Freitag, 29. März 2024

Archiv

Essayband von Eva Menasse
Gute Analysen der Literatur des 20. Jahrhunderts

In ihrem Essayband "Lieber aufgeregt als abgeklärt" sammelt Eva Menasse Erzählungen, Feuilletons und Aufsätze über wahlverwandte Autoren. Dabei erweist sie sich als eine genaue Leserin, die in die Feinheiten der Texte eindringend. In der Summe ist das aber - anders als der Titel verspricht - eher abgeklärt als aufgeregt.

Von Martin Krumbholz | 06.05.2015
    Die österreichische Journalistin und Schriftstellerin Eva Menasse.
    Die österreichische Journalistin und Schriftstellerin Eva Menasse. (picture alliance / dpa / Jens Kalaene)
    Eva Menasse wurde in Wien geboren, und obgleich sie inzwischen in Deutschland, natürlich in Berlin lebt, kann sie ihre Wurzeln nicht verleugnen. Wir haben es mit zwei Völkern zu tun, die nur vermeintlich die gleiche Sprache sprechen, und Menasse findet sich gewissermaßen notgedrungen in der Rolle einer bilateralen Versteherin wieder. Es ist fast rührend zu sehen, wie sie die Deutschen bei den Österreichern und die Österreicher bei den Deutschen entschuldigt. Ausgehend von der "leicht nazihaften Idee" der gelben Rauchervierecke auf Bahnhöfen, auf deutschen Bahnhöfen selbstverständlich, spricht die Autorin vom lobenswerten deutschen Perfektionsdrang, den sie dem österreichischen Hang zur Schlampigkeit konfrontiert; sie spricht von der "German Angst" als Nebenprodukt der deutschen Vernunft und andererseits vom Humor, der "das Beste an den Österreichern" sei:
    "Humor ist das Benzin der Kreativität, denn Humor bedeutet sozusagen, beim Denken zu schielen. Man denkt, aber gleichzeitig grimassiert man über das Denken hinweg. Das hält die Prozesse und die Synapsen offen."
    Der Österreicher, erklärt uns die Wienerin Menasse, liebe die Zweideutigkeit, überall seien Giftpfeile versteckt, während die Deutschen "ein angenehm transparentes Volk" seien, dessen Aussagen man für bare Münze nehmen könne. Von Lebenskunst allerdings verstehe der Deutsche herzlich wenig, er arbeite streng und gebe keine Ruhe:
    "Wo andere pfuschen und sich in pittoresken Provisorien einrichten, reißt er das Haus ab und baut es neu auf, ohne Schnörkel und Firlefanz, aber mit viel energiesparendem Dämmmaterial."
    Die Aufregung fehlt
    Menasses Typologien sind treffend, die Ironie ist wohldosiert, eines aber fehlt - im Widerspruch zum selbstgewählten Motto des Essaybandes: nämlich die Aufregung. "Menasses Typologien sind treffend, die Ironie ist wohldosiert, eines aber fehlt - im Widerspruch zum selbstgewählten Motto des Essaybandes: nämlich die Aufregung, weil sie den nach ihm benannten Preis erhalten hat. Ganz anders als etwa ein Rainald Goetz, der Böll und Grass als "präsenile Chefpeinsäcke" titulierte, weiß Eva Menasse den grundehrlichen Moralismus Heinrich Bölls glaubhaft zu würdigen:
    "Wer heute seine politischen Essays, seine Reden, seine Zwischenrufe, ja seine Leserbriefe liest, dem stockt der Atem vor so viel Angriffslust, sprachlicher Zuspitzung, triefender Ironie. Da ist ein heißer, kämpferischer Ton, ein Ton, den man heute kaum noch hört und liest, nicht einmal, wenn sich verfeindete Feuilletonisten beharken."
    Ja, mit Großväterchen Böll ist die 1970 Geborene spürbar warm geworden; in ihrer Laudatio auf den Landsmann Georg Kreisler zum Friedrich-Hölderlin-Preis dagegen lässt sie den Preispatron außen vor: zu diesem deutschen Dichter scheint ihr einfach nichts Passendes einzufallen. In ihren Aufsätzen zur Literatur konzentriert Menasse sich ganz aufs 20. Jahrhundert; und hier wiederum fast ganz auf den angloamerikanischen Sprachraum. Doch erweist sie sich in ihren Analysen als eine genaue, in die Feinheiten der jeweiligen Texte mit scharfem Verstand eindringende Leserin. Auch an Empathie fehlt es nicht, wenn sie etwa den traurigen Lebenslauf eines Richard Yates nachzeichnet. Ihr Blick richtet sich, wie es sein muss, aufs charakteristische Detail, wenn sie "Zeiten des Aufruhrs" liest und daraus zitiert:
    "Sie grüßte auf eine schmeichelnde, entschieden weibliche Art, und er hätte am liebsten den Arm um sie gelegt und wäre mit ihr irgendwohin gegangen, wo er sich hinsetzen, sie auf den Schoß nehmen, ihr den königsblauen Pullover ausziehen und sich ihre Brüste nacheinander in den Mund hätte stopfen können."
    Diese ja beinahe schon ans Sexistische grenzende Arabeske kommentiert Eva Menasse folgendermaßen:
    "So bringt man einen kleinen Absatz zur Detonation - der eben noch nichtsahnende Leser fährt zusammen. Und wir können den Absatz zerlegen und zerschneiden, um hinter das Geheimnis zu kommen, es gibt keines, nur das literarische Genie."
    Gut lesbar, fundiert und subtil
    "Wucht und Brillanz" des Romans hat die Leserin mit diesem winzigen Beispiel recht gut erfasst, auch wenn es nach einer analytischen Kapitulation klingen mag. Sowohl vor als auch nach dem Nobelpreis rühmt Menasse Alice Munro, und wunderbar fair notiert sie anlässlich der Erzählungen F. Scott Fitzgeralds folgende Überlegung:
    "Jedes Meisterwerk balanciert einsam auf einem riesigen Berg aus Ausschuss, abgebrochenen Experimenten (...) Es ist das Verhältnis des Diamanten zum Geröll, und dieses Verhältnis ist einer der Flüche der Künstlerexistenz. Kein Schriftsteller hat nur Meisterwerke geschrieben, ja die Fehlschläge und Mittelmäßigkeiten gehören unbedingt dazu, damit auf ihnen das Überirdische weich landen kann, und so unerwartet und unkalkulierbar, wie es ihm eben passt."
    Wenn sich also gegen diese Essays etwas einwenden lässt, dann eben dies, dass sich nichts gegen sie einwenden lässt. In Ihrer Gesamtheit sind sie gut lesbar, fundiert und subtil, mit einem Wort: eher "abgeklärt" als aufgeregt, sie schlagen keine argumentativen Purzelbäume und schießen selten übers Ziel hinaus. Vielleicht sind sie, entsprechend der Vita ihrer Autorin, inzwischen eher "deutsch" als "österreichisch", eher solide als "schaasfreundlich", um es einmal so zu sagen. Ausnahmen bilden die beiden Texte, die sich mit dem Thema Präimplantationsdiagnostik beziehungsweise mit einer Widerrede gegen die fragwürdigen Thesen der Sibylle Lewitscharoff befassen: Hier spürt man subjektive Betroffenheit, ja Befangenheit, und das tut der Stoßkraft der Aufsätze überaus gut - unabhängig davon, ob man ihren Thesen zustimmen mag oder nicht.
    Eva Menasse: "Lieber aufgeregt als abgeklärt." Essays. Kiepenheuer & Witsch, 249 Seiten, 18,99 Euro.