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Ethnologin: Hohes Konfliktpotenzial in der indischen Gesellschaft

Mittelalterlich geprägte und moderne Gesellschaftskreise lebten in Indien eng beieinander, sagt die Ethnologin Katharina Kakar. Es existierten völlig unterschiedliche Vorstellungen über den Wert von Männern und Frauen. Zudem sei das traditionelle Kasten- und Herrschaftssystem durcheinander geraten. Das sei ein "unglaublicher Konfliktstoff", aus dem auch Gewalt gegen Frauen entstehe.

Katharina Kakar im Gespräch mit Beatrix Novy | 01.01.2013
    Beatrix Novy: Sexuelle Gewalt – den Zusatz "gegen Frauen" kann man sich eigentlich sparen –, sexuelle Gewalt gegen Frauen also ist kein indisches Sonderproblem. Brutalste Vergewaltigung, das gibt es auf allen Kontinenten, in Kriegsgebieten, in Bordellen, Täter sind überall und kommen aus allen Schichten. Und daran sollte man schon denken, wenn jetzt die Lage der Frauen in Indien im furchtbaren Schicksal eines jungen Vergewaltigungsopfers gespiegelt erscheint.

    Aber dass das Land sich tatsächlich einer traurigen Wahrheit gegenüber sieht, das zeigen ja die heftigen Proteste. Und es wäre ein winziger Trost, wenn der Tod der jungen Frau, die da missbraucht und weggeworfen wurde in Delhi, wenn das zu Veränderungen führen würde. Aber welche Veränderungen?

    Ich habe Katharina Kakar, in Goa lebende Ethnologin und Schriftstellerin, vor der Sendung gefragt. Wir haben viel gelesen über habituelle Gewalt gegen Frauen in Indien, über fällige Reformen, Bildungsnotstand et cetera. Sehen wir das alles richtig von hier aus?

    Katharina Kakar: Ja, ich denke, es gibt da so einige Zerrbilder in den deutschen Medien. Und deswegen würde ich vorweg ganz gerne ein paar Worte dazu sagen. Was mich stört – ich lebe seit zehn Jahren in Indien –, ist, dass der Westen sich sehr gerne als moralisch überlegen betrachtet, gerade wenn es auf Fragen zu sprechen kommt wie Gewalt gegen Frauen und so weiter. Wenn man sich ganz nüchtern einfach mal die Zahlen anguckt zum Beispiel zu Vergewaltigung, dann zeigen die Zahlen für 2011, dass Berlin fünfmal so viel Vergewaltigungen hat wie Delhi. Da sind natürlich die Dunkelziffern noch nicht eingerechnet. Aber auch New York und London haben viermal so viele Vergewaltigungen gemeldet wie Delhi, im Vergleich zum Bevölkerungsverhältnis.

    Novy: Das könnte man natürlich schon darauf zurückführen, dass eben nicht gemeldet wird in Delhi.

    Kakar: Ja, aber selbst wenn man sagt, in Delhi werden dreimal so viele Fälle nicht gemeldet wie in Deutschland, sind die Zahlen immer noch erstaunlich viel höher oder gleichen sich an. Also, ich möchte einfach nur darauf hinweisen, dass es schwierig ist, wenn der Westen sich gerne in Bezug auf Frauen als überlegen und fortschrittlicher darstellt, weil das in der indischen Gesellschaft einfach nicht so ist, wie der Westen sich das vorstellt.

    Indien ist ja keine homogene Gesellschaft wie in Deutschland, sondern eine sehr viel … Ich möchte mal sagen, es leben verschiedene Zeiten, das Mittelalter und die Moderne zusammen, wo unterschiedliche Werte zusammenspielen. Aber es ist nicht so, dass Indien ein Land ist, wo permanent Gewalt gegen Frauen ausgeübt wird. Also, ich sehe das etwas differenzierter, als es oft in den Medien dargestellt wird im Westen.

    Novy: Nun ist es aber ja eine Diskussion, die eben in Indien selbst gezündet wurde und hier rübergekommen ist, weil ja die Proteste nach dem Tod beziehungsweise nach der Vergewaltigung der jungen Frau schon losgingen. Das heißt, es gibt eine Debatte. Aber vielleicht können Sie uns erst mal erklären, welche Unterschiede es da gibt, welche regionalen Unterschiede, zum Beispiel in der Haltung gegen Frauen? Indien ist einfach zu groß, denke ich, um das über einen Kamm zu scheren!

    Kakar: Ja, das ist richtig. Der Norden ist auf jeden Fall gewalttätiger als der Süden und das liegt weniger jetzt an Verhältnissen, wo man sagt Armut oder Reichtum, sondern mehr an der Idee von Männlichkeit und Virilität. Also, der Norden hat ein sehr viel kämpferisches Ideal von Männlichkeit. Das liegt auch daran, dass die Ratschputen zum Beispiel oder die [O-Ton nicht verständlich] in Haryana oder die Sikhs im Pandschab wirklich die Kämpfertruppen waren und daher bestimmte Vorstellung wie Besetzung des öffentlichen Raums, die Ausschließung der Frauen aus dem öffentlichen Raum, die Idee, dass die Frau beschützt werden muss statt Autonomie zuzugestehen, viel stärker im Raum steht.

    Und da ist im heutigen Indien in den Städten, in den urbanen Zentren, wo eine ganz neue Generation heranwächst mit ganz anderen Werten, da ist eine kritische Masse entstanden, die sich wehrt. Und das ist wunderbar zu sehen. Also das, die Proteste, die jetzt stattfinden in Indien, als der Anlass diese sehr, sehr traurige und brutale Vergewaltigung gewesen, die werden ganz bestimmt auch Folgen nach sich ziehen. Also, es sind Debatten in Gang gegangen, die wirklich ganz, ganz wunderbar sind und sehr hoffnungstragend sind, dass das Konsequenzen hat, nicht nur in der Gesetzgebung, sondern auch eben, dass Themen in den Familien diskutiert werden wie sexuelle Gewalt, wie Erziehung von Mädchen und so weiter.

    Novy: Ist dieser gesellschaftliche Wandel, der all dem zugrunde liegt, nicht aber auch genau die Bedrohung für Männer, die nicht auf diesen Zug aufspringen konnten bisher? Wird das vielleicht in diesem schrecklichen Vorfall in Delhi personalisiert quasi?

    Kakar: Ja, das spielt auf jeden Fall eine Rolle. Dass also Indien eben so eine vielschichtige Gesellschaft ist, dass da ein ganz anderes Konfliktpotenzial da ist, dass die Moderne neben dem Mittelalter steht. Da können im gleichen Häuserblock Menschen zusammenleben mit völlig unterschiedlichen Wertigkeiten und Vorstellungen, was eine Frau zu sein und zu tun hat, oder ein Mann zu sein und zu tun hat. Und das ist natürlich unglaublicher Konfliktstoff und führt eben auch dazu, dass sehr, sehr viele Männer insbesondere in dem gewalttätigeren Norden in Indien sich mehr oder weniger berechtigt fühlen, Frauen, die ihrem Ideal nicht entsprechen oder die ihrer Meinung nach ihre Körperlichkeit zeigen, obwohl sie das nicht sollten, diesen Frauen gegenüber übergriffig zu werden. Nicht nur mit Vergewaltigung, einfach auch mit Angrapschen, mit Bemerkungen, mit verbaler Gewalt, in verschiedenartigsten Formen.

    Und das ist im Norden sehr viel stärker. Also, ich gebe mal ein Beispiel: In Goa, wo ich lebe, das ist Südindien, wenn ich in meinem Dorf die Straße längs gehe, schauen mir die Frauen in die Augen. Wenn ich in Delhi auf der Straße entlanggehe, schauen die Frauen zu Boden. Das hat etwas damit zu tun, wie öffentlicher Raum besetzt wird.

    Novy: Gibt es einen Zusammenhang vielleicht beziehungsweise einen Zusammenstoß zwischen westlichen Medien, Exhibitionismus und Sexualisierung und indischen Sexualkonventionen?

    Kakar: Auch das. Also, es sind ja nicht nur jetzt die westlichen Medien, es sind ja auch, wenn man sich Bollywood anguckt, unglaublich sexualisiert, auch sehr gewalttätig und misogynistisch teilweise. Also, da kommt die indische Kultur in ihrer Vielfältigkeit auch zum Tragen. Also, es ist, ich würde sagen, jetzt nicht Westen versus Indien, sondern Moderne versus anderer kultureller Vorstellungen, die in Indien eben auch sehr tragend sind, während in Gesellschaften wie Deutschland oder Skandinavien, die sehr viel homogener sind, letztendlich da ein gleicheres, gleichmäßigeres Bild ist, wo dann höchstens noch politisch Rechts-oder-links-Unterschiede da sind, mehr konservativ oder mehr liberal. Also, ich würde es nicht als Westen gegen Indien, sondern als Moderne gegen die Vielfalt anderer kultureller Werte.

    Novy: Könnte man in dem spezifischen Vorfall, über den wir jetzt sprechen, diese schreckliche Vergewaltigung in Delhi, auch so etwas wie einen Klassenkonflikt sehen zwischen jungen Männern, die es nicht so weit gebracht haben, wie das junge Mädchen auf dem Weg war es zu bringen?

    Kakar: Ja, das spielt meiner Meinung nach auf jeden Fall mit rein. Ich glaube, das geht auch noch weiter. Also, es ist ja so, dass durch die ökonomische Situation in Indien, wo sehr viel Aufbruch ist, wo sehr viel Fortschritt ist, Kasten, untere Kasten eine Aufwärtsbewegung sozusagen haben, nach oben kommen, auch politische Macht gewinnen. Und das ist eine unglaubliche Herausforderung an die Kastenordnung und an die Machtverhältnisse, insbesondere im ländlichen Raum, weil dort einfach Kaste sichtbarer ist noch auch als in der Stadt.

    Das ist ein Machtgezerre, was da stattfindet. Und so finden beispielsweise auch Vergewaltigungen im ländlichen Raum gegen Frauen, die andere Lebensvorstellungen haben, statt, um die Kastenverhältnisse wieder in die Schranken zu weisen. Und das überträgt sich sicherlich auch in der Stadt, wenn solche Menschen aus den Dörfern in die Stadt strömen mit völlig anderen Vorstellungen, wie jemand aus einer bestimmten Kaste oder Klasse oder auch eben einfach geschlechtlich, eine Frau, ein Mann sich zu verhalten hat, was zu Aggression auch neigt und damit zu Gewalt führt.

    Novy: Das war Katharina Kakar, Ethnologin, Religionswissenschaftlerin und Schriftstellerin. Sie lebt in Goa in Indien.


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.


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