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Ethik für eine alternde Welt

Der globale Trend der Alterung der Bevölkerung ist eindeutig. In den nächsten 50 Jahren wird insbesondere in Europa und Nordamerika eine enorme Überalterung der Bevölkerung erwartet. Das wird wesentliche Auswirkungen auf unser Leben haben.

Von Ingeborg Breuer | 30.09.2010
    "Wir werden älter in Europa, sehr alt. Die letzten Prognosen machen deutlich, dass die Alterung der Bevölkerung durchgeht bis 2060, dass man vorhersagt, dass 2060 die Hälfte der europäischen Bevölkerung über 60 sein wird. In 50 Jahren."

    Die demografischen Fakten sind bekannt: Die Zahl der Kinder geht zurück. Entsprechend steigt die Zahl der Älteren in der Gesellschaft. Und noch dazu steigt deren Lebenserwartung. Der niederländische Medizinsoziologe Prof. Wim van den Heuvel spricht gar von einer "Revolution", die die demografischen Veränderungen in ganz Europa mit sich bringen werden.

    "Das hat große Folgen für die Infrastruktur, für die Wege, für Kindergarten. Die Frage ist soll man mehr investieren in den Fazilitäten für ältere Leute instead of jüngere Leute. Und die zweite Konsequenz ist, wird das mit der Produktivität gehen. Wird das nicht heißen, dass die Älteren länger arbeiten? Und die Antwort ist klar: ja."

    Die medizinischen, sozialen wie auch ökonomischen Folgen unserer alternden Gesellschaften werfen tiefgreifende ethische Fragen wie auch Fragen der sozialen Gerechtigkeit auf. Dies zu diskutieren, trafen sich in der vergangenen Woche Wissenschaftler zu der interdisziplinären Tagung "Ethik für eine alternde Welt" auf der Ostseeinsel Usedom. Vorweg aber warnte der Medizinsoziologe Wim van den Heuven, drohende Verteilungskonflikte zwischen den Generationen mit fraglichen Argumenten zu schüren. Keineswegs sei es so, wie oft behauptet, dass die Älteren auf Kosten der Jüngeren lebten:

    "Wir müssen nicht vergessen, dass die älteren Leute machen sehr viel in Gemeinschaft. Die machen viel freiwillige Arbeit, sie sorgen für die Kinder oder Enkelkinder. Und das wird bei der jüngeren Generation vielleicht nicht genug respektiert. Es gibt eine Studie in den Niederlanden, und die haben berechnet, was eine Person über seine ganze Leben empfängt vom Staat an Unterstützung und was er zahlt an Steuer. Und das, was wir sehen, ist, dass die ältere Generation mehr bezahlt, als sie empfangen hat. Bis jetzt, wenn wir reden über Leute über 60, die haben bisher mehr bezahlt, als sie empfangen haben. Und die jüngeren Leute bis jetzt 30, 40 Jahre, die haben bis jetzt mehr empfangen, als sie bezahlt haben."

    Aber ein ökonomisches Problem gibt es doch. Als Bismarck die Rentenversicherung einführte, konnte er davon ausgehen, dass die meisten Rentner nur ein paar Jahre in den Genuss der Pensionen kommen würden; die Lebenserwartung war ja deutlich niedriger als heute. Wenn heute ein Rentner aber im Durchschnitt noch 15 Jahre lebt, so kostet das natürlich mehr. Einigkeit herrschte deshalb auch auf der Tagung, dass an einem höheren Rentenalter kein Weg vorbei führe.

    " Ich will mich nicht auf eine Zahl festlegen, aber ich glaube nicht, dass wir uns werden auf Dauer die 67 leisten können. Ich gehe davon aus, dass ich mit 70 auf jeden Fall noch arbeiten werde."

    Prognostizierte der Betriebswirtschaftler Prof. Steffen Fleßa von der Universität Greifswald. Doch Steffen Fleßa argumentierte nicht nur mit nüchternen ökonomischen Zahlen. Die Aussicht auf 20 Jahre nichtsnutziges Rentnerleben scheinen dem Hochschullehrer darüber hinaus wenig attraktiv.

    "Wenn ich mir die Alterspyramide anschaue und anschaue, dass wir im Durchschnitt nach der Berentung noch 15 bis 20 Lebensjahre haben, dann ist es nicht nur eine Frage der Ökonomie, sondern auch der Menschlichkeit, den Menschen eine Möglichkeit zu geben, sinnvolle Beiträge im Erwerbsleben zu erhalten. Nur nicht eben in einer 40 Stunden-Woche am Fließband. Sondern ich muss dann auch Jobs anbieten können, vor allem auch für Menschen im kreativen Bereich muss ich Jobs anbieten können, wo diese Leistungsfähigkeit auch über lange Zeit noch gefragt und erhalten werden kann."

    Obwohl alle Versuche in Europa, das Rentenalter zu erhöhen, von heftigsten Protesten begleitet sind, bleibt Steffen Fleßa optimistisch. Für ihn ist es eine Frage der Unternehmenskultur, ob Menschen bis ins höhere Alter hinein zumindest ein paar Stunden in der Woche arbeiten wollen. Man müsse Menschen die Chance des stetigen Lernens bieten, müsse sie an Entscheidungsprozessen beteiligen, sie an ihre Firmen binden. Dies übrigens umso mehr, weil Kreativität die Schlüsselressource für prosperierende Länder des 21. Jahrhunderts sei, hochkreative, junge Arbeitskräfte aber zunehmend weniger zur Verfügung stehen werden. "Young minds", also junge Köpfe, müssen mehr und mehr unter den Älteren gefunden werden.

    "Ich kennen ganz viel ältere Menschen, auch mein eigener Vater, die länger als die klassischen 65 Jahre gearbeitet haben und die dabei auch höchst glücklich waren, die das nicht als Last empfunden haben, sondern gesagt haben, ich kann noch etwas beitragen. Und der andere Aspekt ist, dass Menschen sagen, sie könnten noch etwas beitragen, aber in den Arbeitsprozessen, in denen ich stecke, ist das völlig unzumutbar. Mein Chef behandelt mich schon seit 20 Jahren miserabel, ich werde als altes Eisen von den jungen behandelt, ich möchte so schnell wie möglich von hier weg. Das heißt, ich muss von der Führung in Unternehmen dafür sorgen, dass Menschen auch langfristig begeistert im Unternehmen tätig sind. Und auch über das notwendige Alter hinaus."

    Auch in Deutschland versuchten sich schon aufstrebende Politiker damit zu profilieren, künstliche Hüftgelenke für über 80-Jährige zu missbilligen. Trotzdem aber fühlt sich das deutsche Gesundheitswesen nach wie vor dem Solidarprinzip verpflichtet. Und dem widerspräche eine Altersgrenze für teure ärztliche Versorgung ebenso wie die Idee, grundlegende medizinische Hilfeleistungen von der Höhe des Einkommens abhängig zu machen. Anders dagegen in den USA. Der Streit um die Gesundheitsreform von Präsident Obama machte ja in diesem Jahr deutlich, wie kontrovers die Frage der Solidarität dort diskutiert wird. Auch der US-amerikanische Psychiater Prof. Michael Schwartz von der Hawaii-University sieht das europäische Modell der Gleichbehandlung aller Patienten mit Befremden:

    " Ein Teil unseres politischen Kampfs in den USA war, ob wir ein System haben wollen, das eine einheitliche Antwort auf das Problem des Alterns und der Gesundheitsvorsorge für das Alter gibt. Wir wollen Vielfalt in den USA. Die Idee, dass jeder Bürger von der Regierung geschützt werden sollte, das ist etwas, was viele Amerikaner, sowohl Liberale als auch Konservative, ziemlich merkwürdig finden. Warum sollte die Regierung mich schützen, dann wird sie mir auch erklären, wie ich zu leben habe. Darüber wird gestritten. Viele Amerikaner denken, nein, wir sitzen nicht alle in einem Boot, denn wir sind alle verschieden, wir haben alle einen unterschiedlichen Hintergrund, verschiedene Lebensstile, Erwartungen. Deshalb wollen wir eine Bandbreite von Möglichkeiten haben und nicht, dass die Regierung uns einen Standard vorgibt."

    Die politischen Dispute in den USA finden auch auf der philosophischen Ebene ihren Niederschlag. Der amerikanische Philosoph Mark Wicclair setzte sich in Usedom - wenn auch kritisch - mit der These des Bioethikers Daniel Callahan auseinander, dass lebensverlängernde medizinische Maßnahmen im öffentlichen Gesundheitswesen nur innerhalb der natürlichen Lebensspanne von Nöten seien. Menschen über 70 oder gar 80 Jahren hätten ihre Lebensmöglichkeiten sozusagen ausgeschöpft. Der Tod sei dann ein zwar trauriges, aber nicht desto weniger zu akzeptierendes Ereignis - und die medizinische Versorgung diene in diesem Alter hauptsächlich der Leidenserleichterung. Ein Argument, dass sich für deutsche Ohren mit der Würde jedes Menschen kaum vereinbaren lässt.

    "Ganz entscheidend ist, dass jemand ein selbstbestimmtes Leben führen kann und da geht es nicht um Kosten, es geht nicht darum, irgendetwas zu erhalten. Die Würde eines Menschen zu erhalten, das hat mit Kosten erst weitgehend in zweiter Linie zu tun."

    Die Würde des Menschen ist eng mit seiner Autonomie, mit seinem Recht auf Selbstbestimmung verbunden. Auch in der Medizin herrscht nicht länger die paternalistische Idee, der Arzt wisse schon, was gut für einen Patienten sei. Sondern der mündige, der autonome Patient ist gefragt, der seinen Therapieverlauf selbst bestimmt. Doch, darauf verwies die Medizinethikerin Prof. Claudia Wiesemann von der Universität Göttingen, das entscheidende Kennzeichen des Alters sei ja gerade der Verlust an Autonomie. Der Handlungsradius beim alten Menschen schränkt sich ein, er wird gebrechlich, zunehmend ist er auf seine gewohnte Umgebung angewiesen.

    "Meines Erachtens sollen wir dann von Alter sprechen, wenn die Menschen in ihrer Selbstbestimmungsfähigkeit eingeschränkt sind. Das nimmt im Alter graduell zu, Selbstbestimmung im Hinblick auf den Lebensradius. Man kann sich auf einmal nur noch in seinen eigenen vier Wänden zurechtfinden. Selbstbestimmung, wenn es um technische Innovationen geht, man versteht nicht mehr, was der Arzt einem vorstellt. Selbstbestimmung, wenn es darum geht zu entscheiden, ob eine Maßnahme noch sinnvoll ist, die Risiken sind zu groß, die Komplexität ist zu groß. Immer dann wenn ein Mensch dort aufgrund seines Lebensalters nicht mehr mithalten kann, dann merken wir, dass wir in einen problematischen Bereich kommen."

    Das Alter, so Claudia Wiesemann, widerspreche also gerade dem in unserer Gesellschaft vorherrschenden Ideal des selbstbestimmten Menschen. Man müsse es geradezu als eine Einübung in ein Geschehen-Lassen verstehen, verbunden mit dem Eingeständnis, dass man auf Hilfe angewiesen sei. Und das bedeutet: dass möglicherweise andere mehr und mehr über die Belange des alten Menschen entscheiden müssen.

    "Und dann tauchen ethische Probleme auf. Und dann ist die Frage, wie ersetze ich diese fehlende Entscheidungsfähigkeit des Individuums, durch Stellvertreter, durch Fürsorgeeinrichtungen?"

    Prof. Michael Wendt, Direktor der Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin an der Universität Greifswald kennt die ethischen Herausforderungen, vor die die Medizin gestellt ist, wenn Ärzte für den Patienten entscheiden müssen.

    "Also ein Beispiel, der Notarzt geht raus in ein Pflegeheim und wird zur Wiederbelebung eines alten Menschen gerufen, von dem er gar nichts weiß. Das ist etwas, wo man nur mit innerem Zwiespalt hinfahren kann, weil, wenn ich jetzt rausgehe, weiß ich nicht, was der Hintergrund ist, ob dieser Mensch überhaupt eine Entscheidung getroffen hat, ob er wiederbelebt werden möchte, wie sein Hintergrund ist, ob er Vorerkrankungen hat. In der Intensivmedizin ist es anders, dort wissen wir Bescheid und dort ist es so, dass wir immer wieder evaluieren, hat der Patient ein selbstbestimmtes Outcome, wo er bestimmen kann, was er macht, was er denkt, was er möchte. Vielleicht haben wir manchmal Schwierigkeiten in der Frühphase einer sehr akuten Erkrankung, zu wissen, wie ist das Outcome? Und mit einer gewissen Zeit muss man dann aber sagen, wir sehen doch sehr deutlich, dass ein mentales Erholen in Sinne eines autarken Lebens nicht mehr gegeben ist. Und darüber müssen wir gemeinsam mit dem Hausarzt uns noch stärker in der Lage fühlen, zurückzutreten. Zu sagen, wir hören hier auf."

    Was aber ist dieses "autarke Leben", das Professor Michael Wendt hier zum Therapiekriterium macht, zum Beispiel bei einer dementen Patientin? Oder wenn Magensonden das Leben von Menschen verlängern, die bereits im Koma liegen? Zweifellos hat die moderne Medizin für viele Menschen einen Gewinn von Lebensjahren erbracht. Doch sie hat auch eine Kehrseite: da wo die Grenze zwischen Lebensverlängerung und dem bloßen Hinauszögern des Todes verschwimmt.

    Und so bedeutet Selbstbestimmung beim alten Menschen manchmal nur noch, dass er selbst bestimmen kann, wann er sterben will. Im letzten Jahr beschloss der Bundestag die Anerkennung der sogenannten Patientenverfügungen. Damit wird jedem Einzelnen das Recht eingeräumt, zu bestimmen, welche medizinischen Untersuchungen, Behandlungen und Eingriffe durchgeführt oder unterlassen werden sollen. Für den einer orthodoxen christlichen Gemeinschaft angehörenden texanischen Bioethiker Tristam Engelhardt besiegelt dies allerdings nur den Sieg der säkular-atheistischen Weltsicht, für die das Leben mit dem Tod endgültig zu Ende ist. Der Tod werde dann zu einer Art persönlicher Wahl. Nach christlicher Überzeugung hingegen müsse das Leben in all seinen Facetten demütig hingenommen werden - und das Sterben als eine Gelegenheit zu Umkehr und zur Reue. Die Medizinethikerin Claudia Wiesemann hingegen sieht in der Legalität der Patientenverfügung einen Schritt in die richtige Richtung, weil sie dem älteren Menschen das Vertrauen gibt, dass seine letzten Wünsche respektiert werden. Und weil sie ebenso die Ärzte aus der Grauzone entlässt, ob sie sich mit dem Unterlassen von Hilfeleistungen - der passiven Strebehilfe also - schuldig machen.

    "Es gibt die Möglichkeit heute, dass ein älterer Mensch eine Verfügung verfasst und das mit seinen Angehörigen diskutiert. Und im Vertrauen darauf, dass seine Wünsche respektiert werden, alt werden kann, ins Krankenhaus gehen kann, sich einer großen Operation unterziehen kann. Das Patientenverfügungsgesetz hat die Familie in eine ganz andere vertrauensstiftende Funktion gesetzt und das ist sehr gut so. Die Möglichkeiten der Selbstbestimmung des Patienten entlasten den Arzt. Viele Ärzte haben bislang gedacht, manche Dinge dürfen einfach nicht sein: Ich darf ein Beatmungsgerät nicht abstellen, weil das der Tötung eines Menschen gleichkommt! Und die deutschen Gerichte haben mehrfach gesagt, wenn die Beatmung nicht mehr im Interesse des Patienten ist und seinem Willen widerspricht, dann darf auch sie abgestellt werden und entspricht nicht einer willentlichen Tötung des Patienten."

    Der Neurochirurg Prof. Andreas Zieger vom Evangelischen Krankenhaus in Oldenburg allerdings warnte, oft seien es eher Einsamkeit und Depressionen, die den Wunsch nach passiver Sterbehilfe bei alten Menschen förderten. So mancher in gesunden Tagen festgelegte Patientenwille widerspreche der Erfahrung von Pflegern und Ärzten, dass selbst Patienten, die bereits im Koma liegen, noch einen durchaus körpersprachlichen Lebenswillen erkennen lassen. Andreas Zieger mahnte daher, im Zweifel immer für das Leben zu entscheiden. Die Medizin, meinte Professor Zieger, müsse ihr mechanistisches Menschenbild ergänzen um einen ganzheitlichen Blick, wo der Mensch nicht nur als Körpermaschine, sondern als Leib wahrgenommen werde. Und sie müsse den alten Menschen mehr Räume schaffen, wo sie ihr Leben in Würde zu Ende bringen können.

    "Alte Menschen haben ganz andere Bedürfnisse als die moderne Leistungsgesellschaft. Zum Lebensabend verändern sich die Perspektiven auf das Leben, man braucht eine vertraute Umgebung, man braucht jemand der sich gut kümmert, man braucht ein kompetentes Netzwerk, wo auch die Medizin gefragt ist. Man braucht Unterhaltung, deswegen habe ich gestern einmal betont dieses Salutogenesekonzept, was ja nichts weiter sagt als den vergessenen Teil der Medizin auch hervorzuheben. Und das wandelt sich. Im Laufe des Lebens wandeln sich die Anteile, wo ich eine harte operative, reparative Medizin brauche. Aber zum Lebensende, wenn ich im guten Wohlsein auch mein Leben beenden darf und mich verabschieden kann, brauche ich Salutogenese, ich brauch etwas zum Wohlbefinden, und krebskranke Menschen brauchen etwas zu ihrem Wohlbefinden, sie brauchen Schmerzmittel, sie brauchen palliative Care, gute Gespräche, sie brauchen Menschen um sich herum, wo sie die letzen Dinge ansprechen können oder die letzten Dinge erledigen könne, damit sie sich würdig von der Welt verabschieden können."