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"Es ist natürlich als politisches Urteil zu bewerten"

Der ehemalige Öl-Manager Michail Chodorkowski ist in Russland erneut verurteilt worden. Er soll über 200 Millionen Tonnen Öl illegal weiterverkauft haben. Alexander Rahr, Russland-Experte der DGAP, sagt sinngemäß, das Land entferne sich durch die Prozessführung weiter von der Rechtskultur.

Alexander Rahr im Gespräch mit Dirk Müller | 27.12.2010
    Dirk Müller: Über 200 Millionen Tonnen Öl soll er abgezweigt und illegal weiterverkauft haben. Aus dem Vorwurf gegen Michail Chodorkowski ist nun ein Urteil geworden. Der ehemalige Yukos-Chef ist für schuldig befunden worden, so die Entscheidung des Gerichts in Moskau. Ein Urteil, hinter dem viele Fragezeichen stehen, zahlreiche Kritiker aus dem In- und Ausland werfen den Richtern Manipulation vor, wie auch schon beim ersten Verfahren gegen den umstrittenen Unternehmer. Wie lange Chodorkowski weiter im Gefängnis bleiben muss, das ist noch nicht geklärt. 8Erneut ist also Michail Chodorkowski schuldig gesprochen worden in Moskau. Darüber sprechen wollen wir nun mit Alexander Rahr, Russland-Experte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Guten Tag!

    Alexander Rahr: Guten Tag, Herr Müller!

    Müller: Herr Rahr, ist das ein politisches Urteil?

    Rahr: Es ist natürlich als politisches Urteil zu bewerten. Chodorkowski sitzt ja schon seit acht Jahren für ein Vergehen, das er natürlich begangen hat. Auf der anderen Seite ist jetzt diese Verlängerung der Haftstrafe, ein neues Urteil natürlich nur mit politischen Gründen zu beschreiben.

    Müller: Sie sagen, es ist zu bewerten, das heißt, es ist ein politisches Urteil?

    Rahr: Es muss ein politisches Urteil sein. Man muss aber auf der anderen Seite sagen, sicherlich, diese Schemen, die Chodorkowski, auch andere Oligarchen entwickelt haben damals in den 90er-Jahren, um sich natürlich auch selbst zu bereichern, sie stimmen ja alle. Dieses Argument, das immer wieder hier geltend gemacht werden muss, ist aber Folgendes: Warum wird Chodorkowski verurteilt und andere Oligarchen nicht? Und die Antwort ist ganz klar: Weil die meisten Oligarchen sich jetzt unter den Staat gestellt haben, staatlichen Interessen dienen, und Chodorkowski sich weiterhin für die Wirtschaftsfreiheiten der 90er-Jahre eingesetzt hat und Putin Paroli bietet. Deshalb, bezeichnen kann man ihn eben als heute einen politischen Prozess.

    Müller: Das heißt, es könnte aber auch sein, dass Chodorkowski tatsächlich schuldig ist?

    Rahr: Also meine Meinung ist, dass Chodorkowski beim ersten Prozess schon rechtmäßig verurteilt worden ist für Dinge, die er getan hat, wobei ich wieder betone, dass andere Oligarchen sich auch schuldig gemacht haben, aber nicht verurteilt wurden, weil sie sich den staatlichen Interessen unterstellt haben. Ich glaube auch, dass für die Machthaber heute es sehr gefährlich sein wird, Chodorkowski 2012, in den Monaten, wo ein neuer russischer Staatspräsident gewählt wird, in Freiheit zu wissen, weil er könnte dann beispielsweise die Opposition unterstützen und ihr neue Kraft geben. Aber Chodorkowski hat noch eine Chance – wenn er sich für schuldig befindet, was er selbst nicht tut, denke ich, könnte er amnestiert werden. Das hat Präsident Medwedew, der anders zu dieser Sache steht als Putin, denke ich, schon mehrmals angekündigt.

    Müller: Unter dem Strich, Herr Rahr, könnte man denn sagen, Russland ist immer noch keine Demokratie?

    Rahr: Russland ist auf dem Weg zur Demokratie, aber solche Prozesse wie der gegen Chodorkowski lassen natürlich Zweifel offen, ob Russland diesen Weg überhaupt noch schafft in den nächsten Jahren, ob Russland sich von der Rechtskultur nicht weiter entfernt.

    Müller: Warum geht Vladimir Putin gerade international dieses Risiko ein, einen zweiten Sacharow hervorzubringen?

    Rahr: Ich glaube, es wäre übertrieben, Chodorkowski mit Sacharow zu vergleichen. Das tun einige Menschenrechtsorganisationen, aber ich glaube, da gibt es schon einen großen Unterschied. Für Medwedew ist die Verurteilung Chodorkowskis natürlich ein Riesenschlag, weil er seine Modernisierungspolitik ohne westliche Hilfe kaum durchbringen wird können und er natürlich darum bemüht ist, in Russland einen Rechtsstaat aufzubauen. Für Putin ist es sehr wichtig, die anderen Oligarchen an der Kandare zu wissen. Jedes Urteil, das heute gegen Chodorkowski gesprochen wird, wenn man es genau liest, kann gegen jeden anderen Oligarchen verwendet werden – gegen Abramowitsch und gegen andere Oligarchen, die heute in Russland die Stadien für die Fußball-Weltmeisterschaft bauen oder die Wintersportanlagen für Sotschi. Sie wissen alle, sie stehen unter Druck, gegen sie gibt es genug Möglichkeiten vorzugehen, und diese Art von Peitsche will Putin natürlich in seinen Händen haben, um die Oligarchen zu zwingen, staatlichen Interessen zu dienen und nicht so wie in den 90er-Jahren ihre eigene Politik zu ...

    Müller: Herr Rahr, wenn ich es richtig verstanden habe, besteht genau darin das eigentliche Versagen des Systems, dass nicht alle belangt werden.

    Rahr: Das kann man so sagen, ist aber schwierig noch mal zu unterschreiben, weil eben wir es mit zwei Russlands zu tun haben: das eine Russland in den 90er-Jahren, wo es sehr viele wirtschaftliche Freiheiten gab, aber eine völlig Unordnung, was das Staatswesen angeht, und jetzt ein neues Russland, wo der Staat wieder im Zentrum des Wirtschaftsgeschehens steht, aber viele wirtschaftliche Freiheiten aus den 90er-Jahren wieder zugedreht werden.

    Müller: Versuchen wir es mit weiteren Unterschriften, die ich versuche, mit Ihrer Hilfe zu bekommen. Medwedew ist der Demokrat, der Modernisierer, und Vladimir Putin nach wie vor der Autokrat?

    Rahr: Ja, das kann man so stehen lassen, und deshalb wird es sehr wichtig sein, wer von den beiden 2012 an der Spitze Russlands stehen wird.

    Müller: Wie steht denn der Rückhalt in der Bevölkerung derzeit?

    Rahr: Ich glaube, dass 70 Prozent der Bevölkerung für Putin sind und seine Ordnungspolitik willkommen heißen aufgrund der schwierigen 90er-Jahre, die für die meisten Russen eine Katastrophe waren.

    Müller: Was spricht für Medwedew?

    Rahr: Für Medwedew spricht die Zukunft und das Einsehen, dass Russland europäisch modern werden muss und sich nicht abkapseln und nicht eine eigene Zivilisation aufbauen kann. Die Zeiten sind vorbei, Russland muss sich auch globalisieren, es muss Anschluss an Europa, an den Westen finden und deshalb auch richtig modern werden, auch im politischen Sinne.

    Müller: Aber demnach würde in Russland, wenn ich Sie richtig verstanden habe, immer noch der Satz gelten, mit Demokratie kann ich mir noch nichts kaufen?

    Rahr: Nein, man wird sagen, die Demokratie hat uns in den 90er-Jahren nichts gebracht, Demokratie ist ein Schimpfwort, Demokratie hat uns eher geschwächt als gestärkt. Eine andere Generation von Demokraten muss heranwachsen, die das Gegenteil beweist.

    Müller: Reden wir über den machtpolitischen Einfluss von beiden, Medwedew und Putin. Wer ist der wirklich stärkere Mann?

    Rahr: Der stärkere Mann ist eindeutig Putin, Medwedew wurde von Putin vor vier Jahren ausgesucht, Präsident zu werden – er ist Präsident unter Putin.

    Müller: Hat er Anhänger gefunden in der politischen Elite, Medwedew?

    Rahr: Ich glaube, er hat 15, 20 Prozent der Bevölkerung inzwischen hinter sich. Das sind die Menschen, die ein modernes Russland haben wollen, ein Russland, das, wie ich sagte, sich an der Globalisierung mit beteiligt und das den Anschluss an Europa sucht und das tatsächliche eine Rechtskultur und einen Rechtsstaat schafft.

    Müller: Wie ist das mit Blick auf die Administration, auf die Eliten, auf die Militärs, auf die anderen Politiker?

    Rahr: Viele Eliten in Russland wollen, natürlich auch noch Teile der Sowjetunion, obwohl nicht im ideologischen Sinn, weiter erhalten bleiben, Russland als Staat, Nationalstaat, Russland auch in Gegnerschaft mit Westen. All das sind natürlich Wünsche, die noch existieren in den Köpfen vieler Menschen, die glauben, Russland kann nur durch seine Autarkie überleben als Machtpol. Man will Russland natürlich wieder stärker sehen und glaubt, dass das nur auf diese Art und Weise passiert und nicht eben in Zusammenarbeit mit dem Westen. Das sind grundsätzliche, nicht Machtkämpfe, aber schon unterschiedliche Sichtweisen in der Elite, die es heute noch gibt. In zehn Jahren wird die Sache, glaube ich, anders aussehen.

    Müller: Bei uns heute Mittag im Deutschlandfunk Alexander Rahr, Russland-Experte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Vielen Dank für das Gespräch und auf Wiedersehen!

    Rahr: Auf Wiederhören, Herr Müller!