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"Es kann Überraschungen geben"

Für den Publizist Warnfried Dettling sind Umfragen deutlich weniger aussagekräftig als vor 20 oder 30 Jahren. Die Wähler entschieden sich immer später, wen und ob sie überhaupt wählten.

Warnfried Dettling im Gespräch mit Friedbert Meurer | 23.09.2009
    Friedbert Meurer: Vielleicht waren es die Landtagswahlen am 30. August, die den Wind etwas gedreht haben. Spätestens aber seit dem Fernsehduell vermelden die Meinungsforschungsinstitute, dass die SPD vor der Bundestagswahl aufholt. Gibt es vielleicht wieder eine Sensation wie vor vier Jahren? Es könnte jedenfalls knapp werden für eine Koalition von Union und FDP. Vielleicht entscheiden letztendlich die sogenannten Überhangmandate. – Warnfried Dettling in Berlin ist Publizist, zu Zeiten von Helmut Kohl war er lange Jahre Leiter des Planungsstabs und der Politik im Konrad-Adenauer-Haus. Guten Tag, Herr Dettling.

    Warnfried Dettling: Hallo! Guten Tag, Herr Meurer.

    Meurer: Haben Sie den Eindruck, da wird mancher bei der Union im Moment nervös, wenn er die Zahlen sieht?

    Dettling: Ja, das ist schon richtig, dass mancher bei der Union nervös wird, und das hat die Gründe darin, dass einmal die beiden Lager relativ nah beieinander liegen, ganz klar: CDU, CSU und FDP so bei 48 Prozent und die anderen Parteien, Grüne, Linke und SPD, bei 47. Das ist sehr, sehr knapp. Dann ist es eben so, wie Sie gesagt haben, dass CDU/CSU noch die Erfahrung von vor vier Jahren in den Knochen steckt, wo sie ja lange Monate gewissermaßen über 40 Prozent lag und dann hauchdünn vorne war. Und was halt schwerer wiegt: Die Umfragen sind immer weniger genau. Das heißt, die Umfragen sind nicht mehr so zuverlässig wie vor 20, 30 Jahren. Das hat viele Gründe. Das hat einmal technische Gründe. Bei Telefonumfragen erreicht man viele Leute gar nicht mehr, weil sie keinen Festnetzanschluss mehr haben, und das sind einmal die, die sich das nicht leisten können, also die am unteren Rand der sozialen Skala, und dann die hochmobilen, intelligenten modernen Berufsgruppen, die brauchen kein Festnetz mehr, und das sind die volatilen Wähler. Der politische Grund ist, dass die Wähler sich immer später entscheiden, wen sie wählen, ob sie überhaupt wählen wollen. Jetzt ist ein Drittel, ein gutes Drittel noch unentschlossen und schwankt zwischen den Parteien hin und her. Also es kann Überraschungen geben.

    Meurer: Wieso wechselt der Trend sozusagen wieder auf der Schlussgeraden?

    Dettling: Das ist die Frage, warum er auf der Schlussgeraden wechselt. Einmal muss man ja sagen, dass dieser Wahlkampf die Wähler beider Parteien, der SPD und der CDU, nicht sehr mobilisiert hat. Das hat seine Gründe einmal in den Spitzenkandidaten. Die Spitzenkandidaten sind Repräsentanten des pragmatischen Politikstils, die es nicht so mit Weltanschauungen haben, auch nicht mit Grundsatzprogrammen und so weiter, sondern die die Probleme lösen. Das gilt sowohl für die Kanzlerin als auch für den Kanzlerkandidaten.

    Das Zweite ist: In den Augen der Wähler macht die wahrscheinliche Koalition, die am Ende herauskommt, keinen so großen Unterschied, ob das nun die Große Koalition ist, die wahrscheinlich wird, wenn schwarz/gelb keine Mehrheit hat, oder eben ein Bündnis von Union und FDP. Da gehen die Leute nicht mit großen Erwartungen, aber auch nicht mit großen Befürchtungen ran. Sie sagen, es wird schon einigermaßen die Krise bewältigt werden und wir hoffen sowieso nicht mehr so viel von der Politik. Also geringe Erwartungen an die beiden wahrscheinlichen Koalitionen.

    Meurer: Nun hat ja die Kanzlerin die ganze letzte Zeit sehr hohe Popularitätsraten für sich vereinnehmen können. Wenn man jetzt den Zahlen glaubt, sind die doch recht deutlich zurückgegangen. Woran könnte das liegen?

    Dettling: Der Punkt ist der, dass Frau Merkel im Grunde als Person hohe Sympathiewerte hat, aber zwischen Sympathiewerten, die gemessen werden, und der Tiefe der Bindung an eine Person, die dann auch auf die Partei überspringt, das sind ja ganz unterschiedliche Dinge. Also wir haben eine gewisse Entkoppelung zwischen den Sympathiewerten für eine Person. Das merkt man bei Frau Merkel ganz deutlich, dass sie sich nicht überträgt auf die Partei. Und früher hatten wir eine Entkoppelung zu Gunsten der CDU/CSU, als Helmut Kohl bei Sympathiewerten immer relativ schlecht abgeschnitten hat. Also es ist so, dass die Leute im Grunde mit dem Politikstil von Frau Merkel, auch etwas undramatischer Politikstil, nicht mehr in Schlachten ziehen und den Untergang des Abendlandes oder der Republik dämonisieren. Das finden die Leute ganz gut, aber in bestimmten Milieus der CDU ist ihnen doch die Frau Merkel auch, ich sage es mal ganz, ganz einfach, zu wenig katholisch, zu wenig konservativ und neuerdings auch zu wenig wirtschaftsliberal.

    Meurer: Wenn wir auf einen Punkt schauen, der da heißt Überhangmandate. Angenommen, am Sonntag entscheidet sich die Wahl mit Hilfe von Überhangmandaten zu Gunsten der Union und der FDP, wie sehr würde das sozusagen als Schatten auf einem schwarz-gelben Wahlerfolg liegen?

    Dettling: Ich denke, da muss man zweierlei unterscheiden. Der eine Punkt ist der, dass Überhangmandate die logische Konsequenz aus unserem Wahlsystem sein können. Das heißt, unser Wahlsystem, wie es der Gesetzgeber gewollt hat und auch die meisten Deutschen wohl wollen, ist eine Kombination zwischen Verhältniswahl und Mehrheitswahl, eine personalisierte Verhältniswahl. Da kann es eben sein, wenn eine Partei in Baden-Württemberg alle Direktmandate – ich übertreibe jetzt – gewinnt, aber nur ein Drittel der Wähler, dass dann irgendwie der Zusammenhang nicht stimmt. Das heißt, die Zweitstimme entscheidet, wie stark eine Partei im Parlament vertreten ist. Das ist die eine Sache, gewissermaßen die rechtliche und auch die systemnormative Seite.

    Die andere, die politische Seite wäre natürlich die, dass die SPD sofort und auch die Linkspartei und alle, die unterlegen sind, dies zum Anlass nehmen, gewissermaßen eine Delegitimationskampagne zu starten und sagen, diese regierende Koalition hat nicht die Mehrheit der Wähler, sondern kam aufgrund undurchsichtiger Machenschaften an die Macht, denn das Wahlsystem ist ja auch schwer zu durchschauen. Also es wäre die erste Kampagne gegen eine schwarz-gelbe Koalition, weil man in Deutschland nicht gewohnt ist wie in England, wie in Amerika, dass man auch mit der Minderheit der Wähler eine Mehrheit im Parlament haben kann.

    Meurer: Nur ganz kurz, Herr Dettling. Wenn die Union 20 Überhangmandate bekommt und eine Stimme Mehrheit hat, macht Frau Merkel dann schwarz-gelb?

    Dettling: Ja nun, das ist ihre Aussage bisher, aber es kann sein, dass man dann noch mal darüber nachdenkt. Ich glaube, dass der Druck aus der Partei dann sehr stark sein wird, das trotzdem zu versuchen und zu hoffen, dass man das durchsteht, aber andererseits der Druck aus der Öffentlichkeit auch massiv sein wird und wahrscheinlich in dem von Ihnen geschilderten Fall nicht nur auf SPD, Linkspartei und Grüne, sondern auch auf die Öffentlichkeit mit einbezieht. Dann ist der Ausgang offen. So würde ich sagen.

    Meurer: Der Publizist Warnfried Dettling im Deutschlandfunk. Danke schön und auf Wiederhören.

    Dettling: Bitte sehr.

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