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EU-Gipfel
"Die Verträge werden wir nicht öffnen"

Nach dem EU-Gipfel in Brüssel herrscht Optimismus, sich mit Großbritannien über Reformen einigen zu können. Anders als Bundeskanzlerin Angela Merkel hält es der CDU-Europapolitiker Gunther Krichbaum aber nicht für wahrscheinlich, dass EU-Verträge geändert werden. Im DLF sagte er, dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht angetastet werden kann.

Gunther Krichbaum im Gespräch mit Christoph Heinemann | 18.12.2015
    Gunther Krichbaum, CDU, Vors. des Europaausschusses im Bundestag.
    Gunther Krichbaum, CDU. (picture alliance / dpa / Zipi)
    "Die Verträge werden wir nicht öffnen", so Krichbaum. Der britische Premier David Cameron wolle vier zentrale Forderungen durchsetzen. Nicht alle seien problematisch. Wenn es beispielsweise um das Thema Wettbewerbsfähigkeit gehe, renne er damit offene Tore ein.
    Zwischen Arbeitnehmer- und Personenfreizügigkeit unterscheiden
    Die Arbeitnehmerfreizügigkeit einzuschränken, ginge aber nicht. Wer als EU-Ausländer in Großbritannien Steuern und Sozialversicherungsbeiträge zahle, sei dann schlechter gestellt als die Briten selbst. Die britische Regierung fordert unter anderem, dass EU-Ausländer vier Jahre keine Sozialleistungen erhalten.
    Krichbaum kritisierte im DLF, dass in der Debatte nicht ausreichend unterschieden würde. Neben der Arbeitnehmerfreizügigkeit gebe es auch die Personenfreizügigkeit. Die könne eingeschränkt werden – was Deutschland schon tue. Wer ohne Arbeitsvertrag einreise, müsse zum Beispiel Vermögen vorweisen.
    Europa muss unterschiedliche Geschwindigkeiten aushalten
    Frankreichs Präsident François Hollande hatte sich am Rande des EU-Gipfels in Brüssel für ein Europa der zwei Geschwindigkeiten ausgesprochen. Krichbaum unterstützt die Idee. Mit der Möglichkeit einer vertieften Zusammenarbeit einiger Staaten habe man dieses Europa bereits. "Großbritannien möchte langsamer unterwegs sein, das müssen wir in Europa aushalten."

    Das Interview in vollständiger Länge:
    Christoph Heinemann: Dabei sein oder nicht dabei sein, das ist im kommenden Jahr die Frage, wenn David Cameron seine Inselbewohnerinnen und Bewohner über Britanniens Verbleib in der Europäischen Union abstimmen lässt. Übrigens genau gesagt: 2017 soll die Abstimmung stattfinden. Für Briten und Rest-Unions-Europa geht es dabei um sehr viel und deshalb setzt der Premierminister seinen Kolleginnen und Kollegen die Pistole auf die Brust. Einiges muss sich in Brüssel ändern, bevor er, Cameron, seinen Landsleuten ein Ja zu Europa empfehlen kann.
    Der Stuhlkreis der Staats- und Regierungschefs saß in Brüssel bis in die Nacht zusammen.
    Am Telefon ist Gunther Krichbaum (CDU), der Vorsitzende des Europaausschusses des Deutschen Bundestages. Guten Morgen.
    Gunther Krichbaum: Schönen guten Morgen, Herr Heinemann.
    Heinemann: Herr Krichbaum, bekommt David Cameron auch ohne Handtasche was er möchte?
    Krichbaum: So einfach wird es nicht sein, denn Frau Riedel hat zu Recht darauf hingewiesen: Die Verhandlungen werden jetzt richtig aufgenommen.
    Allerdings: Man sollte auch nicht zu viel davon erwarten können, weil letztlich geht es auch um wesentliche Vertragsbestandteile, und die Verträge werden wir nicht öffnen.
    "Wir können innerhalb der Europäischen Union nicht Unionsbürger diskriminieren"
    Heinemann: Wieso bekommt Großbritannien schon wieder eine Extrawurst?
    Krichbaum: Das wird die Frage sein, ob es überhaupt zu dieser Wurst kommt. Denn im Augenblick möchte Herr Cameron, wie eben dargestellt, vier zentrale Forderungen durchsetzen. Wenn es um die Wettbewerbsfähigkeit geht und um die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit, rennt er bei uns ein offenes Tor ein. Das wird kein Problem sein. Aber sicherlich dann, wenn es um die Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit geht, ganz konkret darum, dass Arbeitnehmer, EU-Arbeitnehmer erst nach vier Jahren Sozialleistungen in England beziehen können sollen. Das geht nicht. Das hieße ja auch, dass, wenn ein Deutscher in Großbritannien arbeitet, er Sozialversicherungsbeiträge und Steuern bezahlt, dann schlechter gestellt würde als sein britischer Kollege, und das geht nicht.
    Heinemann: Was spricht dagegen?
    Krichbaum: Die Diskriminierung. Wir können innerhalb der Europäischen Union nicht Unionsbürger diskriminieren. Es gibt die sogenannten vier Grundfreiheiten. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist eine davon. Und was man in Großbritannien erlebt: Es gibt überhaupt gar keine Unterscheidung zwischen der Personen- und der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Das sind zwei Paar Stiefel. Die Personenfreizügigkeit: Hier kann man sehr wohl Beschränkungen auferlegen. Das machen wir in Deutschland im Übrigen auch.
    Wenn jemand aus einem anderen EU-Land kommt und hat keine Arbeit und keinen Arbeitsvertrag, dann muss er beispielsweise auch eine Krankenversicherung nachweisen oder ausreichende Vermögensverhältnisse, damit er im Falle des Falles dem Staat nicht zur Last fällt.
    Heinemann: Herr Krichbaum, der österreichische Bundeskanzler Werner Faymann droht EU-Staaten, die sich weiterhin weigern, Flüchtlinge aufzunehmen: Denen drehen wir den Geldhahn zu. Bei uns im Deutschlandfunk drückte sich Faymann so aus:
    Werner Faymann: "Ich finde, man kann Solidarität nicht zweiteilen. Man kann nicht sagen, einmal ist Europa groß geschrieben, wenn man Unterstützung und Subventionen benötigt, wenn man gemeinsame Budgets hat, in die die einen mehr einzahlen als die anderen. Da ist die Solidarität zu Recht gefordert.
    Das gilt aber bei Flüchtlingen auch. Und deshalb würde ich das bewusst vermischen, nämlich zu sagen, Solidarität ist keine Einbahnstraße. Solidarität gilt nicht nur bei Subventionen, sondern auch bei der gemeinsamen Bewältigung der Flüchtlingsfrage."
    "Das ist streng genommen keine Erpressung"
    Heinemann: Erst Cameron, dann Faymann - geht in dieser EU eigentlich irgendetwas noch ohne Erpressung?
    Krichbaum: Ich glaube, das was Werner Faymann vorschlägt, ist streng genommen keine Erpressung, weil bei Lichte besehen handelt es sich natürlich bei der Bewältigung der Flüchtlingsströme nicht um eine deutsche oder österreichische oder schwedische Aufgabe alleine, sondern es ist eine europäische Herausforderung. Und dann ist es sicherlich richtig, dass wir auch innerhalb des Haushaltes darüber nachdenken, wie wir die Prioritäten neu setzen.
    Das heißt, wir brauchen dann natürlich auch das Geld tatsächlich für die Bewältigung und für die Aufrechterhaltung und Errichtung der Infrastruktur für die Flüchtlinge. Und dann muss ich auch dazu sagen: Da hat Werner Faymann völlig recht. Dann wird eben mal die eine oder andere Straße in Tschechien oder der Slowakei nicht gebaut, aber dafür auch die Infrastruktur für die Flüchtlinge.
    Heinemann: Aber, Herr Krichbaum, es ist doch ganz klar als Sanktion gemeint. Machen wir uns doch nichts vor.
    Krichbaum: Es geht aber tatsächlich um die Prioritätensetzung, und natürlich ist es so, dass sich Länder wie die Slowakei, Tschechien, Polen, Ungarn hier auch bewegen müssen. Sie müssen eben auch erkennen, dass der europäische Geist nicht nur dann vorhanden ist und vorhanden sein darf, wenn man auf den Kontoauszug blickt, sondern insbesondere, dass diese Europäische Union eine Solidarunion ist, dass wir untereinander und gegeneinander füreinander einstehen müssen, und das bleibt im Augenblick bei manchen osteuropäischen Staaten tatsächlich auf der Strecke.
    Heinemann: Und was europäischer Geist ist legt Berlin fest?
    Krichbaum: Nein! Das legt die Europäische Kommission fest. Das legt insbesondere die Europäische Union selbst fest.
    Heinemann: Wer ist denn die Europäische Union?
    Krichbaum: Bitte?
    Heinemann: Wer ist denn die Europäische Union?
    Krichbaum: Die Europäische Union sind alle Mitgliedsstaaten.
    Heinemann: Genau.
    Krichbaum: Ja natürlich! Aber das ist doch genau der entscheidende Punkt, wenn sich hier einzelne Mitgliedsstaaten dann vehement widersetzen, eine gesamteuropäische Aufgabe, die es nun einmal ist, anzugehen. Wenn beispielsweise dann Herr Fico aus der Slowakei sagt, wir nehmen schon Flüchtlinge, aber bitte nur Christen, dann ist das sicherlich mit dem europäischen Geist nicht vereinbar.
    "Wir müssen uns dieser Aufgabe gemeinsam stellen"
    Heinemann: Mit dem europäischen Geist ist, glaube ich, auch die schadhafte Telefonleitung nicht vereinbar. - Herr Krichbaum, haben frei gewählte Regierungen in Europa das Recht zu sagen, wir wollen keine Flüchtlinge?
    Krichbaum: Wir müssen uns dieser Aufgabe gemeinsam stellen. Das wird nicht funktionieren, wenn wir jetzt einfach den Kopf in den Sand stecken. Damit werden wir der Aufgabenlösung sicherlich nicht gerecht.
    Heinemann: Wir sind gerade hinter den Kulissen der Meinung, dass die Telefonleitung leider so nicht weitergeführt werden kann. Wir versuchen es gleich noch mal. Danke schön.
    Und da sind wir wieder zusammen mit einer hoffentlich besseren Telefonleitung. - Herr Krichbaum, eine Frage wollte ich auf jeden Fall noch stellen. Die Drohung oder auch Nicht-Drohung, die wir eben festgestellt haben, ist ja insofern keine, als die Haushalte ja festgezurrt sind. Das heißt, Veränderungen zum Beispiel bei den Strukturfonds sind vor 2020 überhaupt nicht möglich. Sind solche Drohungen, wie sie Werner Faymann da geäußert hat, ist das letztendlich Augenwischerei?
    Krichbaum: Nein, das sehe ich nicht so, weil wo Sie recht haben: Es gibt den sogenannten mehrjährigen Finanzrahmen. Das ist die Periode zwischen 2014 und 2020. Und aus diesem mehrjährigen Finanzrahmen, dem MFR, werden dann die jährlichen Haushalte herausentwickelt.
    Wahr ist, dass bestimmt 80 Prozent der Ausgaben von vornherein fixiert sind. Aber es gibt natürlich auch einen Anteil, über den man dann immer wieder neu befinden muss, die Dinge immer wieder auch auf den Prüfstand stellen muss, was Projekte angeht.
    Deswegen gibt es schon durchaus die Möglichkeit, hier Akzente zu setzen, und deswegen gebe ich hier Werner Faymann auch durchaus Recht, auch wenn er der anderen Parteifakultät angehört.
    "Wir sind eben kein Bundesstaat. Wir sind ein Staatenbund"
    Heinemann: Frankreichs Präsident François Hollande sagt jetzt, es muss in Zukunft oder es kann auf jeden Fall und es wäre vielleicht besser, wenn es das gäbe, ein Basiseuropa geben: Eines, wo einfach tiefer integriert werden kann, ohne Regierungen, die grundsätzlich immer Nein sagen. Unterstützen Sie seinen Vorstoß?
    Krichbaum: Na ja, das haben wir ja eigentlich schon, weil es können Mitgliedsstaaten im Rahmen der sogenannten verstärkten Zusammenarbeit bei einer bestimmten Anzahl von Mitgliedsstaaten vorangehen. Wir haben ja diese Projekte bereits, wenn man an den Euro denkt, wenn man auch an Schengen denkt. Das ist eine vertiefte Zusammenarbeit, bei der ja nicht alle Mitgliedsstaaten mitmachen oder auch mitmachen müssen.
    Deswegen gibt es tatsächlich heute schon in Europa diese zwei Geschwindigkeiten oder mehrere Geschwindigkeiten.
    Was Großbritannien angeht, weil Sie das ja auch eingangs gefragt haben: Großbritannien möchte da langsamer unterwegs sein. Das müssen wir, glaube ich, auch in einem Europa aushalten. Wir sind eben kein Bundesstaat. Wir sind ein Staatenbund. Das ist ein großer Unterschied. Und dann ist es wichtig, dass man am Ende auch zusammen bleibt.
    Heinemann: Der CDU-Europapolitiker Gunther Krichbaum. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.
    Krichbaum: Auf Wiederhören! Danke schön.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.