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"Etwa 70 Prozent der Bevölkerung sind einverstanden mit den Streiks"

Der ehemalige ARD-Frankreichkorrespondent Ulrich Wickert rechnet nicht damit, dass die streikenden Franzosen die Rentenreform stoppen können. Eigentlich sei der Streik ein Machtkampf, der bereits einen Vorgeschmack auf die Präsidentschaftswahlen in zweieinhalb Jahren liefere.

Ulrich Wickert im Gespräch mit Friedbert Meurer | 22.10.2010
    Friedbert Meurer: In Frankreich verschärft sich der Konflikt um die Rentenreform von Präsident Sarkozy. Heute entscheidet der Senat. Derweil wird das Benzin im Land knapp. Die Gewerkschaften lassen einfach nicht locker. Die Regierung in Paris hofft, dass mit den beginnenden Herbstferien die Proteste allmählich abebben. Die Ferien beginnen morgen. Ob es so kommt, das werden wir sehen. - Ulrich Wickert war lange Jahre Frankreichkorrespondent der ARD, dann "Tagesthemen"-Moderator. Guten Morgen, Herr Wickert!

    Ulrich Wickert: Guten Morgen, Herr Meurer!

    Meurer: Rente mit 62, da würden sich viele Deutsche die Finger nach lecken. Warum regen sich die Franzosen darüber so sehr auf?

    Wickert: Ich glaube, das Grundproblem ist: Hier ist eine Entscheidung getroffen worden, ohne das Volk wirklich zu informieren, und das ist eine typische französische Vorgehensweise. Bei uns in Deutschland wird ja lange diskutiert, mit den Gewerkschaften und mit den betroffenen Bereichen, aber in Frankreich entscheidet die Regierung erst einmal und dann geht das Volk auf die Straße. Das ist immer so. Es wirkt für uns natürlich sehr merkwürdig. Aber vor ein paar Jahren, als Villepin Premierminister gewesen ist, hatte er ein Gesetz durchgebracht, das die Jugend betraf. Es war fertig, das war durch alle Instanzen schon akzeptiert. Und da gab es so starke Demonstrationen, dass das fertige Gesetz, das verabschiedete Gesetz zurückgenommen worden ist.

    Meurer: Wird das jetzt bei der Rente mit 62 auch so kommen wie mit dem Gesetz befristeter Arbeitsverträge für junge Leute?

    Wickert: Nein, das glaube ich nicht. Wir erleben jetzt im Augenblick einen Machtkampf, der eigentlich der Vorgeschmack für das ist, was eigentlich erst in zweieinhalb Jahren passiert, nämlich die Wahlen, die Präsidentschaftswahlen, und wir sehen jetzt hier schon, dass die verschiedenen Bereiche links und rechts sich positionieren.

    Sarkozy ist in ein großes Problem gefallen dadurch, dass im Frühsommer ein Skandal hochgekommen ist, der uns Deutsche wieder auch amüsiert. Das ist der Skandal von der Milliardärin Betancourt, die unter anderem auch viel Geld verteilt hat in die Politik, und man überlegt, inwiefern das auch illegale Parteienfinanzierung war. Darin ist der Minister verwickelt, der die Rentenreform durchgebracht hat. Jetzt wurde die Aufmerksamkeit auf diesen Minister und diesen Skandal gelenkt, weg von der Rentenreform, und jetzt sagen all die, die streiken, die Gewerkschaften, die jungen Menschen: Er schützt die Reichen und wir müssen es jetzt bezahlen.

    Meurer: Und tut er das? Schützt er die Reichen und die kleinen Leute müssen es bezahlen in Frankreich?

    Wickert: Er hat natürlich eine ganze Reihe von Gesetzen gemacht, wo man den Eindruck haben kann. Die besagte Madam Betancourt hat zum Beispiel eine Steuerrückzahlung von etwa 40 Millionen bekommen, weil sie mehr als 50 Prozent besteuert worden ist. Da sagen die Leute, eine Frau, die so viel Geld hat, die 20 Milliarden Euro besitzen soll, kriegt 40 Millionen vom Staat zurück wegen eines Steuergesetzes, das Sarkozy gemacht hat.

    Sarkozy hat im Wahlkampf 2007 noch gesagt, die Renten sind bis zum Jahre 2020 sicher. All das fällt jetzt auf ihn zurück und dadurch ist dieser Machtkampf entbrannt. Interessanterweise gehen auch die jungen Leute auf die Straße. Das liegt daran, dass es in Frankreich eine sehr große Jugendarbeitslosigkeit gibt, die liegt etwa bei 24, 25 Prozent, und jetzt sagen die Jungen, wenn die Alten nicht in Rente gehen, dann kriegen wir noch weniger Jobs, und das motiviert sie dann.

    Meurer: Wir staunen ja hier in Deutschland sozusagen über den rebellischen Geist der Franzosen. Bei Hartz IV, Riesenaufreger bei uns vor ein paar Jahren, gab es die Montagsdemonstrationen, aber es war jetzt nicht so, dass alle Tankstellen blockiert wurden. Steckt in den Franzosen sozusagen noch der Widerspruchsgeist von Revolution, Résistance, dass das alles bis heute nachwirkt?

    Wickert: Das gehört mit zu der politischen Auseinandersetzungskultur, die wir in Deutschland nicht verstehen, die in Frankreich aber üblich ist. Als die Franzosen zum Beispiel das Punktesystem für Strafzettel eingeführt haben, wie wir das haben mit Flensburg, haben die Lastwagenfahrer gestreikt, haben die großen Kreuzungen einfach blockiert, weil die gesagt haben, na ja, dann wird uns ja irgendwann der Führerschein entzogen. Die haben nicht etwa gedacht, na gut, dann fahren wir vorsichtiger, sondern die haben gesagt, natürlich werden wir so viele Punkte bekommen, und dann haben sie einfach die großen Kreuzungen im ganzen Land blockiert.

    Meurer: Und die Bauern haben ja auch schon zugeschlagen in Konflikten.

    Wickert: Die Bauern machen das immer! Fischer auch.

    Meurer: Ist das nur eine radikale Minderheit in Frankreich oder geht das tiefer?

    Wickert: Es sind ja jetzt immerhin um eine Million Leute, die immer wieder demonstrieren. Und da darf man eines nicht vergessen, wenn sie Umfragen sehen: Etwa 70 Prozent der Bevölkerung sind einverstanden mit den Streiks und mit diesen Aktionen. Das heißt, sie nehmen es hin, wenn sie schwerer zur Arbeit kommen, wenn die Metro nicht fährt, der Bus nicht fährt, wenn sie in Staus stehen. Dann sagen sie, das ist eben so und das ist ganz gut so.

    Meurer: Jetzt mal umgekehrt die Brille aufgesetzt, wenn die Franzosen auf die Deutschen schauen. Wir halten die Franzosen für rebellisch. Denken die Franzosen über uns, wir sind doch noch die tumben Untertanen?

    Wickert: Nein, das denken sie nicht. Sie schauen eigentlich relativ wenig auf uns, muss man dabei sagen.

    Meurer: Sie interessieren sich nicht für uns?

    Wickert: Nein, sie interessieren sich nicht so sehr für die Deutschen, wie wir uns für die Franzosen interessieren. Sie sind eben doch sehr viel stärker auf sich konzentriert. Das hat natürlich mit der Geschichte zu tun, und sie sind eigentlich dann manchmal ganz erstaunt, mit welchem Erfolg wir vorankommen. Sarkozy hat jetzt gesagt, wir müssen das deutsche Steuersystem übernehmen. Das sagt er deswegen, weil er dann meint, guckt mal, da ist ein tolles Modell, und dann könnt ihr nichts gegen meine Politik sagen, wenn ich sage, wir übernehmen das deutsche Steuersystem oder wir gleichen uns dem an. Das bedeutet aber gleichzeitig, dass er dann sagt, gut, die Deutschen haben keine Vermögenssteuer, also können wir die bei uns auch abschaffen. Gleichzeitig könnte er dann das machen, was beim Volk gut ankommen würde. Dieses Gesetz, wonach Madam Betancourt die 40 Millionen zurückbekommen hatte, dies könnte er auch abschaffen, weil er sagt, das haben die Deutschen auch nicht. Damit könnte er ein Gesetz, das er selber geschaffen hat, abschaffen, ohne dass er das Gesicht verliert.

    Meurer: Kurz noch: Viele Deutsche werden zur Rente mit 62 in Frankreich sagen: Wir, die Deutschen, haben die bessere Arbeitsmoral als die Franzosen. Was meinen Sie?

    Wickert: Da können wir jetzt wieder mit Zahlen arbeiten.

    Meurer: Nicht so viele Zahlen!

    Wickert: Nein, das ist ganz lustig. Die Franzosen arbeiten von der Arbeitszeit her länger. Ich behaupte, das liegt daran, dass die sich viel unterhalten müssen während der Arbeitszeit. Denn in der Produktivität sind die Deutschen in ihrer kürzeren Arbeitszeit sehr viel weiter vorne.

    Meurer: Der ehemalige Frankreichkorrespondent der ARD, Ulrich Wickert, zur Streikbereitschaft der rebellischen Franzosen. Herr Wickert, danke schön und auf Wiederhören!

    Wickert: Danke, Herr Meurer!