Samstag, 20. April 2024

Archiv


"Es ist in der Tat ein großer Tag für Hamas"

Durch den Gefangenenaustausch mit Israel habe die Hamas ihre Popularität gesteigert, so der Sozialwissenschaftler Suleiman Abu Dayyeh. Er ist außerdem überzeugt, dass Israel sich durch den Austausch nicht erpressbar gemacht habe.

Suleiman Abu Dayyeh im Gespräch mit Friedbert Meurer | 18.10.2011
    Friedbert Meurer: Die Nachricht des Tages, sie lautet: insgesamt 1000 Palästinenser kommen frei nach teilweise jahrzehntelanger Haft und ein Israeli. Für viele Palästinenser ist heute ein Freudentag. Der Hamas war bewusst, welches Faustpfand sie da vor fünf Jahren in die Hände bekommen hatte. Vor Jahren war Israel schon einmal bereit gewesen, selbst für die Leichen toter israelischer Soldaten zahlreiche Palästinenser aus der Haft zu entlassen.
    Suleiman Abu Dayyeh ist palästinensischer Sozialwissenschaftler, er arbeitet für die Friedrich-Naumann-Stiftung in Jerusalem. Guten Tag, Herr Abu Dayyeh.

    Suleiman Abu Dayyeh: Ja, guten Tag!

    Meurer: Ist heute ein großer Tag für die Hamas?

    Abu Dayyeh: Es ist in der Tat ein großer Tag für Hamas. Hamas hat darauf sehr lange gewartet und hat auch sehr intensive und harte Verhandlungen mit Israel geführt, um den Preis so hoch wie möglich zu bekommen für die Freilassung von Shalit. Und ich denke, weitgehend Hamas hat ihr Ziel erreicht, indem etwa 1000 palästinensische Gefangene freigekommen sind. Aber vor allem die Popularität von Hamas ist mit diesem Gefangenenaustausch auch wieder hochgestiegen, nachdem Hamas fast in Vergessenheit geraten ist und nachdem Hamas in den Umfragen in den palästinensischen Gebieten an Unterstützung verloren hat. Insofern kann man das durchaus als einen Erfolg der Hamas bezeichnen.

    Meurer: Umgekehrt ein, sagen wir, kompletter Misserfolg für Präsident Abbas, der ja wohl an den Verhandlungen überhaupt nicht beteiligt war?

    Abu Dayyeh: Das ist wahr. Ich denke, das Ziel indirekt sowohl von Hamas, wie auch in Israel war, Mahmud Abbas zu schwächen. Die Popularität von Abbas war in den letzten Wochen sehr hoch gestiegen, nachdem er den Antrag auf Staatlichkeit bei der UN beantragt hat. Und zweitens: Die Israelis wollten Mahmud Abbas dafür bestrafen, dass er diesen Schritt beschritten hat, und Netanjahu erschien in der Weltöffentlichkeit als der Friedensverweigerer, wenn Sie so wollen. Und insofern wollten beide indirekt ihre Popularität erhöhen und indirekt letztendlich auch Abbas schwächen, und das Ziel haben sie erreicht. Aber ich denke, das wird nicht von Dauer sein.

    Meurer: Wie beurteilen Sie persönlich den Gefangenenaustausch? Finden Sie das gut so, wie das abläuft?

    Abu Dayyeh: Ich finde, wie es abläuft, ist nach meiner Auffassung unerheblich. Aber ich finde, dieser Gefangenenaustausch kann dazu beitragen, dass das Verhältnis und die Beziehungen zwischen Israelis und Palästinenser etwas entspannter wird, und ich denke, das könnte und das sollte vielleicht auch ein Schritt in Richtung Wiederaufnahme der Verhandlungen und vor allem auch der Aufgabe der Blockade von Gaza sein, weil die Israelis ja diese Blockade immer damit gerechtfertigt haben, solange Shalit in Gefangenschaft bei Hamas und bei den anderen Organisationen ist, wird der Gazastreifen blockiert bleiben.

    Meurer: Aber sehen Sie irgendein Anzeichen, dass Israel die Blockade des Gazastreifens lockert?

    Abu Dayyeh: Angeblich die Ägypter bekamen das Versprechen. Die Ägypter waren ja die Hauptverhandlungs-sozusagen-Vermittler zwischen beiden Seiten. Die Ägypter behaupten, dass sie den Israelis das Versprechen abgerungen haben, dass schrittweise die Blockade des Gazastreifens aufgegeben wird, und das würde sicherlich die Lebensverhältnisse der Menschen dort erleichtern, aber genauso auch die Popularität von Hamas erhöhen.

    Meurer: Die 1000 Palästinenser kommen nicht alle an einem Tag frei: die Hälfte heute, in zwei Monaten, glaube ich, noch mal gut die Hälfte. Und sie werden auch unterschiedlich verteilt: Einige müssen ins Exil, einige kommen aus der Westbank, müssen aber nach Gaza. Wie kompliziert ist diese Verteilung?

    Abu Dayyeh: Die ist sehr kompliziert und sie ist deswegen auch umstritten in den palästinensischen Gebieten, so sehr die Palästinenser sich über die Freilassung so vieler Gefangenen freut. Gleichzeitig sind sie natürlich darüber enttäuscht, dass Hamas zugestimmt hat, dass eben so viele Palästinenser entweder ins Exil geschickt werden, oder abgeschoben werden in den Gazastreifen, obwohl sie aus der Westbank sind. Hinzu kommt: Hamas hat damit auch ein Versprechen gebrochen, indem Hamas dieser Regelung zugestimmt hat, obwohl sie jahrelang gesagt hat, sie werden niemals eine Vereinbarung unterzeichnen, die das ins Exil schicken von Gefangenen beinhaltet. Von dieser Maximalforderung ist Hamas abgerückt. Und zusätzlich sind die Menschen deswegen auch nicht ganz zufrieden, weil eine ganze Reihe von führenden Persönlichkeiten weiterhin in Gefangenschaft sind, obwohl Hamas auch versprochen hat, dass diese führenden Persönlichkeiten an oberster Stelle der Liste stehen werden. Dem ist Hamas auch nicht entsprochen.

    Meurer: Der frühere israelische Botschafter Shimon Stein hat bei uns gesagt, das ist ein Fehler, Israel hat sich erpressbar gezeigt, 60 Prozent aller Palästinenser seien beim letzten Mal sozusagen wieder rückfällig geworden als Terroristen nach ihrer Freilassung. Wie viel Gefahr geht von den 1000 Palästinensern aus?

    Abu Dayyeh: Schauen Sie mal, ich denke, das ist politisches Gerede erst mal. Israel macht nicht diesen Gefangenenaustausch zum ersten Mal. Das ist ein Austausch, der schon sehr oft stattgefunden hat. Zwischen Israel und den arabischen Staaten und den Palästinensern hat es seit 1955 38 Gefangenenaustausche gegeben, und das ist schon eine große Zahl. Insofern: Von der Erpressbarkeit Israels kann nicht die Rede nach meiner Auffassung sein. Und die Zahl, die er genannt hat, stimmt vollkommen nicht. Es gibt wenn überhaupt drei Prozent von den entlassenen Leuten, die wieder an gewalttätigen Aktionen beteiligt waren. Aber ich denke, die Mehrheit der palästinensischen Gefangenen oder ehemaligen Gefangenen haben sich in das zivile Leben wieder integriert und sie sind nicht rückfällig geworden. Insofern kann ich diese Zahlen überhaupt nicht absegnen.

    Meurer: Unterschiedliche Bewertungen und Einschätzungen. Danke schön! – Das war Suleiman Abu Dayyeh von der Friedrich-Naumann-Stiftung in Jerusalem. Auf Wiederhören nach Jerusalem, Herr Abu Dayyeh.

    Abu Dayyeh: Auf Wiederhören!


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.