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Ethisches Verhalten
Das moralische Zeitfenster

Warum verjähren Straftaten? Nimmt das Ausmaß der Schuld ab, je länger das schuldbegründende Ereignis zurückliegt? Unter anderem mit diesen Fragen beschäftigten sich Philosophen, Sozial- und Rechtswissenschaftler bei einer Tagung in Münster. Ihre Analysen zeigen, wie sich moralische Maßstäbe verändern – oft bedingt durch neue Technik.

Von Peter Leusch | 22.10.2015
    Der Gesetzestext des Strafgesetzbuchs, Paragraf 211.
    Dass sich der Gesetzgeber entschieden hat, Straftaten einer Verjährung zu unterwerfen, hat komplexe moralphilosophische Gründe. (imago stock & people)
    "Wir kennen viele Lebensbereiche, in denen nicht nur Werturteile von zeitlichen Dimensionen abhängen, sondern auch wo moralische Kategorien eine Rolle spielen: Denken Sie zum Beispiel an das Verzeihen oder Vergeben von weit zurückliegenden Handlungen. Zeit heilt alle Wunden, sagt man, aber es ist eigentlich schwer, zu verstehen, wieso die bloße Zeit, in der ja nichts passieren muss, in der zum Beispiel kein Bereuen oder kein Bedauern zu spüren ist, wieso Zeit einen Unterschied macht für die Bewertung."
    Die Zeit in ihrer Dauer lasse Wut, Zorn oder Ärger über erlittene Kränkungen, über erfahrenes Unrecht abklingen, lasse uns mit Abstand milder urteilen, erklärt der emeritierte Düsseldorfer Philosoph Dieter Birnbacher. Sicherlich gibt es dabei individuelle Gradunterschiede je nach Temperament und Charakter: der eine ist nachtragender als der andere. Aber das Phänomen beweist doch grundsätzlich, dass Zeitlichkeit zum moralischen Verständnis des Menschen hinzugehört. Denn Zeit ist mit Gerechtigkeit verknüpft, auch im juristischen Sinne, so Frank Dietrich, der an der Universität Düsseldorf Moralphilosophie und Ethik lehrt:
    Im Recht zum Beispiel haben wir so etwas wie Verjährungsfristen. Und in diesem Zusammenhang zum Beispiel stellt sich die Frage, wie lassen sich eigentlich Verjährungsfristen rechtfertigen. Wie kann es sein, dass Schuld ein Verfallsdatum hat? Dass wir irgendwann sagen: 'Wir verzichten auf Bestrafung, weil eine bestimmte Zeitdauer verstrichen ist.'"
    Plädoyer für die strafrechtliche Verjährung
    Geht das denn? Schuld soll doch durch Sühne abgegolten werden. Wiedergutmachung oder Schadensersatz soll erlittenes Unrecht in bestimmter Weise ausgleichen, also eine Balance herstellen, so ist unser überkommenes auch juristisches Verständnis von Gerechtigkeit.
    Wie stellt man sich dann - weitergefragt, zu historischem Unrecht und seiner Verjährung? Das ist Thema einer Diskussion, an der Moralphilosophen, Historiker und Rechtswissenschaftler beteiligt sind.
    "Ich persönlich denke, es macht durchaus Sinn, von einem Verfallsdatum moralischer Ansprüche auszugehen. Das hängt damit zusammen, dass Interessen an Wiedergutmachung mit der Zeit schwächer werden. Wenn die Opfer eines Unrechts nun in einem größeren zeitlichen Abstand zu der Unrechtstat sich befinden, dann wird das Interesse an Wiedergutmachung, eventuell auch an Strafe typischerweise schwächer."
    Zusätzliche Plausibilität gewinnt Frank Dietrichs Plädoyer für Verjährung, wenn man an nachfolgende Generationen denkt, zum Beispiel bei der Diskussion um eine Entschädigung der Kriegsvertriebenen. Kann Unrecht eigentlich vererbt werden? Sollen spätere Generationen zu einer Wiedergutmachung verpflichtet werden, die womöglich mehr neues Unrecht in die Welt bringt als sie altes tilgt.
    Schwierige Interessenlage bei Verteilung von Organspenden
    Vergeltung ist ein Aspekt von Gerechtigkeit, ein anderer betrifft die Verteilung von Gütern oder Leistungen, die knapp sind. Auch hier spielt Zeit eine bedeutende Rolle, zum Beispiel wenn es in der Transplantationsmedizin darum geht, nach welchen Kriterien die potenziellen Empfänger von Spenderorganen berücksichtigt werden. Soll derjenige zuerst eine fremde Niere erhalten, der am längsten gewartet hat?
    "Die Wartezeit als Verteilungskriterium konkurriert mit anderen Kriterien, nach denen man Organe auch verteilen könnte. Man könnte zum Beispiel rein nach der Dringlichkeit des medizinischen Falles Organe verteilen. Dann müsste unter Umständen derjenige, der schon sehr lange wartet, unberücksichtigt bleiben, weil es einen medizinisch dringlicheren Fall gibt."
    Zeit als Wartedauer gegen Zeit als Dringlichkeit. Welches Kriterium ist gerechter? Diese und ähnliche Streitfragen versucht der Gesetzgeber mit umfangreichen Regelungen zu beantworten, mit einem Mix verschiedener Kriterien, die für jedes Organ noch einmal unterschiedlich sind.
    Generell wird deutlich, dass die Entwicklung der modernen technisch gestützten Medizin, deren Errungenschaften wir nicht missen wollen, dazu geführt hat, dass sich die alten philosophischen Fragen rund um das Rätsel der Zeit in ganz neuer und brisanter Weise stellen. Wann ist das Leben eigentlich vorbei? - Ja, wenn der Tod eingetreten ist. Endgültig und unumkehrbar. Beide Bestimmungen sagen jedoch keineswegs dasselbe, erklärt Dieter Birnbacher, und sie führen je nach Land zu ganz unterschiedlichen Konsequenzen.
    Philosophische Ethik mit weniger Dogmatik
    "In der Schweiz könnte es passieren, dass in dem Moment, in dem ein Herzkreislaufstillstand eintritt und zum Beispiel eine Patientenverfügung vorliegt, die eine Wiederbelebung ausschließt, dass dann nach einer kurzen Wartezeit eine einmalige Hirntod-Diagnostik durchgeführt wird, und wenn die das Vorliegen des Todes ergibt, ein Organ entnommen wird. In Deutschland kann das nicht passieren, denn es würde gewissermaßen gefordert, dass nicht nur die Endgültigkeit, sondern die Unumkehrbarkeit des eingetretenen Todes nachgewiesen werden muss. Und dafür ist erforderlich, dass die Hirntoddiagnostik nach einer enormen Zeit, zum Beispiel nach 24 Stunden erneut vorgenommen wird. Dann ist es für die Entnahme von Organen allerdings zu spät."
    Das deutsche Todeskriterium der Unumkehrbarkeit ist also viel strenger als das schweizerische der Endgültigkeit. Das kann bei einer Patientenverfügung in Deutschland allerdings zu Missverständnissen und Konflikten führen.
    "Wenn Sie in einer Patientenverfügung erklären, dass Sie zum Beispiel nicht intensiv behandelt werden möchten, dass Sie aber gleichzeitig Organspender sein möchten, dann ist das zumindest in Deutschland unvereinbar. Denn Sie können nur ein Organ spenden, wenn Sie in der Intensivstationen liegen und wenn dort mit maschineller Unterstützung Ihre Körperfunktionen aufrecht erhalten bleiben, während Ihre Hirnfunktionen aussetzen."
    Birnbachers aufklärende Reflexion spiegelt die moderne Rolle der philosophischen Ethik. Sie besitzt keine dogmatischen Antworten mehr, was richtig und was falsch ist. Sie kann aber den Einzelnen ebenso wie die Gesellschaft beraten, wie hier beim normativen Gehalt von Zeit, indem sie das Verständnis schärft, Konsequenzen aufzeigt, Argumente für und gegen eine Sache herausarbeitet - zu unser aller Orientierung in einer immer komplexeren Welt.