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Es ist nicht "einfach, die Roma zu integrieren"

Die Ausweisung von Roma brachte Nicolas Sarkozy beim französischen Wähler Punkte - kann aber ein EU-Strafverfahren nach sich ziehen. Sylvie Goulard weiß um die Schwierigkeit, Roma zu integrieren - mahnt aber: Keine Volksgruppe darf diskriminiert werden.

Sylvie Goulard im Gespräch mit Silvia Engels | 15.09.2010
    Silvia Engels: Gestern hat die EU-Justizkommissarin Viviane Reding scharfe Töne gegenüber Frankreich angeschlagen. Im Zusammenhang mit der seit Wochen umstrittenen französischen Ausweisungspolitik von Roma nach Bulgarien und Rumänien drohte sie der französischen Regierung ein Strafverfahren an. Die französische Regierung reagierte nach eigenem Bekunden erstaunt auf den Vorstoß. Gestern Abend sprach mein Kollege Matthias von Hellfeld mit der französischen Europaabgeordneten Sylvie Goulard. Er fragte sie, warum die Niederlassungsfreiheit, die in der EU ja auch für Roma gilt, in Frankreich irgendwie anders gesehen wurde.

    Sylvie Goulard: Das ist eine sehr schwierige Frage, weil einerseits gilt das Recht für alle und inklusive die Roma und die Leute, die über keine Mittel verfügen, und ich bin mit dem Europäischen Parlament vollkommen einverstanden, was heute in Frankreich passiert ist nicht akzeptabel. Andererseits sind das Themen, die man auch nicht instrumentalisieren darf, und ich wünsche mir etwas Ruhe in dieser demokratischen Debatte, was zurzeit ein bisschen fehlt, muss ich sagen.

    Matthias von Hellfeld: Ich muss einmal noch zurückkommen sozusagen auf diese Anweisung aus dem Innenministerium, nach der Roma-Lager bei der Auflösung und auch bei der Abschiebung "Vorrang" haben sollten. Ist das nur eine intellektuelle Entgleisung oder eine Formulierungsproblematik gewesen, oder muss man befürchten, dass da doch ein Menschenbild hinter steht, dass wir eigentlich überwunden glaubten?

    Goulard: Ich befürchte mit Ihnen, dass diese Weisungen vom Innenministerium nicht besonders die Menschenwürde respektieren und es geht nicht in die richtige Richtung. Es ist vollkommen klar: Als Gruppe dürfen Menschen nie diskriminiert werden in Europa.

    von Hellfeld: Ich gehe mal davon aus, dass die Lebenssituation von Roma-Familien in den aufgelösten Lagern nicht besonders angenehm gewesen ist, aber das Leben für Roma in Bulgarien und Rumänien ist es noch weniger. Das hat die Regierung in Kauf genommen, das wissen sie doch!

    Goulard: Ja! Ich glaube, der Vergleich hat wenig Sinn. Dass die Lebensbedingungen unterschiedlich sind von einem Mitgliedsstaat der Europäischen Union zu einem anderen, das ist klar. Nur: Das Problem liegt auch darin, dass man unter dem Stichwort Roma viele Leute einbezieht. Sie kommen nicht alle von Rumänien und Bulgarien, es gibt auch viele mit der französischen Staatsangehörigkeit oder Leute, die zwischen verschiedenen Ländern Europas leben. Also ich glaube, dieser Vergleich ist ein bisschen zu kurz.
    Die Lösung wird nur mit allen Ländern Europas zu finden sein. Das heißt, die Länder, aus welchen ein Teil von den Roma kommen, und auch die Länder, die wie Italien, Frankreich, Deutschland eher als Ziel dieser Reise sind. Aber das Problem in Frankreich zurzeit ist eben die Verallgemeinerung.

    von Hellfeld: Werden denn in Frankreich Aktionen oder Aktivitäten unternommen, um die Situation der Roma in Frankreich selbst etwas zu verbessern?

    Goulard: Ja, das ist ein Ziel und das erfordert sehr viel Mühe und Geduld. Man darf auch nicht vereinfachen. Es ist nicht einfach, Menschen zu integrieren, die anders leben wollen, und ich glaube, dass jeder Politiker, der ein bisschen verantwortlich agieren will, nicht sagen kann, es ist einfach, die Roma zu integrieren. Ich weiß, in Deutschland gibt es auch eine Debatte über Ausländerintegration. Es ist überall kompliziert. Insofern unterstütze ich auf keinen Fall, was die französische Regierung jetzt macht. Ich würde aber auch empfehlen, dass man auch nicht zu einfach mit diesem Thema spielt, indem man das Gefühl gibt, einfache Lösungen sind auch überall zu finden.

    von Hellfeld: Es ist heute in der Debatte das Stichwort "Vertragsverletzungsverfahren" gefallen. Was bedeutet das und welche Sanktionen könnten daraus für Frankreich erwachsen?

    Goulard: Wissen Sie, die EU ist eine Rechtsgemeinschaft und die Kommission macht ihre Arbeit, wenn sie sagt, wenn ein Land gegen die europäischen Regelungen verstößt, darf man das nicht akzeptieren, und ein Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof, die erste Phase zwischen der Kommission und diesem Land, wird angefangen. Das ist auch nicht etwas Außerordentliches und ich meine, die Überreaktionen von jeder Seite sind nicht besonders hilfreich. Frankreich muss es akzeptieren, dass in einer Rechtsgemeinschaft die Nachbarn und auch die Europäische Kommission sich einmischt, es ist auch normal, dass der französische Staat seine Meinung gibt, und dann kann man in Ruhe sehen, wer hat recht, wer hat nicht recht, wo die Verletzungen jetzt sind. Aber die Art und Weise, wie die französische Seite reagiert hat, vereinfacht auch nicht die Lösung dieses Problems.

    von Hellfeld: Nikolas Sarkozy steht innenpolitisch unter starkem Druck. Es könnte ja sein, dass er mit dieser etwas harten Linie möglicherweise punkten wollte. In den Umfragen ist ihm das auch gelungen, viele Menschen stimmen ihm also zu. Geht die Politik gegenüber den Roma jetzt so weiter?

    Goulard: Wissen Sie, ich fürchte diese Art von Populismus. Fast überall in Europa ist es sehr, sehr einfach mit dem Motto für Ordnungswut aus Brüssel. Ich sage das extra auf Deutsch. Damit kann man auch sehr viel Echo in der Bevölkerung finden. Das hilft nicht! Und noch dazu Populismus mit einer Bevölkerung oder mit einem Teil der Bevölkerung, die nicht besonders beliebt ist, die manchmal Probleme stellt, das ist auch sehr einfach. Das heißt, wir haben alle Elemente einer populistischen Instrumentalisierung dieses Themas. Das halte ich für falsch. Wir müssen einfach die Fakten sehen, die Rechte in der Europäischen Union verteidigen, also vor allem von den Leuten, die am schwächsten sind in der Gesellschaft, aber vor allem versuchen, die Dinge zu beruhigen. Wie Sie sagen: wenn die innenpolitischen Elemente sich einmischen, kann man das schlimmste fürchten.

    Engels: Die französische Europaabgeordnete Sylvie Goulard im Gespräch mit meinem Kollegen Matthias von Hellfeld.