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EU-Gipfel in Ypern
Tagesgeschäft im Angesicht des Weltkriegs

100 Jahre nach dem Beginn des Ersten Weltkrieges ist die belgische Stadt Ypern noch immer Symbol für die Schrecken von damals. 60.000 Menschen starben, die Stadt wurde fast vollständig zerstört. Heute treffen sich dort die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union.

Von Annette Riedel | 26.06.2014
    Auf dem Stadttor in Ypern sind die Namen von tausenden gefallenen Soldaten eingemeißelt.
    Auf dem Stadttor in Ypern sind die Namen von tausenden gefallenen Soldaten eingemeißelt. (picture alliance/dpa/Frank Schumann)
    „Me and my colleagues will be waiting for the heads and governments upstairs..."
    Piet Chielens wird mit seinen Kollegen die EU-Staats- und Regierungschefs am frühen Abend im alten Tuch-Haus in Ypern empfangen. Im 13. Jahrhundert wurde es als Markt- und Lagerhalle der Tuchhändler gebaut, war seinerzeit das größte, nicht sakrale gotische Bauwerk weltweit.
    „The building we are in was set on fire."
    Wie fast die ganze Stadt Ypern wurde die Tuchhalle von den Deutschen im Ersten Weltkrieg vollständig zerstört, sie brannte bis auf die Grundmauern nieder. Nach dem Krieg wurde sie, wie die Stadt, möglichst originalgetreu wieder aufgebaut. Die ehemalige Tuch-Halle beherbergt heute das Flandern Fields Museum, das Museum zum ersten Weltkrieg. Piet Chielens ist der Kurator der Ausstellung. Einige der EU-Staats- und Regierungschefs wird er persönlich durch die Ausstellung führen.
    „Den Staatschefs, die ich führen werde, werde ich mit Sicherheit diese Listen hier zeigen. Dazu muss man wissen, dass der Erste Weltkrieg auch der „Krieg der Kriege" genannt wurde und dass der damalige britische Premier am Kriegsende 1918 gesagt hat: Heute ist ein Krieg zu Ende gegangen, der den Krieg abschafft. Die Welt hat, so gesehen, natürlich versagt. Auf den Plakaten hier sehen Sie all die Kriege seit 1919, bis zum syrischen Bürgerkrieg aufgelistet."
    Die Regierenden der EU-Länder werden im Flandern Field Museum vorbei gehen an Schaukästen mit Original-Uniformen, Ausrüstung, Munition. Sie werden – unterlegt von düsteren Orgelklängen – interaktive Karten sehen, die den wechselnden Verlauf der sogenannten Westfront zeigen. Bei den Schlachten rund um den westbelgisch-flämischen Ort Ypern kamen in verlustreichen Kämpfen zwischen den Deutschen und den Briten und ihren Verbündeten 1914/1915 allein 60.000 Menschen um. Und sie werden originalen Zeugenaussagen über das Grauen des Krieges lauschen können. Auf diversen Videos nachgestellt, geben Schauspieler in mehreren Sprachen wider, was die Soldaten aller Kriegsparteien an Grauenvollem erlebten. Zum Beispiel dieser Deutsche, der Zeuge des ersten Giftgas-Einsatzes seiner Armee wurde:
    „Wir liefen an den leeren Gasflaschen entlang. Was wir sahen war tot. Nichts bewegte sich. Und nichts lebte mehr. Sogar das Ungeziefer war aus den Höhlen herausgekrochen, um zu sterben. Überall lagen tote Ratten und Mäuse. Der Gasgeruch hing in der Luft."
    Die Staats- und Regierungschefs würdigen den Frieden in Europa
    Piet Chielens sagt: „Es ist deshalb wichtig, dass die europäischen Führer hierherkommen. Es ist mehr als ein rein symbolischer Akt. Wenn sie durch dieses Museum gehen, können sie besser begreifen, was sie tun oder tun sollten, worum es bei der EU geht. Sie wurde aus der Asche zweier Weltkriege geboren. Da hinten das Gebäude mit dem schwarzen Dach - da drinnen gibt es einen großen Saal und da werden sich die Regierenden zum Abendessen treffen."
    Zuvor aber werden sie am rund 350 Meter entfernten Menem-Tor sein, einem Monument im Kolonialstil, das sich über die Straße wölbt wie eine Art Triumphbogen. Was es nicht ist, eigentlich nicht sein kann, auch wenn es von der sieghaften Armee der Commonwealth-Staaten gebaut wurde. Triumph kann es bei so vielen Toten nicht geben. In die Wände des Menem-Tores sind zig Tausend Namen ihrer in den Schlachten vermissten Soldaten eingraviert, denen nicht einmal mehr der letzte Dienst eines ordentlichen Grabes erwiesen werden konnte. Das Menem-Tor war das erste Monument zur Erinnerung an vermisste Soldaten weltweit.
    „Die EU-Führer werden hier die Treppen hoch auf den Wall neben dem Tor gehen. Dort werden sie ein neues Kriegsdenkmal enthüllen. Ein bisschen etwas kann man schon sehen. Es ist eine Art metallener Reifen, der innen bepflanzt und auf dem in allen EU-Sprachen das Wort ‚Frieden' eingraviert ist."
    Zum Abschluss des Erinnerns an den Ersten Weltkrieg in Ypern werden die EU-Staats- und Regierungschefs vor dem gemeinsamen Abendessen den Zapfenstreich am Menem-Tor hören. Diesen Zapfenstreich gibt es seit dem Ende des Ersten Weltkrieges jeden Abend um 20 Uhr. Nur während des Zweiten Weltkriegs verboten ihn die Nazis. In der kommenden Woche wird er zum 30.000. Mal geblasen.
    „Heute gibt es ihn zweimal. Einmal wie immer und einmal speziell für die Regierenden der EU-Länder schon rund zwei Stunden früher."
    Zum morgigen zweiten Gipfel-Tag sind die Staats- und Regierungschefs dann wieder in Brüssel. Und dann geht es nicht mehr um das Gestern, sondern um das Heute und Morgen. Um Weichenstellungen für Personalpakete, die politische Agenda der kommenden Jahre und um die Ukraine-Krise.