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"Es muss sich jemand einmischen"

David Gelernter wird als Universalgelehrter bezeichnet: Er ist Computerwissenschaftler, Künstler und Philosoph. Die Programmiersprache Linda wurde von ihm entwickelt und viele technische Entwicklungen vorausgesagt, die später eingetreten sind.

David Gelernter im Gespräch mit Oliver Kranz | 27.02.2012
    Oliver Kranz: Herr Gelernter, Ihr Name klingt sehr deutsch. Haben Sie deutsche Vorfahren?

    David Gelernter: Ja, sie lebten in Hamburg – eine Mischung aus Deutschen und Einwanderern aus Osteuropa. Der andere Zweig unserer Familie sind Amerikaner aus dem Süden der USA.

    Kranz: Haben Sie nie daran gedacht, Deutsch zu lernen?

    Gelernter: Ich kann es nicht sprechen, aber finde es wichtig, wenigstens Deutsch zu lesen. Ich kann Hölderlin, Heine oder Goethe nicht auf Englisch lesen.

    Kranz: Sie haben schon vor Jahrzehnten gesagt, dass der Computer auf dem Schreibtisch eher ein Hindernis ist als ein nützliches Arbeitsmittel. Jetzt gibt es Unternehmen, die diese Clouds anbieten – Informationen, die zentral auf einem Server gespeichert sind und die man von überall auf der Welt mit einem Computer oder Mobiltelefon abrufen kann. Das Wort Cloud (also Wolke) haben Sie nicht benutzt, aber ist das das, was Sie sich vorgestellt haben?

    Gelernter: Ja, das ist genau das, was wir uns vorgestellt haben. Schon in den 80er-Jahren habe ich nach Wegen gesucht, wie Computer als Netzwerk kommunizieren können. Ich dachte, dass es besser sei, Nachrichten nicht von Computer zu Computer zu verschicken, sondern von einem Computer in die Cloud. Wir haben das damals den Tuple Space genannt. Da umschwebt uns alles, und wenn ich eine Information brauche, kann ich sie mir holen.

    Kranz: Sie sagen: "kleine Probleme, wie die Sicherheit, werden gelöst werden." Aber wenn ich als Nutzer meine Daten einem privaten Unternehmen zur Verfügung stellen soll, da muss ich schon sehr sehr viel Vertrauen haben…

    Gelernter: Sie brauchen wirklich viel Vertrauen, wenn Sie Ihre privaten Informationen herausgeben sollen. Man weiß ja, wie viele Informationen Google sammelt, in manchen Fällen sogar ohne Einverständnis der Nutzer. Aber das Problem sind nicht nur die Unternehmen, die alle Informationen sammeln, die sie kriegen können, sondern auch die Internetnutzer. Es gibt unter jungen Leuten eine bemerkenswerte Bereitschaft, Details über ihr Privatleben öffentlich zu machen. Ich glaube nicht, dass das gut ist, aber es gibt eine Art Einverständnis zwischen den Nutzern und den Unternehmen, mit dem Ziel die Privatsphäre im Internet zu zerstören und damit Geld zu verdienen.

    Kranz: Es gibt Beispiele von Leuten, die auf Facebook zu einer Party eingeladen haben und auf einmal mit Tausenden von Gästen konfrontiert waren.

    Gelernter: Das fing schon mit den Webcams an in den späten 90er-Jahren. Da hat es Leute gegeben, die rund um die Uhr Fotos von sich veröffentlicht haben. Ich fand das bizarr, aber viele Leute haben das gemacht. Und das war nur das erste Zeichen dafür, dass eine Generation heranwächst, die ihre Privatsphäre nicht so wichtig nimmt, wie die Generation der Eltern.

    Kranz: Wenn es wirklich eine Generationsfrage ist, dann sieht die Zukunft düster aus.

    Gelernter: Ich glaube, die Zukunft ist düster, wenn wir nicht darüber nachdenken und darüber diskutieren. Ich finde, die Öffentlichkeit ist viel zu passiv, wenn es um Fragen von Technologie geht. Die Menschen sind immer nur begeistert, wenn neue Geräte auf den Markt kommen, kaum einer fragt, wie sie den Charakter der Gesellschaft verändern. Sind wir wirklich zufrieden, wenn unsere Kinder Partyeinladungen im Internet veröffentlichen? Ich würde das meinen Kindern nicht erlauben. Sie würden es auch nicht tun. Aber es gibt viele Leute, die sagen: "Die Kinder verstehen mehr von Computern als wir, da mischen wir uns nicht ein." Aber es muss sich jemand einmischen. Und das wird nicht Google sein. Die Verantwortung liegt bei den Vätern und Müttern, die ihren Kindern kein Gefühl für ihre Privatsphäre und Würde vermitteln. Ich hoffe das ändert sich.

    Kranz: Ich habe Sie jetzt viel über Computer gefragt. Natürlich: Computer sind Ihr Hauptwissensgebiet. Aber ich glaube, am Beginn Ihrer Karriere haben Sie nicht daran gedacht, dass Sie einmal auf diesem Gebiet arbeiten würden. Zuerst wollten Sie Religion studieren…

    Gelernter: Ich habe mich immer für die Berührungspunkte von Religion und Kunst interessiert. Ich habe immer gemalt und war fasziniert von der jüdisch-christlichen Tradition.

    Kranz: Aber sie haben Computerwissenschaft als Studienfach gewählt…

    Gelernter: Ich glaubte, dass ich - wenn meine Arbeit als Künstler nicht kommerziell sein sollte – ein zweites Standbein brauchte. Die Computerwissenschaft hielt ich für eine durch und durch praxisorientierte und nützliche Fachrichtung. Sie ist natürlich nicht im Entferntesten so praxisorientiert und nützlich, wie ich dachte, aber das konnte ich ja nicht wissen. Es war das Fach, das am weitesten von meinen eigentlichen Interessen entfernt war.

    Kranz: Normalerweise sind Computerwissenschaftler diese Nerds, die Stunden vorm Computer sitzen und schon ganz blass im Gesicht sind, weil sie kaum nach draußen gehen. War das jemals Ihr Selbstbild?

    Gelernter: Ich hoffe nicht. Aber Sie haben recht: Das Programmieren am Computer hat etwas Hypnotisches. Man wird in den Prozess hineingezogen und findet immer noch etwas, was man verbessern kann. Im Bereich Software kann ein einzelner Mensch unglaublich komplizierte Maschinen bauen - viel komplexer und leistungsfähiger, als im handwerklichen Bereich. Das ist faszinierend, und obwohl ich heute nicht mehr in diese Kategorie falle – ich habe das hinter mir gelassen – denke ich, wir stehen bei den Nerds tief in der Schuld, weil sie so viel wertvolle Software entwickelt haben.
    Ich bin also im Zwiespalt: Auf der einen Seite wünschte ich, die Industrie würde nicht von Techniknerds geführt werden, sondern von Leuten, die sich hinsetzen und über das große Ganze nachdenken, anderseits habe ich als Mitglied der westlichen Gesellschaft viel von der ökonomischen Produktivität dieser hypnotisierten Menschen profitiert.

    Kranz: Das Merkwürdige ist: Sie beschäftigen sich mit Computern, aber Sie mögen sie nicht...

    Gelernter: Das stimmt. Die Erfolge, die ich auf dem Gebiet Computer habe, haben alle damit zu tun, dass ich Computer eigentlich nicht mag. Ich spiele nicht gern mit Computern, ich verliere nicht gern Zeit, um herauszufinden, wie Software funktioniert. 30 Sekunden sollten genügen, um ein Programm zu verstehen. Wenn es länger dauert, dann beschäftige ich mich lieber mit etwas anderem. Ich finde, Software sollte für Leute wie mich gemacht sein.

    Kranz: Sie haben viele Entwicklungen der Computerwissenschaft vorausgesagt und Ihre Prognosen sind oft wahr geworden. Was erwartet uns in der nächsten Zukunft?

    Gelernter: Viele Dinge liegen auf der Hand. Man braucht keine besondere Intelligenz um sie vorherzusagen. Zum Beispiel das Verschwinden der Universitäten und der Aufstieg der Internetuniversitäten. Das geschieht bereits. Sehr wichtig ist auch, dass die Struktur des Internets sich ändern wird. Das Web wird nicht mehr wie ein Spinnennetz aufgebaut sein mit Websites, die durch Links verbunden sind. Diese Struktur ist einfach chaotisch und führt zu einer chaotischen Sicht der Welt. Ich glaube, wir werden immer mehr organisierte Information haben in Streams – die in der Form von Geschichten oder zeitlich geordnet sind: Zuerst geschah das, dann das. Das ist die natürliche Art, in der der Mensch sein Wissen ordnet. Das Netz wird also mehr und mehr aus Streams bestehen. Man wird auch nicht mehr vom Netz sprechen, weil das irgendwann keinen Sinn mehr ergibt. Man wird eher vom World Stream reden. Aber es ist leicht, Dinge vorauszusagen, die schon begonnen haben.