Dienstag, 16. April 2024


Es war noch nie so leicht, "Sozialist" zu sein

Meine Freunde haben es gerade nicht leicht mit mir. Überall, wo ich hinkomme, tausche ich ein paar Höflichkeiten aus und starte dann meine Offensive: What do you think about these elections?

Von Nana Brink | 30.10.2012
    Meistens warte ich gar nicht ab, bevor einer seine Tortilla Chips in den Dip getaucht hat, bevor ich vorpresche: Who's gonna win? And why? Die meisten grinsen dann, antworten nett und fragen mich nach meiner Familie. Eine sehr gute Freundin konnte es sich allerdings nicht verkneifen, zu bemerken, diese Vorgehensweise sei wiedermal typisch deutsch – ich übersetze das jetzt frei: "Komm auf den Punkt, und zwar in zwei Minuten!". Ausrufezeichen! Sie spricht das Ausrufezeichen sogar mit.

    Apropos typisch deutsch. Ich entdecke gerade meine sozialistische Seite an mir. Ja, ohne Witz! Und das ohne nachweisbare Rotlichtbestrahlung in Ostberliner Erziehungseinrichtungen oder einschlägige Vergangenheit in Westberliner Kommunen. Ich muss auch gar nicht argumentieren. Meine sozialistische Ader wird quasi schon vorausgesetzt. Das war mir neu. Und es hat angeblich mit meinem Deutschsein zu tun.

    Wie das geht? Ganz einfach. Ich muss nur das Wort "Krankenversicherung" in den Mund nehmen. Oder besser "Obamacare", jener Versuch der derzeitigen Regierung, irgendwie das Problem von 40 Millionen Menschen ohne Gesundheitsvorsorge zu lösen. Besagte Freundin, bekennende, aber eigentlich immer selbstkritische Republikanerin, blickt mich dabei an, als hätte ich gerade einen der Gründerväter der amerikanischen Verfassung beleidigt. "Purer Sozialismus" sagt sie verärgert. "Das könnt Ihr vielleicht in Deutschland machen. Aber seit wann entscheidet der Staat, was ich zu tun und zu lassen habe"! Und dann kommt es, das amerikanische Ausrufezeichen. Da hört der Spaß aber auf!

    Als Sozialistin muss ich jetzt gar nichts weiter sagen. Ich muss nur in die Runde blicken. Und zuhören. Die Freundin, übrigens völlig unverdächtig, mit den Tea-Party-Neurotikern zu sympathisieren, hält den "Wohlfahrtstaat" für ein Grundübel. Ein sozialistisches Grundübel. Eigentlich müsste ich jetzt so gucken, als hätte sie unsere Religion der Sozialen Marktwirtschaft mal eben so in die Tonne getreten. Bevor ich dazu komme, mischt sich ein Freund ein, der schon vor vier Jahren für die Obama-Kampagne gearbeitet hat. Ganz ernsthaft erklärt er der Runde, wie viel Mühe er sich gibt, jeden Anflug zu vermeiden, die Demokraten würden mit "sozialistischem Gedankengut" liebäugeln. "Das erzähle ich jedem auf der Straße!". Das ist es wieder, das Ausrufezeichen!

    Bis dato war mir nicht klar, dass Amerika eine Sozialismus-Debatte hat. Und das es so einfach ist, Sozialistin zu sein ...


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