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"Es musste wirksam und billig gehen"

Ewalds Rücktritt, Sammers Wechsel, Maskes Schlingerkurs - das Wendejahr 1990 startet mit zahlreichen spektakulären Ereignissen. Doch der Sport war Nebensache in dieser revolutionären Phase.

Von Jens Weinreich | 17.01.2010
    Das Jahr 1990 beginnt mit dem Rücktritt von Manfred Ewald als Präsident des Nationalen Olympischen Komitees der DDR. Ewald, seit den 50er- Jahren Chefstratege des Sportwunders und auch Chefarchitekt des DDR-Dopingsystems, hatte schon 1988 seinen Posten als DTSB-Präsident abgeben müssen. Damals noch auf Befehl der Partei. Im NOK fegten ihn nun die politischen Veränderungen hinweg - wenngleich das DDR-NOK bis zum Schluss, bis zur Verschmelzung mit dem NOK für Deutschland, von Altkadern geprägt wurde, auch nach Manfred Ewald. So wurden später, im November 1990, beispielsweise einige Stasi-Mitarbeiter und Doper als Persönliche Mitglieder ins gesamtdeutsche NOK kooptiert.
    Doch selbst der Abgang von Manfred Ewald sorgte im Januar 1990 nicht für große Schlagzeilen. Es blieb dabei: Sport war Nebensache in dieser revolutionären Phase, den letzten Monaten der DDR. Die Bürgerbewegung war an den Runden Tischen und mit der Stasi-Auflösung ausgelastet. Mitte Januar wurde in Berlin die Stasi-Zentrale in der Normannenstraße besetzt:

    "Stasi in den Tagebau, Stasi in den Tagebau ...”"

    Die Regierung Modrow hatte kein Interesse daran, Machenschaften im DDR-Sport aufzudecken. Niemand leitete Untersuchungen ein, auch nicht nach detaillierten Eingaben von Insidern: So schickte ein Sportarzt aus Zinnowitz am 19. Januar 1990 eine Petition an Hans Modrow und erhob strafrechtlich relevante Vorwürfe gegen zahlreiche Mitarbeiter des Sportmedizinischen Dienstes der DDR (SMD). Er verlangte, dass die Verantwortlichen zu Rechenschaft gezogen werden, nannte Namen und beschrieb das Dopingsystem ausführlich:
    ""Es musste schnell, billig und wirksam gehen, bekannte gesundheitliche Schäden wurden in Kauf genommen."

    ""Jugendliche wurden "unwissentlich mit den als unterstützende Mittel bezeichneten Dopingmitteln von zentraler Stelle aus versorgt"."

    Über das Thema sollte erst zwei Monate später nachhaltig öffentlich debattiert werden, nach großen Geschichten im "Spiegel" und im "Stern". Im Januar aber wurden von Modrow und vom Amt für Jugend und Sport die Architekten des Dopingsystems noch gewarnt. Zur Eingabe des Sportmediziners schrieb etwa SMD-Direktor Dietrich Hannemann persönlich eine Stellungnahme voller Lügen, wie Potsdamer Sporthistoriker um Hans-Joachim Teichler Jahre später in den Akten recherchierten. Mit Hannemanns Lügen-Pamphlet war das Thema erledigt. Vorerst.
    Mitte Januar wird der Wechsel von Matthias Sammer zum VfB Stuttgart bekannt gegeben. Nichts wirklich Neues, denn prominente Sportler wechseln täglich in den Westen. Der Running-Gag dieser Wochen aber bleibt: Einmal mehr erklärt Olympiasieger Henry Maske, Profiboxer werden zu wollen - einmal mehr lehnt die Führung des DDR-Amateurboxverbandes Profiboxen ab.
    Neu ist in jenen Tagen, dass nun auch Trainer abgeworben werden: Konrad Winkler, zweimaliger Weltmeister in der Nordischen Kombination, war Anfang Januar der erste - er wurde Bundestrainer des Deutschen Skiverbandes (West). Einige Tage später gehen zwei Fechttrainer nach Tauberbischofsheim.
    Der so genannte Arbeitsausschuss des DTSB versucht gemeinsam mit dem Amt für Jugend und Sport zu retten, was nicht mehr zu retten ist. Die Strukturen brechen zusammen.
    Ab Mitte Januar schlägt das Imperium noch einmal propagandistisch zurück. Es werden zahlreiche Sportler-Demos organisiert. Die Sorgen um die Zukunft des DDR-Sports bestimmen auch die Diskussion beim zweiten Runden Tisch des Sports am 31. Januar 1990. Am selben Tag gründet sich ein Bürgerforum für die Olympischen Spiele 2000 in beiden Teilen Berlins.