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EU-Beitritt der Westbalkanstaaten
"Es geht um die politische Vision, die politische Courage"

Der EU-Beitritt der Westbalkanstaaten bis 2025 hängt davon ab, "ob es in der Region ausreichend Wirtschaftswachstum geben wird", sagte der Balkan-Experte Dusan Reljic im Dlf. Die politischen Eliten müssten deutlich machen, dass der westliche Balkan kein politisches und finanzielles Risiko darstelle.

Dusan Reljic im Gespräch mit Philipp May | 17.05.2018
    Mitarbeiter des Auswärtigen Amts mühen sich am 28.08.2014 bei der Westbalkan-Konferenz in Berlin vor dem Gruppenbild der Außenminister mit den wehenden Fahnen, die umzukippen drohen.
    Sechs Balkanstaaten wollen Mitglied in der EU sein: Albanien, Bosnien-Herzegowina, Mazedonien, Montenegro, Kosovo und Serbien. Das Bild stammt von der Berliner Westbalkan-Konferenz 2014, wo auch Kroatien und Slowenien beteiligt waren. (dpa / Bernd von Jutrczenka)
    Philipp May: In Brüssel am Telefon ist jetzt der Balkan-Experte Dusan Reljic von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Schönen guten Tag!
    Dusan Reljic: Guten Tag, Herr May!
    May: Braucht die EU den Balkan?
    Reljic: Ich meine, unbedingt. Denn nirgendwo sonst hat die Europäische Union und haben die wichtigsten EU-Staaten in den letzten drei Jahrzehnten so viel politisches Kapital investiert wie in Südosteuropa. Dabei ging es nicht nur darum, die Folgen des Krieges im früheren Jugoslawien aus der Welt zu schaffen. Es ging auch darum, dass die Europäische Union sich als Akteur, als politische Macht beweisen wollte. Und diesen Beweis ist sie nach wie vor schuldig geblieben, denn sie hat es nicht geschafft, diese 3,5 Prozent der europäischen Bevölkerung in die EU formell zu integrieren.
    "Im Handel mit Westbalkanstaaten 100 Milliarden Euro Gewinn"
    May: Aber ein Großteil der EU-Bürger würde wahrscheinlich sagen, wenn wir das tun, holen wir uns den nächsten rückständigen Sanierungsfall ins Haus. Haben die unrecht?
    Reljic: So ist es. Allerdings, wenn man ein wenig zurückdenkt an die Ursprünge der Europäischen Union, dann ist wahrscheinlich die Frage vielleicht ein wenig überspitzt formuliert, aber doch zulässig. Hätte man nach dem Zweiten Weltkrieg die Franzosen und die Briten und die anderen gefragt, ob man Deutschland in die EU aufnehmen sollte, dann wäre die Antwort auch negativ ausgefallen. Es geht um die politische Vision, um die politische Courage der politischen Eliten, die der Bevölkerung auch erklären sollen, dass der westliche Balkan, dass diese 3,5 Prozent kein politisches und kein finanzielles Risiko sind. Denn in den letzten zehn Jahren zum Beispiel hat die Europäische Union im Handel mit den Westbalkanstaaten einen Gewinn von etwa 100 Milliarden Euro gemacht. Das heißt, mit mehr wirtschaftlicher Entwicklung in der Region wird es auch mehr Gewinn für die EU geben.
    May: Zerbricht dann nicht dennoch die EU, oder droht die Gefahr eines Zerbrechens? Wie gesagt, eine weitere Erweiterung der Europäischen Union ist nicht gerade sonderlich beliebt derzeit.
    Reljic: Ja, sicher, aber das ist eine innenpolitische Frage. Die politischen Führer der Europäischen Union haben Angst vor der aufgebrachten Wählerschaft, die bemerkt hat, dass die Fortschritte im Wohlbefinden der Bürger, in den sozialen Standards in den letzten Jahren zurückgegangen sind. Und sie meinen, dass ihnen die Neuankömmlinge weiter etwas davon nehmen könnten. Allerdings, da muss man auch wieder auf die Tatsachen gucken: Allein in Deutschland haben in den letzten drei Jahren 50.000 Menschen aus Serbien einen Arbeitsplatz bekommen, und zwar in jenen Sektoren, die für Deutschland wichtig sind, zum Beispiel im Pflegebereich, zum Beispiel im Dienstleistungssektor. Europa ist integriert, und die Westbalkanstaaten sind schon längst verschluckt worden von der Europäischen Union, ökonomisch, sozial, menschlich – aber noch nicht verdaut. Darum geht es.
    May: Sind denn die letzten EU-Erweiterungen mit Kroatien, Bulgarien und Rumänien aus Ihrer Sicht auch eine Erfolgsgeschichte gewesen?
    Reljic: Ich glaube, dass es nur dann richtig gesehen werden kann, wenn man die Kriterien dafür genau erklärt. Rumänien hat im letzten Jahr ein Wirtschaftswachstum von sieben Prozent gehabt. Das war eine der höchsten Raten in der Welt. Und Bulgarien ist kein verschuldetes Land. Es gibt, glaube ich, sehr viel von dieser "Balkanisierung", dass man in Südosteuropa a priori Gebiete sieht, die sich nicht an die Standards Westeuropas halten können. Das stimmt ganz Ost-, und Südosteuropa hängt noch sehr viel am Trost der Gelder aus der Europäischen Union. Aber andererseits, die großen Exportwachstumsraten, die es in Deutschland, in Österreich und anderswo gegeben hat, wären auch nicht möglich gewesen, wenn sich diese Märkte nicht geöffnet hätten in den letzten Jahren.
    "Rechtsstaatlichkeit mit Beitritt nicht für alle Zeiten gewährleistet"
    May: Nichtsdestotrotz – ich komme noch mal auf die EU-Bürger zu sprechen, weil das ist ja der Souverän –, die sehen, wenn sie an die letzte Erweiterung der EU denken, vor allen Dingen, Stichwort Rumänien, eher Themen wir Lohndumping zum Beispiel im Bau- und Transportgewerbe durch billige Arbeitskräfte, die hier dann den Arbeitsmarkt fluten, und von dem dann letztendlich nur die Konzerne, aber nicht die Bürger profitieren.
    Reljic: Das ist aber eine Frage, die, glaube ich, mehr an die Parlamente in Westeuropa zu stellen ist, an den Souverän dort.
    May: Wie würden Sie denn die Frage beantworten?
    Reljic: Ich würde sagen, dass Bedarf und Nachfrage vorhanden ist. In Deutschland, so viel ich bemerke, ist es derzeit nicht möglich, Bauarbeiter in ausreichendem Ausmaß zu gewinnen und auch andere Arbeitskräfte. Das heißt, dass die großen Wachstumsraten, die es in den Kernländern Europas gibt, dadurch auch gefördert werden, dass man genug Arbeitskräfte aus den peripheren Ländern gewinnt, wahrscheinlich zu schlechteren Preisen. Aber nichtsdestoweniger ist das eine der Voraussetzungen für die gute wirtschaftliche Situation, die er derzeit im Westen gibt.
    May: Aus welchen Fehlern der vergangenen Erweiterung muss die EU denn lernen, wenn sie jetzt die Integration des Westbalkans vorantreiben möchte?
    Reljic: Ich glaube vor allem, man muss sich von der Vorstellung verabschieden, dass ein Beitritt zur Europäischen Union automatisch ein Garant ist, dass jetzt Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit und alle anderen positiven Werte, die es gibt, für alle Zeiten garantiert sind. Die politische Dynamik ist so, dass es überall zu einer Aufweichung der demokratischen Zustände kommen kann, wenn die sozioökonomischen Verhältnisse –
    May: Kann die EU das akzeptieren? Kann sie da ihre Standards so aufweichen, nur um eine größere Integration der EU vorzunehmen? Das sind ja wirklich die Kernstandards der EU, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie.
    Reljic: Sicher. Das muss alles eingefordert werden. Aber es ist nicht so, dass, wenn man einmal der Europäischen Union beigetreten ist, dass dann die Rechtsstaatlichkeit für alle Zeiten gewährleistet ist. Das ist ein stetiger Kampf nach oben. Man sieht das auch in den Ländern, die sehr lange in der Europäischen Union sind, zum Beispiel in Italien mit dem Aufkommen von rechtspopulistischen Parteien, in Deutschland in Österreich und anderswo. Das ist keine Variable, die sich nicht verändert, sondern das ist ein Produkt der Zustände.
    May: Muss einem aber nicht das genau Sorgen bereiten, wenn man an die EU-Osterweiterung denkt?
    Reljic: Die Sorge ist gerechtfertigt. Allerdings ist die Aussonderung dieser Länder als besonders von Korruption und Kriminalität gefährdet nicht zweckführend. Denn das Projekt der Europäischen Union war immer an erster Stelle die Stabilität auf dem ganzen Kontinent herzustellen. Und da ist die Mitgliedschaft nach wie vor das wichtigste Instrument, um tatsächlich in ganz Europa die Stabilität sicherzustellen.
    "Mantra von der sich selbst tragenden Transition"
    May: Halten Sie denn die Beitrittsperspektive bis 2025 für realistisch?
    Reljic: Das wird davon abhängen, ob es in der Region ausreichend Wirtschaftswachstum geben wird. Derzeit sind die Länder gemessen am Durchschnittssozialprodukt der Europäischen Union weiter zurück, als sie 1989 gewesen sind. Das ist zum Teil dadurch bedingt, dass es in Europa die Wirtschafts- und Finanzkrise gegeben hat, die dann diese Länder auch betroffen hat. Aber vor allem hat es etwas damit zu tun, dass dort nicht genug investiert wird, und man investiert nicht genug, weil man nicht ausreichend Kapital hat. Deswegen wäre ein Zugang zu den Strukturfonds der Europäischen Union das, was die Länder eigentlich befördern könnte.
    May: Das ist ja wahrscheinlich eher nicht realistisch.
    Reljic: Ich sehe eine steigende Bereitschaft, über alternative Modelle nachzudenken in Brüssel und anderswo. Weil man in der Zwischenzeit erkannt hat, dass das Mantra von der sich selbst tragenden Transition über die Privatisierung der Wirtschaft und die Öffnung der Märkte ganz einfach in den meisten Staaten Mittel- und Osteuropas und auch Südosteuropas nicht die Ergebnisse gebracht hat, die man sich gewünscht hat.
    May: Wie realistisch ist derzeit eine EU-Balkanerweiterung. Einschätzungen waren das von Dusan Reljic, Experte für den Balkan von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Vielen Dank für das Gespräch, Herr Reljic.
    Reljic: Ich danke Ihnen, Herr May!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.