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Estlands neue Integrationsstrategie

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurden in ganz Osteuropa symbolträchtig Denkmäler aus der Zeit des Kommunismus gestürzt. Überall verschwanden Statuen von Lenin und anderen Sowjetgrößen, nur wenige dieser Monumente überdauerten die Zeit. Eines von ihnen war der "Bronzene Soldat" in der estnischen Hauptstadt Tallinn. Doch als das Denkmal vor einem Jahr abgebaut werden sollte, kam es zu schweren Auseinandersetzungen. Denn während der Soldat die Esten an die fast 50 Jahre russischer Besatzung erinnerte, feierte die russischsprachige Minderheit hier den Sieg über den Faschismus. Es kam zu Straßenschlachten und Plünderungen. Der sogenannte Denkmalstreit, der sich an diesem Wochenende jährt, hat auch eine Debatte über die bisherige Integrationspolitik ausgelöst. Jetzt hat die estnische Regierung ihre Strategie für die nächsten sechs Jahre vorgelegt. Matthias Kolb berichtet.

25.04.2008
    Estland vor genau einem Jahr. Am 26. April 2007 lässt die Regierung den "Bronzenen Soldaten", ein Denkmal aus der Sowjetzeit, aus der Stadtmitte entfernen - so wie sie es vor der Wahl versprochen hatte. Es kommt zu Plünderungen und Prügeleien zwischen russischsprachigen Jugendlichen und der Polizei. Ein junger Mann wird erstochen, Dutzende werden verletzt, Hunderte verhaftet. Erst nach zwei Tagen ist die Lage wieder unter Kontrolle.

    Seit Juni vergangenen Jahres steht der "Bronzene Soldat" nun auf einem Militärfriedhof. Zu seinen Füßen liegen wieder rote Blumen, es brennen Kerzen. Die Mehrheit der Bevölkerung ist mit der Lösung zufrieden - wie dieser Veteran aus dem Zweiten Weltkrieg:

    "Sie hätten das Denkmal schon viel früher hierher bringen sollen. Mir gefällt das gut so, es sieht sehr schön aus. An dem alten Standort war alles eng, hier gibt es genügend Platz."

    Vor allem aus estnischer Sicht haben die Ereignisse auch etwas Gutes gebracht: Das Land diskutiere jetzt mehr über das Miteinander von Esten und Nicht-Esten und die bisherigen Maßnahmen, berichtet Tanel Mätlik, der Direktor des staatlichen Integrationsfonds:

    "Bisher haben wir uns zu stark auf den Spracherwerb konzentriert. Wir dachten: Wenn alle Estnisch können, gibt es keine Probleme. Die neue Strategie setzt hingegen auf persönliche Kontakte: Künftig soll es etwa Projekte zwischen estnischen und russischsprachigen Schulen geben."

    Monatelang hat eine Expertengruppe die Integrationsstrategie für die Jahre 2008 bis 2013 erarbeitet. Künftig sollen neben Schulen auch Unternehmen angesprochen werden: Die Personalabteilungen sollen gezielt estnisch- beziehungsweise russischsprachige Bewerber einstellen, um das Miteinander zu fördern. Wichtigstes Ziel sei es, die Trennung der beiden Gruppen aufzuweichen - denn bisher sind Schulen, Sportvereine und Medien noch streng nach Sprachen geteilt, was dem russischen Fernsehen vor einem Jahr ermöglichte, die Situation anzustacheln. Und so verbreiten die offiziellen Stellen Optimismus. Dass 2007 weniger Menschen die estnische Staatsbürgerschaft beantragten, habe nichts mit den Spannungen zu tun, erklärt Eva-Maria Asari vom Ministerium für Bevölkerungsfragen:

    "Der Rückgang hat einen einfachen Grund: Es gibt immer weniger Staatenlose in Estland, momentan neun Prozent der Bevölkerung. Die Menschen, die sich bisher nicht beworben haben, sind schwerer zu motivieren. Die Vorteile eines estnischen Passes sind nicht mehr so groß - Staatenlose sind sozial versichert, dürfen EU-weit reisen und auf lokaler Ebene wählen."

    Die Wunden der Pronksiööd, der Bronzenen Nächten, sind aber noch lange nicht verheilt. Das Verhältnis zwischen den Regierungen von Estland und Russland war zeitweise enorm beschädigt - laut einer Umfrage im Herbst fühlten sich die Russen von keinem Land stärker bedroht als von ihrem kleinen Nachbarn. Auch die Vertreter der russischsprachigen Minderheit in Estland sind nicht zufrieden mit dem neuen Kurs. Natürlich freue es ihn, dass bis 2010 insgesamt 30 Millionen Euro für eine bessere Integration ausgegeben werden, aber wichtige Fragen blieben ausgeklammert, sagt Aleksei Semjonow vom Informationszentrum für Menschenrechte:

    "Es gibt keinen ehrlichen Dialog zwischen der Regierung und den Vertretern der Minderheiten. Niemand diskutiert darüber, wer zur estnischen Nation gehört. Sind es nur die Esten und diejenigen, die sich anpassen wollen? Oder sind es nicht vielmehr alle, die in diesem Land leben? Vor allem sollten wir offen über die Interpretation der Geschichte diskutieren."

    Und hier liegen die Ansichten weit auseinander: Die Russen in Estland sehen die Rote Armee, in der ihre Eltern und Großeltern dienten, als Befreier - für die Esten begann 1944 die Zeit der Besatzung und der Deportationen. Semjonow kritisiert außerdem, dass die soziale Ungleichheit ignoriert werde, obwohl Studien die Benachteiligung der russischsprachigen Menschen belegen. Dabei reden momentan alle Esten - egal ob auf russisch oder estnisch - über die drohende Rezession:

    "Natürlich sind Integrationsprogramme wichtig, aber ich glaube, es wird immer Leute geben, die dies ablehnen. Heute machen sich die meisten Menschen hier aber Sorgen um ihren Arbeitsplatz und ob sie die Raten für die Kredite zahlen können."

    Die Angst ist nicht unbegründet: Laut einer aktuellen Studie steckt jeder vierte Este in der Schuldenfalle. In den Jahren des Aufschwungs gab es Kredite ohne Einkommensnachweise - oft genügte eine SMS an die Bank und dem Kunden standen 10.000 Kronen, also 640 Euro, zur Verfügung. Diese Zeiten sind nun vorbei. Im estnischen Außenministerium sieht man dem Jahrestag trotz latenter Spannungen gelassen entgegen. Staatssekretär Harri Tiido erklärt, die Beziehungen zu Moskau hätten sich zuletzt wieder normalisiert. Daher erwartet er nur kleinere Demonstrationen:

    "Wir rechnen damit, dass einige radikale Gruppen von beiden Seiten versuchen werden, an diesem so genannten Jahrestag auf sich aufmerksam zu machen und ihren Unmut zu äußern. Es könnte auch wieder Cyber-Attacken geben, aber wir haben unsere Hausaufgaben gemacht und sind noch besser auf künftige Angriffe vorbereitet - wann immer diese passieren sollten."