehr.