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Estland übernimmt EU-Ratspräsidentschaft
"Wir möchten, dass die Europäische Union gut funktioniert"

"Sie kommen ins Land, sie bekommen eine Wohnung, sie bekommen eine Chance" - so fasst Estlands Botschafter in Berlin Mart Laanemäe die erfolgreiche Flüchtlingspolitik seines Landes zusammen. Doch jedes Land sei anders, sagte Laanemäe im Dlf mit Blick auf EU-Mitglieder wie Ungarn. Estland übernimmt für ein halbes Jahr die EU-Ratspräsidentschaft.

Mart Laanemäe im Gespräch mit Stefan Heinlein | 26.06.2017
    Estlands Ministerpräsident Jüri Ratas (l.) im Gespräch mit EU-Ratspräsident Donald Tusk: Estland übernimmt ab Juli 2017 die EU-Ratspräsidentschaft
    Estlands Ministerpräsident Jüri Ratas (l) im Gespräch mit EU-Ratspräsident Donald Tusk: Estland übernimmt ab Juli 2017 die EU-Ratspräsidentschaft (AFP / Stephane de Sakutin)
    Stefan Heinlein: Eben noch galt die Europäische Union als Auslaufmodell, als heillos zerstrittener Staatenbund, bürokratisch, unbeweglich und ungeliebt. Doch jetzt hat sich die Stimmung schlagartig gedreht. Von Krise keine Spur. Auf dem Brüsseler Gipfel Ende vergangener Woche präsentierten sich die europäischen Staatenlenker ungewohnt optimistisch und voller Tatendrang. Doch viele bleiben skeptisch, alles nur ein inszeniertes Harmonietheater, warnen sie, die wahren Konflikte seien nach wie vor ungelöst. Darüber möchte ich jetzt in den folgenden Minuten sprechen mit dem Botschafter Estlands in Berlin, Mart Laanemäe. Guten Morgen!
    Mart Laanemäe: Guten Morgen!
    Heinlein: Herr Botschafter, in wenigen Tagen, am 1. Juli übernimmt Ihr Land, übernimmt Estland für ein halbes Jahr die EU-Ratspräsidentschaft. Das ist eine Prämiere für Ihr Land. Wie groß ist die Herausforderung?
    Laanemäe: Ich glaube, die Herausforderung ist so groß, wie sie immer ist. Estland ist aber ein sehr europafreundliches Land und wir möchten, dass die Europäische Union gut funktioniert, und da müssen wir sehen, dass wir erst mal alle um den Tisch bringen können, dass sie dann auch sehr gut weiter diskutieren können und dass sie beschlussfähig bleiben.
    Heinlein: Warum ist die Europabegeisterung in Ihrem Land, wie Sie sagen, groß?
    Laanemäe: Weil die Europäische Union hat uns eigentlich sehr vieles von dem gebracht, was wir alleine nicht geschafft hätten.
    Heinlein: Auf dem Gipfel in Brüssel war ja jetzt tatsächlich von Krise keine Spur mehr. Man hat zumindest nicht darüber geredet. Stattdessen gab es so etwas wie Optimismus und Tatkraft. Wie nachhaltig ist nach Ihrem Eindruck dieser Stimmungsumschwung?
    Laanemäe: Ich glaube, die EU oder der Europäische Rat hat sich konkrete Ziele gesetzt, die man auch erreichen kann, wenn man weiterarbeitet, und solange man ein Ziel hat, dann ist die Stimmung meistens immer gut. Ich glaube, es gibt sehr viele verschiedene Themen, wo lange Jahre diskutiert worden ist, und jetzt hat man die Möglichkeit, auch mal weiter voranzugehen.
    Heinlein: Welche Themen meinen Sie?
    Laanemäe: Ich meine vor allem die Frage, was für uns wichtig ist: der digitale Binnenmarkt, aber das ist schon ein längeres Thema. Es gibt auch die Hoffnung, dass man mit den Migrationsfragen und den Sicherheitsfragen vorankommen kann. Es gibt die Frage der Verteidigungszusammenarbeit, die jetzt endlich eine politische Zielsetzung hat, der man nachgehen muss, und es gibt eine ganze Reihe von Themen, die gerade jetzt mitten in der Amtszeit dieser Europäischen Kommission eigentlich anstehen, die jetzt in die letzte Phase gebracht werden müssen, wo das Konzept steht, und jetzt muss man sehen, dass man auch zu einem Beschluss und zur Umsetzung kommt.
    "Wir haben seit Jahren Erfahrung mit der Integration"
    Der estnische Botschafter Mart Laanemäe bei einem Besuch in Hamburg
    Der estnische Botschafter Mart Laanemäe (Senatskanzlei Hamburg)
    Heinlein: Dann reden wir über diese einzelnen Themen, diese einzelnen Punkte, die Sie gerade angesprochen haben. Beginnen wir mit der Migrationspolitik. Da gab es Lob für Ihr Land, für Estland von Angela Merkel beim Besuch Ihres Ministerpräsidenten in der vergangenen Woche. Warum funktioniert die Aufnahme von Flüchtlingen in Estland, was ja in Ländern wie Polen, Tschechien und Ungarn nicht funktioniert?
    Laanemäe: Ich war selber auch am Aufbau dieses Systems beteiligt. Erstens haben wir ein Land, wo wir verschiedene Nationalitäten im Lande haben. Wir haben eine gewisse Erfahrung mit der Integration schon seit Jahren. Und wir haben uns entschieden, als dann die gemeinsame Entscheidung getroffen wurde, dass alle solidarisch mitmachen müssen, haben wir ein neues System aufgebaut. Das System besteht darin, dass wir nicht mehr die Flüchtlinge vor Ort aufnehmen, sondern dass wir Flüchtlinge finden aus Italien, Griechenland, Türkei, die tatsächlich schon anerkannte Flüchtlinge sind, und uns darauf konzentrieren, sie dann zu integrieren.
    Sie kommen in das Land, sie bekommen eine Wohnung, sie bekommen eine Chance, sie bekommen eine Betreuerin oder einen Betreuer und können dann anfangen mit ihrem Leben. Das funktioniert gut. Wir haben uns darauf konzentriert und nicht auf die Frage, was wir mit denen machen. Es ist natürlich richtig, dass die meisten Flüchtlingsströme an uns vorbeigegangen sind. Bei uns ist die Anzahl der Flüchtlinge, die über die Grenze von Russland kommen, die ohnehin gering ist, noch kleiner geworden, seitdem sich die Migration in Richtung Südeuropa gedreht hat. Es funktioniert einfach alles.
    Heinlein: Warum funktioniert es in Estland? Haben Sie Verständnis für Länder wie Tschechien, Polen und Ungarn, wo es eben nicht funktioniert, oder ist das für Sie komplett fremd?
    Laanemäe: Ich glaube, jedes Land ist anders und jedes Land hat eine andere Auffassung. Ich meine, wenn man Ungarn ansieht, sie haben reale Flüchtlingsströme gehabt, und das ist sehr anders. Aber man muss sich hinsetzen und diskutieren und versuchen, Lösungen zu finden, damit wir diese Probleme dann beseitigen können.
    "Jedes Land ist anders"
    Heinlein: Könnte Estland in diesem Zusammenhang jetzt als EU-Rat mit Ihrer EU-Ratspräsidentschaft hier eine Vermittlerrolle einnehmen an diesem Tisch, den Sie einfordern?
    Laanemäe: Na ja, wir sind in diesem Sinne eher der Vorsitzende einer Diskussion. Wir können nicht zwischen Gruppen vermitteln. Es ist nicht gut, wenn sich die Europäische Union in Gruppen verteilt. Das möchten wir nicht sehen. Wir möchten, dass alle 28 oder in gewissen Fällen jetzt schon 27 sich um den Tisch hinsetzen und untereinander diskutieren, bis man eine Lösung gefunden hat.
    Heinlein: Verhandelt wird ja nicht mehr alleine darüber, sondern es gibt ja auch Druck von Seiten der EU-Kommission auf Polen, Ungarn und Tschechien. Ist das der richtige Weg, um diese Länder zum Einlenken zu bewegen?
    Laanemäe: Die Europäische Kommission hat die Pflicht, Vertragsverletzungen und Fälle, wo Entscheidungen der Europäischen Union keine Folge geleistet wird, in diesem Falle tätig zu werden. Da hat die Kommission das Recht, das zu tun. Zu spekulieren darüber, wie das dann funktionieren wird, ist eine andere Frage, weil wir sind in einer sehr komplizierten Situation. Es geht hier darum, eine Einigung zu finden, die uns voranbringt, und die Arbeit der Kommission ist sozusagen eine Maßnahme, die den Entwicklungen erst folgt.
    Zusammenarbeit in der Verteidigungspolitik
    Heinlein: Herr Botschafter, in Ihrer Antwort auf die Themen Ihrer Ratspräsidentschaft haben Sie die Verteidigungspolitik angesprochen. Da ist man ja weitergekommen auf dem Brüsseler Gipfel. Man will die europäische Verteidigungsfähigkeit ausbauen. Wie wichtig ist das für ein Land wie Estland, das ja sehr, sehr nahe an Russland ist?
    Laanemäe: Dieser Teil der Verteidigungspolitik ist wichtig, weil man die Ressourcen besser anwenden kann. Ich meine, wir haben auch unsere Truppen in Afrika, in verschiedenen Krisenherden. Wir sind sehr viel beteiligt an vielen internationalen Missionen. Ein wichtiges Ziel der europäischen Zusammenarbeit ist es, die Möglichkeiten zum Beispiel in afrikanischen Ländern, wo die NATO keine richtige Rolle hat, weil das eine Frage von Missionen und nicht Verteidigung von Europa ist, dass in diesen Fällen wir alle zusammenarbeiten können, dass wir auch zum Beispiel beim Aufbau von Ressourcen, die man braucht, um funktionsfähig zu bleiben, nicht nur Rüstung, sondern in vielen anderen Bereichen, dass man da mehr zusammenarbeitet, dass nicht jeder für sich alleine was macht. Für ein kleines Land ist es sehr schwierig, alle möglichen Systeme selbst aufzubauen. Das ist das Wichtige.
    Das, was wir zur Verteidigung unseres Landes machen können, das machen wir auch selber und in Zusammenarbeit mit unseren Verbündeten. Aber die Zusammenarbeit hat das Ziel, dass alle europäischen Länder wirklich mehr zusammen erreichen können und dann durch Skalierungseffekte und so weiter auch mehr für ihr Geld bekommen.
    Heinlein: Im Deutschlandfunk heute Morgen der Botschafter Estlands in Berlin, Mart Laanemäe. Ich danke für das Gespräch, Herr Botschafter, und auf Wiederhören.
    Laanemäe: Ja bitte! Auf Wiederhören.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

    Anmerkung der Redaktion: Im Vorspann des Textes wurde ein fehlendes Wort ergänzt: Estland übernimmt für ein halbes Jahr die EU-Ratspräsidentschaft.