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Essays von Karl Heinz Bohrer
Abgründe des Bösen in der Literatur

Karl Heinz Bohrer, seit Langem Hausautor der Edition Akzente bei Hanser, hat seinen zahlreichen Veröffentlichungen zu Kunst, Literatur und ihrem Verhältnis zum Schrecken und den Abgründen des Bösen eine weitere Sammlung von Essays und Vorträgen der letzten vier Jahre hinzugefügt. Auch in "Ist Kunst Illusion?" gibt sich Bohrer weiter streitbar.

Von Andrea Gnam | 13.07.2015
    "Ist Kunst Illusion?" Der säkularisierten Gretchenfrage, wie wir es denn mit der Kunst halten, die Bohrer schon im Buchtitel aufwirft, ließen sich weitere, etwas weniger abstrakt gefasste hinzufügen: Wie fremd darf Literatur und Kunst uns gegenübertreten? Müssen wir uns bemühen, sie zu verstehen, indem wir in Texten und Bildern nach historisch begründeten Aussagen über vergangene und gegenwärtige Ereignisse suchen? "Dem ist nicht so", heißt es mehrmals, wenn es darum geht, die Ausfallschritte der Argumentation in die gewünschte Richtung zu lenken, und Kunst und Literatur einen sozusagen "exterritorialen" Standort, frei von Fragen nach Geschichte oder Wahrheitsanspruch im Hinblick auf eine konkrete Gesellschaft oder die menschliche Psyche zuzuweisen.
    Bohrer führt in seinen Essays rhetorisch gewandt und - mitunter unerbittlich gegen andere Positionen - den Fecht- und Stoßdegen literaturtheoretischer Beweisführung und philosophischer Betrachtung. Nicht immer sind diese An-strengungen dem Geist der political correctness verpflichtet. So wenn der Au-tor laut darüber nachdenkt, ob ein "neues, der Herkunft nach unterprivilegier-tes Publikum" als mögliche Zielgruppe von Film- und Theatervorführungen, aber auch als Studierende der Geisteswissenschaften zum Ausweichen auf wenig anspruchsvolle Fragestellungen verführe: "Man kann intelligenten Ab-kömmlingen aus Elternhäusern, wo es keine Bücher gab, Fragen nach Probleminhalt und kulturellem Kontext von Literatur oder Bildern ohne Weiteres zumuten, während Fragen nach dem Illusionistischen, wie es hier definiert worden ist, als eine Überforderung zu gelten haben."
    Setzt man sich über solch ärgerliche Invektiven hinweg - dieser Essay erschien 2011 in der von Bohrer herausgegebenen Zeitschrift "Merkur" - so gibt die Aufsatzsammlung einen profunden Einblick in die Werkstatt des Autors, der seine Thesen anhand eines kontinuierlich verfolgten Autoren- und Textkorpus streitbar zu verfechten weiß. Zur Sprache kommt, was ihn über die Jahrzehnte hinweg, in seinen Publikationen zur Literatur der Moderne und zu romantischen und antiken Autoren beschäftigt hielt: die Ästhetik des Schreckens, die luizide Schönheit düsterer Sprache, der Sog des Abgrundes bei zugleich tadelloser Arbeit an der sprachlichen Form. Unermessliches Leid, das in der attischen Tragödie in der Darstellung von Verstümmelung, Zerfleischung und Zerstückelung in Szene gesetzt wird oder das Unheimliche bei E.T.A. Hoffmann seien mit psychoanalytischen Kategorien nicht vollständig zu erfassen: "Warum also die Wirkung? Offensichtlich wegen einer von solchen Erklärungen unabhängigen Intensität des affektiven Erscheinens, einer Intensität nicht bloß des Schreckensinhaltes, sondern der anlässlich des Schreckens entwickelten Sprache."
    Bohrer besteht hier auf dem Postulat einer "fiktionalen Ausdrucksautonomie". Sie gilt es nicht nur für das "autonome Kunstwerk" zu erstreiten, könnte man sein Anliegen kommentieren, sondern gerade auch für Literatur. Dass etwas "erscheint", unbegreiflich, fremd und doch, zumindest aus der Ferne betrachtet, lockend, etwas, das sich nicht auf einem Sinn-Horizont des Bedeutens und Verstehens hin auflösen lässt, stellt eine Zumutung dar. Sie heißt es auszuhalten, selbst dann, wenn die Sprache über das tatsächliche Geschehen in dunkler Schönheit hinwegzutragen vermag und die mythische Grundlage für den Zuschauer oder Leser längst verloren gegangen ist. Dichterische Sprache erhält dann eine intensive, ästhetische Erregung aufrecht. Bohrer setzt hier nicht erst bei Baudelaires Schwindel angesichts des Abgrunds destruktiven Verlangens an, zu dem sich der Dichter der "Fleurs du Mal" unweigerlich hingezogen fühlt, sondern schon bei Ovids "Metamorphosen". Die unerbittlichen Grausamkeiten der Gottheiten, die Ovid selbst bereits nicht mehr anbetet, bleiben allerdings angesichts der kunstfertigen Verse des Dichters, und des Sinnlich-Bukolischen über die Jahre hinweg kaum im Gedächtnis des Lesers haften, stellt Bohrer erstaunt fest. Ob das an der Beschaffenheit unseres Gedächtnisses liegt, wäre eine interessante Frage, der hier allerdings nicht nachgegangen wird: "Ovids Reflexionen und distanzierende Techniken sollen uns nicht den Blick verstellen für das, was im Namen dieser Ästhetik an Grässlichem angerichtet wird."
    Schaut man die Szenen dann hierauf hin genauer an, bekommen wir es mit einem Paradoxon der Argumentation zu tun. Es scheint genau diese Ästhetik zu sein, die das Grausame, kalt geschildert, erst produziert und zwar so raffiniert, dass wir das Ungeheuerliche nicht mehr mit den Maßstäben unserer Lebenswelt oder unserer psychischen Disposition erfassen, sonst wäre das Geschilderte in der Tat einfach nur grässlich. Und auch hier kommt Bohrer wieder zum gleichen Schluss, der sich diesmal nicht gegen psychoanalytische, sondern psychologische und historische Erklärungen abgrenzt: "Ovids Grausamkeit sollte vielmehr ganz und gar als ästhetisches Phänomen sui generis verstanden werden." Ähnlich beschaffenen Konstrukten hängt Bohrer nach, wenn er darauf besteht, dass die stets als verloren beklagte Intensität und Augenblicklichkeit der Zeit im dichterischen Werk von Proust und anderen Autoren des frühen 20. Jahrhunderts nichts mit historischen Zeitumständen gemein habe. Für sich betrachtet, liest sich das einsichtig, im Kontext der Textsammlung ist die Choreografie nicht immer konzise: Die eingenommenen Positionen schwächen sich in der Gesamtschau mitunter eher, als dass sie sich gegenseitig zu parieren vermögen.
    Karl Heinz Bohrer: "Ist Kunst Illusion?" Hanser 2015, 160 Seiten, 18.90 Euro