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EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei
"Kommunikation der Kanzlerin chaotisch"

Der FDP-Europapolitiker Alexander Graf Lambsdorff hält die Türkei-Politik der Bundesregierung für falsch. Grundproblem sei das unehrliche Versprechen einer EU-Vollmitgliedschaft, sagte er im DLF. Man habe "keinerlei demokratische Unterstützung dafür". Demgegenüber sei etwa die Zollunion ein realistisches Ziel.

Alexander Graf Lambsdorff im Gespräch mit Jasper Barenberg | 01.12.2016
    Der Europapolitiker Alexander Graf Lambsdorff (FDP)
    Lambsdorff: "Wir müssen Beziehungen zur Türkei auf ehrliche Basis stellen." (dpa / picture-alliance / Roland Weihrauch)
    Der FDP-Europapolitiker Alexander Graf Lambsdorff sagte im DLF, die jüngsten Äußerungen von Bundeskanzlerin Angela Merkel seien "nur noch chaotisch zu nennen". Es herrsche ein totales Durcheinander, was tatsächlich gewollt sei. Merkel hatte erklärt, bei den EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei würden keine weiteren Kapitel eröffnet. Dies hatte zu vielfältigen Interpretationen geführt.
    Lamsbdorff betonte, Grundproblem sei das Versprechen einer EU-Vollmitgliedschaft. Dieses sei nicht zu halten, zumal es in den Mitgliedstaaten keinerlei demokratische Unterstützung dafür gebe. Er betonte, statt einen vergifteten Prozess fortzusetzen, sollten die Beziehungen mit der Türkei auf eine ehrliche Basis gestellt werden. Die jüngste Resolution des EU-Parlaments, wonach die Beitrittsverhandlungen vorerst eingefroren werden sollten, bezeichnete er als "starkes Signal".

    Das vollständige Interview:
    Jasper Barenberg: Die Gespräche mit der Türkei über einen Beitritt zur EU werden nicht um neue Themen erweitert. So hat es die Bundesregierung kurz nach dem Putschversuch in der Türkei erklärt und bei diesem Status quo bleibt die Bundeskanzlerin auch nach den Drohungen aus Ankara, das Flüchtlingsabkommen mit der Europäischen Union aufzukündigen. Angela Merkel sieht bei diesem Thema keinen Handlungsbedarf. Ganz anders die Abgeordneten im Europäischen Parlament: Sie sprechen sich dafür aus, die Beitrittsverhandlungen zu beenden. - Am Telefon ist der Liberale Alexander Graf Lambsdorff, einer der Vizepräsidenten des EU-parlaments. Schönen guten Morgen!
    Alexander Graf Lambsdorff: Guten Morgen, Herr Barenberg.
    Barenberg: Ist die Bundeskanzlerin Angela Merkel zu nachsichtig mit dem türkischen Präsidenten?
    Graf Lambsdorff: Ich glaube, die Position der Bundesregierung ist falsch in dieser Frage, und die Kommunikation der Kanzlerin ist wirklich nur noch chaotisch zu nennen. Wenn man sich heute Morgen mal auf Google News anschaut, was sie da gesagt hat, findet man lauter verschiedene Positionen, vom Stopp der Beitrittsverhandlungen bis zur Bekräftigung des Status quo. Es gibt sozusagen ein komplettes Durcheinander dessen, was sie da wirklich gemeint haben könnte. Mit anderen Worten: Die Position der Bundesregierung ist das eine. Die finden wir in der Sache falsch, als Freie Demokraten und als Europäisches Parlament. Und die Kommunikation ist das andere. Es herrscht ein totales Durcheinander, was nun tatsächlich gewollt ist.
    "Das Versprechen der Türkei, dass sie der Europäischen Union beitreten kann, wird nicht eingehalten werden können"
    Barenberg: Aber so groß ist das Durcheinander doch eigentlich gar nicht. Es geht darum, darauf zu drängen, Menschenrechte zu achten, Kritik klar zu äußern und trotzdem im Gespräch zu bleiben. Was ist falsch an dieser Haltung?
    Graf Lambsdorff: Nun, das kann man ja tun. Aber die Frage ist, soll man das Ganze verbinden mit einem Versprechen, von dem die Menschen sowohl in der Türkei als auch bei uns in Deutschland und Europa wissen, dass es nicht eingehalten wird. Das Versprechen der Türkei, dass sie der Europäischen Union beitreten kann, wird nicht eingehalten werden können. Schauen Sie sich die Umfragen an bei uns: 85 Prozent der Menschen sind dagegen, dass die Türkei beitritt. In Frankreich gibt es ein eigenes Gesetz, das eine Volksabstimmung vorsieht am Ende des Prozesses der Verhandlungen. Mit anderen Worten: eine unüberwindbare Hürde, vollkommen klar. Auch dort sind ja über 80 Prozent dagegen. Dieses Versprechen aufrecht zu halten, das ist das eigentliche Problem. Es ist ein unehrlicher Prozess, in dem beide Seiten sich ständig gegenseitige Vorwürfe machen. Übrigens auch von türkischer Seite berechtigte Vorwürfe an Europa, weil diese Unehrlichkeit, dieses Widersprüchliche, dieses Chaotische, das sich jetzt auch in der Kommunikation der Kanzlerin niedergeschlagen hat, natürlich auch für die Türken zutiefst frustrierend ist und das seit vielen Jahren ja schon so ist.
    Ba renberg: Muss sich, wenn Sie so argumentieren, das Parlament in Straßburg selber nicht den Vorwurf der Unehrlichkeit auch zu eigen machen? Denn in der Resolution, wenn ich es richtig weiß, heißt es ja auch, dass die Gespräche abgebrochen, aber nur ausgesetzt werden sollen, und wenn die Entwicklung in eine andere Richtung geht, nimmt man sie jederzeit wieder auf und erneuert das Versprechen.
    Graf Lambsdorff: Nun, es ist eine Position, die zum ersten Mal wirklich über alle Fraktionsgrenzen hinweg so festgelegt worden ist. Und es haben sich dort die Kollegen insbesondere von SPD und Grünen, die ja im Prinzip für den Beitritt sind, bewegt hier auf diejenigen insbesondere bei den Liberalen und den Christdemokraten zu, die das skeptisch sehen. Insofern ist es eine Kompromissformel. Aber sie ist schon richtig verstanden worden. Es ist ein starkes Signal, auch in Ankara ist das ja so angekommen. Ansonsten hätte Präsident Erdogan ja nicht fünfmal betont, dass ihn die Resolution gar nicht interessiere. Er hat das ja mehrfach gesagt, er hat auch Reaktionen darauf angekündigt. Mit anderen Worten: Ich glaube, diese Formel ist als Signal sehr klar. Wir als Freie Demokraten sagen ohnehin, es ist nicht sinnvoll, einen Prozess fortzusetzen, der die Beziehungen vergiftet. Es ist viel besser, sie auf eine ehrliche Grundlage zu stellen, Gebiete zu definieren, auf denen man vernünftig zusammenarbeiten kann. Ob das die Energiepolitik ist, der Tourismus, die Sicherheitspolitik, die Bekämpfung des Terrorismus. Es gibt so viele Dinge, wo wir mit der Türkei gemeinsam Ziele haben, die wir auch erreichen wollen, dass dieser Prozess, der so vergiftet ist, uns eher daran hindert als dabei förderlich ist, diesen Zielen gemeinsam näherzukommen.
    Barenberg: Aber wir können festhalten: Ihre Position, endgültig die Gespräche zu stoppen und damit für ein Stück Ehrlichkeit zu sorgen, das ist auch im Europäischen Parlament im Moment eine Minderheitenposition?
    Graf Lambsdorff: Nun, das ist eine Position, die eine breitere Unterstützung hat, als das Abstimmungsergebnis das darstellt, weil es haben sich ja über 100 Kollegen enthalten, die der, ich sage mal, Kompromissformel vom Einfrieren jetzt erst mal nicht zustimmen wollten. Die wollten den sofortigen Abbruch. Aber da sagen auch wir als FDP, da sagt auch die Mehrheit des Parlaments, wir wollen ja diese Beitrittsverhandlungen nicht ersatzlos streichen. Und wenn Sie, Herr Barenberg, sagen, wir wollen die abbrechen, das klingt so, als ob man mit der Türkei gar nicht mehr reden wollte. So ist es ja nicht! Wir wollen diese Beitrittsverhandlungen ersetzen durch eine Art Grundlagenvertrag, in dem definiert wird, wo wir pragmatisch, realistisch, durchaus auch offen in der Auseinandersetzung, wenn es um Themen wie Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit geht, diese Zusammenarbeit organisieren können. Das heißt, wir wollen mit diesem wichtigen Nachbarn, dieser großen Nation Türkei im Gespräch bleiben, auch in schwierigen Zeiten. Das gehört sich so. Die Türkei ist in der NATO, Bundeswehrsoldaten leisten ihren Dienst in Incirlik. Der Türkei den Rücken zuzukehren, das ist nicht unsere Haltung.
    "Wir sollten ein Thema suchen, wo es eine realistische Zielsetzung gibt, und das ist die Zollunion"
    Barenberg: Das klingt, offen gesagt, Graf Lambsdorff, ein bisschen so, als wenn Sie in so einem Grundlagenvertrag das für Europa Gute, sagen wir wirtschaftliche Beziehungen, niederlegen wollen und alles Problematische ausklammern wollen und sagen, da müssen wir gar nicht drüber reden, da sind wir uneins, aber das lassen wir jetzt mal außen vor.
    Graf Lambsdorff: Nein! Im Gegenteil! Es geht darum, dass wir das für beide Seiten Gute voranbringen. Wir nehmen mal das Thema Zollunion. Wir haben ja mit der Türkei als Europäische Union eine Zollunion. Die gilt aber nur für bestimmte Waren. Und aus türkischer Sicht gibt es seit vielen Jahren den Wunsch, diese Zollunion zu vertiefen, zum Beispiel auf Dienstleistungen auszudehnen, auf das öffentliche Beschaffungswesen, Teile des Agrarmarktes und so weiter. Das ist ein Interesse der Türkei. Wir halten es für richtig als Liberale zu sagen, lasst uns darüber reden. Beide Seiten hätten etwas davon, wenn es gelänge, diese Verhandlungen erfolgreich zum Abschluss zu bringen, weil der Wirtschaftsaustausch belebt wird. Aber dann hätten wir einen lebendigen Verhandlungsprozess mit einem realistischen Ziel und dann hätten wir auch wieder Einfluss in der Türkei. Zurzeit - in den Beitrittsgesprächen findet ja nichts statt - haben wir diesen Einfluss einfach nicht.
    Barenberg: Die EU-Staaten werden sich in Kürze entscheiden müssen, ob diese Verhandlungen über den Ausbau der Zollunion auf den Weg gebracht werden sollen. Man steht da im Wort bei der Türkei und hat gesagt, Ende 2016 werden wir dazu eine Haltung finden. Sie sprechen sich hier eindeutig dafür aus, das zu tun?
    Graf Lambsdorff: Ja, eindeutig! Das ist ein Punkt, wo wir uns zum Beispiel von den Grünen unterscheiden. Die Grünen haben gesagt, wir wollen mit der Türkei über dieses Thema nicht reden, weil die Verbesserung der Wirtschaftsbeziehungen, das läge im Interesse der türkischen Regierung. Dann sagen wir: Ja gut, aber wenn wir einen Beitrittsprozess fortführen, in dem es nur gegenseitige Vorwürfe, aber keinerlei konstruktive Gespräche gibt, dann ist das auch nicht der Weisheit letzter Schluss. Sondern im Gegenteil, wir sollten ein Thema uns suchen, wo es eine realistische Zielsetzung gibt, und das ist die Zollunion, verhandeln miteinander, und dann am Ende auch unter Bewertung der politischen, der innenpolitischen Entwicklung in der Türkei sagen, machen wir unsere Unterschrift drunter, ratifizieren wir das als Europäisches Parlament ja oder nein. Und wenn die Situation sich ungünstig weiterentwickelt in der Türkei, gerade bei den Themen, die für uns als Liberale so wichtig sind, Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, Unabhängigkeit der Justiz, dann kann ich mir auch vorstellen, dass wir einem Abkommen erst mal nicht zustimmen. Nur gar nicht erst zu verhandeln, das hielten wir für falsch.
    Barenberg: Und den Kritikpunkt, ich höre ihn schon, dass Sie da mit zweierlei Maß messen, dass Sie sagen, wir sind an Wirtschaftskontakten interessiert und an Verbesserungen, aber das andere spielt jetzt mal keine Rolle, den lassen Sie sich gefallen?
    Graf Lambsdorff: Nein, den muss ich mir nicht gefallen lassen. Denn auf liberales Drängen ist ja in die Resolution des Europäischen Parlamentes hinein gekommen, dass wir die Zuschüsse für die türkische Zivilgesellschaft, mit der wir ja im intensiven Gespräch sind, aus dem europäischen Instrument für Demokratie und Menschenrechte - das ist ein Haushaltsposten, der schon ziemlich substanziell ist -, dass wir diese Zuschüsse an die türkische Zivilgesellschaft, an die Menschen, die sich dort für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einsetzen, dass wir diese Zuschüsse deutlich erhöhen wollen. Weil wir der Meinung sind, dass, wenn mit den Beitrittsverhandlungen Schluss gemacht wird, natürlich auch die Vorbeitrittshilfen nicht mehr gezahlt werden können. Das ist ja widersinnig. Wir wollen aber die Zivilgesellschaft gerade nicht alleine lassen, sondern ihr helfen in ihrem Kampf um Demokratie und Menschenrechte.
    Beitritt der Türkei zur EU als Vollmitglied: "Wir haben keinerlei demokratische Unterstützung dafür"
    Barenberg: Da sind Sie dann wieder auf einer Linie und einig mit den Grünen. Denn Grünen-Chef Özdemir hat ja gerade gestern betont, wie wichtig es aus seiner Sicht ist, gerade der türkischen Zivilgesellschaft das Signal zu senden, dass man an ihrer Seite steht.
    Graf Lambsdorff: Ganz genau. Und wir sagen, wir denken, aber die Beziehungen ganzheitlich von der Sicherheitspolitik - ich habe über unsere Bundeswehrsoldaten gesprochen -, über die Wirtschaftspolitik, was die Zollunion angeht, bis hin zur Frage Menschenrechtspolitik und Rechtsstaatlichkeit. Wir denken das ganzheitlich und denken, man muss die Dinge auch miteinander im Zusammenhang sehen. Nur eines, da bin ich wirklich fest von überzeugt, wird nicht stattfinden, sollte nicht stattfinden und kann nicht stattfinden: Das ist ein Beitritt der Türkei zur Europäischen Union als Vollmitglied. So etwas ist schlechterdings nicht vorstellbar. Wir haben keinerlei demokratische Unterstützung dafür und wir müssen als Europäische Union schon ein bisschen auf das hören, was auch in der Bevölkerung gedacht und gefühlt wird, und seit vielen, vielen Jahren ist ja da die Lage völlig eindeutig. In den allermeisten Ländern wird ein Türkei-Beitritt einfach abgelehnt.
    Barenberg: Alexander Graf Lambsdorff, der Vizepräsident des EU-Parlamentes, heute hier live in den "Informationen am Morgen". Vielen Dank für das Gespräch.
    Graf Lambsdorff: Danke Ihnen, Herr Barenberg.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.