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Esra

Als vor drei Jahren sein erster Roman Die Tochter erschien, lief der Schriftsteller Maxim Biller auf einer Tagung in Tutzing verbal Amok, verurteilte 95 Prozent der zeitgenössischen deutschen Literatur als Schlappschwanzliteratur und warb für sich und sein Buch. Nun kommt sein zweiter Roman heraus: Esra. Von Maxim Biller ist nichts zu hören. Und das passt zu diesem Roman, einer leisen Liebesgeschichte, so, wie der wütende Auftritt damals, dem wütenden Ton in "Die Tochter" entsprach. Gute Liebesgeschichten gehen nicht gut aus. Was man für sein eigenes Leben beklagen mag, ist für die Literatur ein Glücksfall. Ein Ende in banal saturierter Zweisamkeit wäre den Qualen aus aufgekratztem Trübsinn, verzweifelter Sehnsucht und abenteuerlustiger Verliebtheit einfach nicht angemessen. Außerdem fehlte vielen Schriftstellern, ganz ohne peinigende Abschiede, wohl schlicht das Motiv, sich an den Schreibtisch zu bewegen. Man denke nur an den berühmtesten unglücklich Liebenden der Literaturgeschichte, Goethes Werther. Erst wenn etwas schmerzvoll zu Ende geht, drängt es einen, sich im Rückblick Klarheit zu verschaffen.

Shirin Sojitrawalla | 23.02.2003
    Auch Maxim Billers Roman Esra ist ein Versuch, Klarheit zu erlangen, immer verbunden mit der vagen Hoffnung, die Wahrheit herauszufinden. Ein vergeblicher Versuch, ist die Wahrheit doch auch eine Frage des Blickwinkels. In "Esra" erzählt Maxim Biller, wie Adam es sieht. Adam ist sein Ich-Erzähler, Esra die Frau, die ihn vier Jahre lang emotional an die Kette legt. Adam kommt aus Prag, ist Jude und lebt in München als Schriftsteller, ganz wie der Autor selbst. Esra, eine asthmatische Tagträumerin, unstet und flatterhaft stammt aus der Türkei, ist frisch geschieden und Mutter einer todkranken Tochter. Esra ist Adams Obsession, die Frau, die er haben, ja richtiggehend besitzen möchte.

    Warum liebe ich Esra überhaupt? Wahrscheinlich, weil ich sie nicht bekommen kann. Natürlich ist sie schön, natürlich weiß sie, wie sie mich anfassen soll, natürlich reagiert sie genauso empfindlich wie ich auf jede Unregelmäßigkeit des Lebens und versteht mich dadurch besser als die meisten Menschen. Ich fühle mich außerdem in ihrer Nähe immer sehr ruhig, viel ruhiger als sonst, ich habe das Gefühl, es kann mir, wenn sie da ist, nichts passieren; und dass ich neben ihr tiefer und fester schlafe als allein, ist auch ein sehr gutes Zeichen. So ganz verstehe ich das alles dennoch nicht. Ich finde Esra, die nie liest und im Fernsehen nur Liebesfilme oder Klatschsendungen schaut, ziemlich langweilig, und ich kann mich an kaum ein ernstes Gespräch mit ihr erinnern, in dem sie, die Träumerin und Verdrängerin, nicht früher oder später von irgendwelchen lächerlichen Mondphasen, Ernährungsfehlern oder telepathischen Erfahrungen angefangen hätte.

    Adam ist von dieser Frau besessen und weiß nicht so recht warum. Indem er ihre gemeinsame Geschichte und das Leben von Esra aufdröselt, versucht er, sich Gewissheit zu verschaffen in einer Angelegenheit, in der es keine Gewissheiten geben kann. Adam bemüht sich, ein genaues Bild von Esra zu zeichnen. Dabei hat sie ihm ausdrücklich und vehement verboten, über ihre Geschichte zu sprechen, geschweige denn darüber zu schreiben.

    Es war für mich nicht einfach, mit Esras Angst vor dem geschriebenen Wort zu leben. Ich versuchte, mich in sie hineinzuversetzen und zu verstehen, woher ihre Empfindlichkeit kam. Wahrscheinlich war sie wie die meisten Menschen: Sie wollte nicht sehen, wie ein anderer sie sah. Das respektierte ich - weil sie es war. Gleichzeitig fand ich ihre Panik fast unangenehm kleinbürgerlich. Ich musste an den Skandal denken, den Thomas Mann erster Roman in seiner Heimatstadt Lübeck ausgelöst hatte, an die Wut der Lübecker auf ihn, die meinten, der Rest der Welt dürfe nicht wissen, wie es bei ihnen wirklich zuginge. Als ich während meines Studiums etwas darüber gelesen hatte, war ich natürlich auf der Seite Thomas Manns und der Freiheit der Literatur gewesen. Warum, dachte ich nun, sollte ich für Esras Engstirnigkeit Verständnis haben? Ich bin zwar niemand, der sich ständig Notizen macht und jede Sekunde seines Lebens für zukünftige Geschichten und Romane verplant - dennoch will ich nicht gesagt bekommen, worüber ich schreiben darf und worüber nicht. Das ist so, als nähme man mir die Luft zum Atmen.

    Und die möchte Adam sich nicht nehmen lassen, er respektiert eben nicht, dass Esra nicht sehen möchte, wie andere sie sehen, vielmehr er respektiert es nicht mehr. Da Adam und Esra am Ende des Romans kein Paar mehr sind, kann er sich an die Arbeit machen, ihre Geschichte aufschreiben, sie noch einmal erleben, um sie zu vergessen. Schreiben als Therapie. Da liegt der Gedanke nahe, dass dieser Roman eine Art Abrechnung sei. Jetzt, da er nichts mehr zu verlieren hat, traut sich Adam alles aufzuschreiben, jetzt, da er Esra nicht mehr liebt, verrät er sie. Doch es kommt keine Abrechnung dabei heraus, sondern eine Annäherung, der man anzumerken scheint, dass sich hier einer etwas vom Leibe beziehungsweise aus dem Schädel schreibt. Ein emotionaler Befreiungsschlag.

    In 73 kurzen Kapiteln, die manchmal nur eine Episode oder einen Moment wiedergeben, lässt Adam seine Beziehung zu Esra Revue passieren. Adam erinnert sich, um zu verstehen, so wie man sich nach einer Trennung erinnert - an markante Begegnungen, besondere Momente, denen im Rückblick eine Bedeutung zuteil wird, die sie nicht hatten, als man sie erlebte.

    Wir kauften uns in einem türkischen Obstladen ein Eis, und während wir ohne Ziel nebeneinander hergingen, fingen wir an, uns zu unterhalten. Wir erzählten uns, so wie man es am Anfang immer tut, unsere Lebensgeschichten. Ich hatte das in den Jahren davor schon häufiger mit anderen Frauen gemacht, und eigentlich haßte ich es. Ich kannte jedes meiner Worte im voraus. Ich wußte, dass ich früher oder später davon sprechen würde, dass ich den Weggang aus Prag bis heute nicht wirklich überwunden hatte, und natürlich würde ich sagen, ich fände es lächerlich, dass die Menschen vor lauter Selbstverliebtheit nicht mehr fähig seien, einen anderen ausdauernd zu lieben. Genau das alles erzählte ich Esra dann auch, aber es kam mir so vor, als hätte ich nie vorher darüber geredet. Sie erzählte ebenfalls sehr viel von sich, und es ging ihr, glaube ich, ähnlich wie mir. Irgendwann gab sie mir sogar mitten auf der Straße die Hand, und so schlenderten wir langsam zu mir nach Hause.

    Dass er sagt, sie habe ihm sogar mitten auf der Straße die Hand gegeben, verwundert. Dazu muss man wissen, dass Adam und Esras Beziehung einem Versteckspiel und einem Kampf gegen allerlei familiäre Widerstände gleicht. Frido, der Ex-Mann von Esra und einst einer der besten Freunde Adams, rast vor Eifersucht, verfolgt die beiden und setzt Tochter Ayla als probate Waffe im Kampf gegen den Neuen ein. Und auch Lale, die ebenso tyrannische wie depressive Mutter von Esra, von der Biller ein eindrückliches Porträt zeichnet, ist gegen die Verbindung. Die Liebe ist in Billers Roman nicht nur die Sache zweier Menschen, sondern eine komplizierte Familienangelegenheit. So changiert sein Buch auch zwischen Liebes- und zeitgemäßem Familienroman. Die Konflikte innerhalb der Familie thematisiert Maxim Biller sehr realistisch und mit großer Empathie. Über Esras Tochter Ayla schreibt er etwa:

    Mit sechs Jahren hatte sie miterlebt, wie ihr Vater gegen seinen Willen von Zuhause weggehen musste, ein paar Tage später zog ihre Mutter mit ihr zu einem anderen Mann. Sie sah plötzlich die Mutter im Bett eines Fremden, aber kurz darauf zogen sie wieder um, wieder zu einem Mann, und wieder funktionierte es nicht. Diesmal machte es die Mutter noch ein bisschen falscher, sie schickte Ayla nach einer Weile zur der Großmutter, blieb selbst aber bei dem neuen Freund. Dass ihre Mutter dabei nicht glücklich war, konnte Ayla nicht wissen. Sie konnte nicht ahnen, wie sehr es deren Herz zerriss, sie monatelang Abend für Abend bei der Großmutter ins Bett zu bringen und dann allein zu ihrem Liebhaber zu gehen. Das interessierte Ayla auch gar nicht. Sie versuchte nur mit aller Macht, die Mutter zurückzugewinnen. Und als sie es geschafft hatte, als Esra wieder allein war und mit ihr, Haus an Haus mit der Großmutter, in einer winzigen Einzimmerwohnung lebte, wo garantiert kein Platz mehr war für einen fremden Mann - da wusste sie, sie konnte, wenn sie wollte, die Erwachsenen immer dazu zwingen, das zu tun, was sie sich erträumte.

    So ist es wohl auch kein Zufall, dass das Mädchen in dem Moment krank wird, als die Beziehung ihrer Mutter zu Adam akut wird. Es ist die einzige Chance des Kindes, dagegen aufzubegehren. Und das Verhalten der Tochter beeinflusst auch das von Esra, wie auch Adams Tochter, die nicht bei ihm lebt, sein Verhalten maßgeblich beeinflusst.

    Die autobiografischen Bezüge zu Billers eigenem Leben sind offensichtlich. Mit seinem Ich-Erzähler erschafft er aber weniger ein Alter Ego als einen Prototypen. Nicht zufällig heißen er Adam und sie Esra, was vom Lautbild an Eva erinnert. Adam und Eva: die Stammeltern der Menschheit. Doch Maxim Biller geht es nicht um eine Aktualisierung des biblischen Stoffes wie Thomas Mann in seinen Joseph-Romanen, vielmehr möchte er wohl mit der Wahl dieser Vornamen die Allgemeingültigkeit der geschilderten Erfahrungen unterstreichen. Adam heißt übersetzt Mensch, und Esra ist ein gängiger türkischer Name. Außerdem findet sich ja auch der Name Esra im Alten Testament. Im Buch Esra wird unter anderem Treubruch der Mischehe thematisiert. Bei Biller, der sich in seinen Büchern immer wieder mit der deutsch-jüdischen Geschichte auseinandersetzt, denkt man da sofort an die im Dritten Reich gesetzlich verbotenen Ehen mit Juden. Aber auch der Heiratsantrag den Adam Esra macht, hätte eine solche "Mischehe" zur Folge. Adam ist tschechischer Jude, Esra Türkin und damit wahrscheinlich Muslimin. Heutzutage und hierzulande nicht so wichtig, könnte man meinen. Doch für Adam gibt es nichts, was er nicht in Betracht ziehen würde, um sich das Scheitern, aber auch das Besondere seiner Liebe zu Esra zu erklären. Nur so lässt sich seine Aufregung verstehen, als er in einem Zeitungsartikel etwas über die Dönme liest:

    Eines Tages stieß ich in der Jüdischen Allgemeinen auf einen Artikel über die Dönme. Die Dönme sind die Nachkommen von Schabbatai-Zwi, dem falschen Propheten, der im siebzehnten Jahrhundert den Juden Europas erfolgreich erzählt hatte, er sei der Messias und das Ende der Welt stünde kurz bevor. Dann geriet er in die Gefangenschaft des Sultans, und als der ihn vor die Wahl stellte, zu konvertieren oder zu sterben, trat Zwi, pragmatisch wie Juden nun mal sind, sofort zum Schein zum Islam über. Mit ihm konvertierten seine engsten Anhänger, und so entstand ein kleines, geheimes Volk, eine Gruppe von nicht mehr als ein paar tausend Leuten, die sich seit drei Jahrhunderten nach außen als Moslems und Türken gaben, unter sich aber weiter das Judentum praktizierten. Ich las den Artikel zu Ende - und fühlte mich wie jemand, der völlig unerwartet eine freudige Nachricht bekommen hat. (...) Ich war mir sicher: Esra entstammte einer Dönme-Familie und war Jüdin. Darum schien es uns von Anfang an so, als hätten wir uns schon vorher gekannt, darum gab es zwischen uns diese tiefe, verwandtschaftliche Verbindung.

    Esra indes interessiert die Dönme-Verwandtschaft kein bisschen. Sie sieht das Leben nüchterner und hat zudem mit ihrer kranken Tochter weit realere Sorgen. Adam aber sieht sich und Esra als das auserwählte Paar. Dass sie sich trafen war in Adams Augen kein Zufall. Esra scheint ihm die verlorengegangene Hälfte zur Vervollständigung seines Selbst zu sein. Das klingt natürlich schlimm romantisch und auch albern. Und später gibt Adam selbst zu, dass er bloß sentimental gewesen und auf "jüdischen Kitsch" hereingefallen sei.

    Dabei erzählt Billers Roman auch die Geschichte zweier Entwurzelter, die auf unterschiedliche Weise versuchen, Halt im Leben zu finden. Beide sind sie Emigranten, die in Deutschland leben. Sie fühlen sich nicht zugehörig, auch weil sie sich nicht zugehörig fühlen möchten. Dabei ist ihr Leiden an Deutschland aber nicht viel mehr als ein Spiel, eine überhebliche Attitüde, die jeder durchschnittlich kosmopolitische Deutsche ebenso drauf hat.

    Überhaupt waren Esra und ich uns dessen sehr bewusst, dass wir nicht wie die Deutschen waren. Wir sprachen oft darüber, vor allem, wenn wir schlechte Laune hatten, wir machten uns über die Förmlichkeit der Deutschen lustig, wir fanden sie unkameradschaftlich und egoistisch und ängstlich im Umgang mit Menschen, die sie als fremd empfanden. Es war uns klar, dass wir selbst anders waren - darum waren wir auch überzeugt davon, dass es uns in einem anderen Land viel besser ginge. Doch während Esra von einem eigenen Haus am Strand von Dilik und der warmen türkischen Sonne träumen konnte, wusste ich nicht einmal, wohin ich wollte. Früher hatte ich von New York geschwärmt, aber dort war ich lange nicht mehr gewesen. Israel kam auch nicht in Frage. Und Prag? Ich hatte es mit meiner Familie vor dreißig Jahren verlassen. Ich sprach zwar noch Tschechisch, auch mit meiner Tochter Stella, und meine Eltern hatten inzwischen wieder eine Wohnung in Prag, die nur ein paar Straßen von der Wohnung entfernt lag, wo ich groß geworden war. Trotzdem wäre mir eine Rückkehr nach so vielen Jahrzehnten absurd vorgekommen.

    Das Land zu verlassen, um woanders sein richtiges Leben zu leben, ist ein Traum, den Billers Figuren gerne nachhängen. Es ist ihre Flucht aus den Gegebenheiten des Lebens. Dabei sind die Figuren, die Biller in diesem Roman entwirft, in gewisser Weise typisch für ihn. Man kann sie als notorische Glückssucher bezeichnen, die sich nichts sehnlicher wünschen als ein Zuhause, ganz im Gegensatz etwa zu Judith Hermanns Figuren, die viel lieber unterwegs sind, als irgendwo anzukommen. Die Figuren verbindet, dass sie immer nur momenteweise ahnen, was überhaupt ihr Zuhause sein könnte. Natürlich könnte es ein anderes Land sein, aber eben auch eine Frau oder eine Familie. Doch alle diese Varianten bieten nur noch Heimaten auf Zeit, und meist kommen Billers Figuren nie dort an, wo sie sich hinsehnen. Wie etwa die chinesischen Flüchtlinge in seinem Theaterstück "Kühltransport", die auf ihrer Suche nach einem neuen Zuhause in einem Container ersticken. Wie Motti aus "Die Tochter", der vielleicht nie mehr wollte als eine Familie in der klassischen Dreieridylle aus Vater-Mutter-Kind. Und auch Adam und Esra wollen nur endlich ankommen. Warum Adam es nicht tut, schildert der Roman, ohne es erklären zu können.

    Dabei scheut sich Adam nicht über seine Gefühle zu reden, mögen sie auch noch so kindisch und unangemessen sein. Doch trotz des Fülle an Gefühl in diesem Buch wirkt alles sehr konzentriert. Es scheint kein Wort zuviel, und nicht ein Mal passiert es einem beim Lesen, dass ein Satz hakt oder stockt. Das liegt auch daran, dass Biller beeindruckend klar schreibt. Die sprachliche Klarheit bildet aber einen krassen Gegensatz zur inhaltlichen Rätselhaftigkeit. Auch das Geheimnis Esra bleibt, obwohl sich Adam auf mehr als 200 Seiten bemüht, diese Frau zu enträtseln. Dabei muss sich der Leser auf das verlassen, was Adam ihm erzählt, Esras Geschichte wäre wohl eine andere. Doch Biller geht es nicht um eine objektive Betrachtung, sondern um eine hemmungslos subjektive Recherche. So weist sein Roman auch nicht über sich hinaus, sondern bleibt der persönlichen Erfahrung Adams verhaftet. Herausgekommen ist auch ein trauriges Buch, das von der Alltäglichkeit wie Unmöglichkeit der Liebe erzählt. Präzise beobachtet und gestochen scharf formuliert ist es auch der Versuch, der Zumutung Liebe sprachlich habhaft zu werden.

    Wir umarmten uns. Ich weiß, es sind schon Tausende Umarmungen beschrieben worden. Trotzdem will ich jetzt davon sprechen, wie es war, diesen Menschen, der mir noch nie wirklich gehört hatte, in den Armen zu halten und für ein paar Augenblicke zu denken, er gehört mir doch. Und was war noch so besonders an diesem Moment? Esra war mir in den vergangenen zwei Monaten fremd geworden - so wie die eigene Wohnung, die man nach einer langen Reise das erste Mal betritt. Dennoch erkannte ich natürlich alles an ihr sofort wieder, ihren starken, weiblichen Geruch, ihre dünnen Lippen, ihre breiten Schultern, und von diesem jähen Wiedererkennen wurde mir schwindelig. Ich sah sie an und schüttelte den Kopf, und ich glaube, das tat sie auch. Wir standen ein paar Augenblicke lang schweigend in der Tür, und dann begann Esra meine Hose aufzuknöpfen. Sie fuhr mit dem Finger in meinen Bauchnabel, sie streichelte meinen Bauch. Ich machte ihre Hose auf, legte die Hand auf ihren Bauch, presste ihrer Brüste zusammen und ließ die Hand eine Weile auf ihrer Hüfte ruhen. Als sie meinen Schwanz in die Hand nahm, fuhr ich ihr zwischen die Beine. Eine Weile verharrten wir so, aber bald gingen wir ins große Zimmer und zogen uns aus. Ich zog mich ganz aus, sie behielt das Unterhemd an, und wir knieten uns - einander zugewandt - aufs Bett und streichelten und gegenseitig weiter. Nie vorher, geschweige denn in den letzten Monaten, als sie wegen Aylas Krankheit so verschlossen gewesen war, waren wir uns so nah gewesen. Wir waren uns näher als wenn wir miteinander geschlafen hätten, die Hand am Geschlecht des anderen war wie ein Versprechen, das man sofort erfüllt, wie eine Verbindung, die nie mehr unterbrochen werden kann. So ging es lange, sehr lange, aber nicht auf die Art, wie es manchmal ist, wenn man den Höhepunkt erzwingen will. Als wir kamen - wir kamen fast gleichzeitig -, stöhnte Esra sehr laut und schön.

    Zugegeben, das klingt ein wenig pathetisch, und ist mit Sicherheit auch so gemeint. Doch, wo sonst als in einem Liebesroman wäre Pathos am richtigen Ort? Gottfried Benns Diktum, dass man sein Material kalt halten müsse, macht sich Biller jedenfalls nicht zu eigen, und vielleicht hat er ja gerade deswegen einen mutigen Liebesroman geschrieben. Einen Liebesroman, der sich traut, einen emfindsamen Helden, einen gefühlvollen Intellektuellen, in den Mittelpunkt zu stellen. In einem Interview äußerte Maxim Biller einmal:

    Wahrscheinlich will ich beim Schreiben herausfinden, warum die, die ich kenne, so sind, wie sie sind und warum dann am Ende die Menschen so sind, wie sie sind. Vielleicht ist es das, und vielleicht ist das das Spannende daran, denn natürlich muss auch anspruchsvolle Literatur spannend sein. Man kann nicht sagen, nur Trivialliteratur soll spannend sein. Der Spannungsbogen, das Spannungsmoment, entsteht bei anspruchsvoller Literatur aus einem anderen Motiv heraus. Das ist wahrscheinlich die Suche nach uns selbst.

    Und genau das ist es, was diesen Roman vorantreibt. Die alte, immer wieder neu gestellte Frage, warum wir sind, wie wir sind. Dabei nähert sich Biller seinem Thema ohne Ironie. Ungeheuer ernsthaft lässt er Adam erzählen. Und das wirkt in einer Zeit, in der selbst Urlaubsgrüße nicht mehr ohne ironischen Unterton auskommen, geradezu erfrischend seriös.