Dienstag, 19. März 2024

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EU-Gipfel
"Wir brauchen einen gut gehenden Nachbarn"

Die Brexit-Verhandlungen auf eine Konfrontation zulaufen zu lassen, sei weder im Interesse europäischer Unternehmen noch seiner Bürger, sagte der Politikwissenschaftler Wolfgang Wessels im Dlf. Beide Seiten müssten sich bewegen, das sei bei dem EU-Gipfel in Brüssel deutlich geworden.

Wolfgang Wessels im Gespräch mit Philipp May | 20.10.2017
    Die britische Premierministerin Theresa May (re.) setzt an, um EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker neben sich die Hand auf den Rücken zu legen.
    Am Ende müssten beide Seiten mit dem Ergebnis leben können, sowohl die EU als auch Großbritannien, sagte Politikwissenschaftler Wolfgang Wessels im Dlf. (dpa/AP Pool/Virginia Mayo)
    Philipp May: Die EU hat verstanden, dass nach dem Abschied der Briten nichts mehr so bleiben kann wie es ist. Das ist die Meinung von Peter Kapern aus unserem Deutschlandfunk-Studio in Brüssel. Seinen Kommentar können Sie nachhören unter deutschlandfunk.de/kommentar, und darüber spreche ich jetzt mit dem Politikwissenschaftler Wolfgang Wessels aus Köln. Schönen guten Abend!
    Wolfgang Wessels: Guten Abend!
    May: Herr Wessels, die EU hat also verstanden, dass sich was ändern muss. Nur, verstehen ist ja das eine, machen das andere? War dieser Gipfel also ein Schritt nach vorne?
    Wessels: Ich glaube, es ist insofern ein Schritt nach vorne, dass alle jetzt noch mal verstärkt sehen, dass sie was tun müssen, also auf alle Fälle die britische Seite. Ihr wurde doch sehr deutlich gemacht, dass man nicht auf allgemeine Hinweise hin neue Verhandlungen beginnt, aber auch für die EU, glaube ich, sollte deutlich werden, dass man nicht ganz nur alles auf eine Konfrontation hinauslaufen lassen sollte, denn das ist nicht gut für Großbritannien, denn wir brauchen ja wirklich einen gut gehenden Nachbarn auch weiterhin, und es ist natürlich nicht gut für viele europäische Unternehmen und europäische Bürger. Also da muss was geschehen, aber es ist eben ein typisches Verhandlungsmuster: Man baut sich auf, stellt Forderungen, und man muss dann sehen, wie sie sich lösen. Da ist kein Schritt gemacht worden, aber ich glaube, die Lage ist jetzt für alle noch mal deutlicher geworden.
    Auch die EU müsse sich bewegen
    May: Es ist auch ein bisschen ein Ritt auf der Rasierklinge. Auf der einen Seite darf man den Briten ja auch nicht zu sehr entgegenkommen, weil sonst würde das Beispiel möglicherweise Schule machen oder sehen Sie die Gefahr nicht?
    Wessels: Ach, das sehe ich an sich nicht, dass das Schule macht. Natürlich ist die Frage, wie man in Zukunft mit den Briten umgeht, eine ganz zentrale Frage. Im Augenblick konzentriert man sich ja erst mal auf die Scheidungskosten und nicht, was man nach der Scheidung gemeinsam macht. Das ist natürlich notwendig, aber aus meiner Sicht doch auch kurzfristig gesehen. Natürlich hat die EU eine starke Verhandlungsposition, die nutzt sie im Augenblick auch, und hält auch alle 27 zusammen. Insofern ist sie ganz gut aufgestellt, aber sie darf nicht verkennen, dass sie sich auch bewegen muss.
    "Jeder muss was herausbekommen, womit er einigermaßen leben kann"
    May: Also starke Verhandlungsposition hin oder her, eigentlich ist der Vorschlag der Briten oder der Weg der Briten, dass man sagt, man muss beides zusammen verhandeln, sowohl die Scheidungsmodalitäten als auch das zukünftige Verhältnis. Zusammen verhandeln, das ist eigentlich der richtigere beziehungsweis der bessere Weg?
    Wessels: Also am Schluss muss es, wie es immer so schön heißt, ein großes Verhandlungspaket geben. Jeder muss was herausbekommen, womit er einigermaßen leben kann, und das ist eben nicht nur die Kosten, die für Großbritannien stehen, dass sie noch weiter etwas finanzieren müssen, sondern eben auch, dass sie sagen kann, das eine oder andere im Handel und in den Beziehungen zur EU geht weiter einigermaßen sinnvoll. Das ist natürlich eine große Frage, wie es sinnvoll weitergehen kann und wie man wirklich kooperieren kann, ohne den Briten irgendwas Besonderes zu bieten, aber die Aufgabe stellt sich natürlich für alle, und das muss jetzt etwas verstärkt angegangen werden.
    May: Dann gehen wir schon mal einen Schritt weiter. Irgendwann, so oder so, werden die Briten draußen sein, und dann geht es weiter. Jetzt wird ja in der EU gerade stark darüber diskutiert, viele Reformvorschläge liegen auf dem Tisch, wie man sich dann neu positionieren wird, um ein weiteres Auseinanderdriften auch zu verhindern. Was muss sich ändern?
    Wessels: Zunächst mal passiert ja schon vieles. Wenn man die Schlussfolgerung des Europäischen Rats noch mal in Ruhe liest, dann sieht man zum Beispiel, dass auf dem Gebiet der Sicherheits- und Verteidigungspolitik einige Schritte unternommen werden, begrenzte, aber soweit es aussieht, wirkliche Schritte. Das ist ermöglicht worden, weil die Briten nicht mehr mitmachen in dem Bereich oder nicht mehr blockieren können, wie sie es lange Zeit gemacht haben.
    Große Fragen der Eurozone bleiben vorerst offen
    May: Also auch eine Chance für die EU?
    Wessels: Ja, sicherlich auf diesem Gebiet eine Chance weiterzukommen. Es wird auch einiges gemacht im Bereich der Außengrenzen. Es wird einiges vorgeschlagen im Bereich der Digitalisierung. Einiges bleibt noch relativ vage, aber es ist wie üblich, man muss eben Schritt für Schritt gehen, und ich denke, da hat der Europäische Rat ein paar Schritte gemacht. Die großen Fragen, nämlich der Ausbau insbesondere der Währungsunion und der Eurozone, wie der französische Präsident es möchte, das bleibt natürlich im Augenblick offen, und das hat die Bundeskanzlerin heute ja auch noch mal deutlich gemacht. Bevor da ein Koalitionspapier und eine Regierungserklärung von ihr im Bundestag erfolgt sind, wird sie keine Verhandlungen im konkreten Sinne führen können und wollen.
    May: Wie problematisch ist das, dass jetzt im Prinzip ausgerechnet in Deutschland, der vermeintlich mächtigste europäische Akteur, die Räder stillstehen in allen europäischen Fragen, bis es dann irgendwann mal eine gemeinsame Regierung möglicherweise gibt mit der FDP?
    Wessels: Also einmal steht natürlich nichts still, sondern es wird eine tagtägliche Arbeit. Das geht ja weiter, und insofern, würde ich jetzt erst mal sagen, ist keine Blockade genereller Art festzustellen. Aber in dem Bereich der Zukunftsüberlegungen, da muss man natürlich jetzt auf die deutsche Bundesregierung warten, und auch das sprechen Sie zu Recht an: wie weit also einige Parteien, insbesondere die FDP, da vielleicht einige Bremsen, rote Linien einziehen möchte, aber das ist eben noch offen, und auch da wird am Schluss so etwas wie ein Verhandlungspaket wahrscheinlich sein, dass man einiges umsetzen kann, auch was direkt im primären Interesse Deutschlands liegt, aber andererseits natürlich auf die Franzosen und andere Mitgliedsstaaten auch eingehen muss.
    May: Wie groß ist denn die Gefahr der FDP für Europa, so wie das jetzt einige Kommentatoren ja immer wieder zeichnen?
    Wessels: Da werde ich jetzt erst mal etwas ruhiger sein. Wir wissen, dass ja vor Koalitionsverhandlungen jede Partei erst mal seine Extrempositionen formuliert, auch um die eigenen Wähler, die eigenen Mitglieder zu beruhigen, und dann kommt nachher etwas raus, was einiges wieder infrage stellt oder einiges zurückführt von den Extremforderungen. Also ich würde das jetzt mal etwas ohne zu viel Aufmerksamkeit oder Aufregung angehen, aber ich glaube, diese Positionen sollte man auch nicht unterschätzen.
    Harte Auseinandersetzungen zum Thema EU im Bundestag programmiert
    May: Muss Deutschland denn grundsätzlich großzügiger sein, Stichwort Transferunion, damit Europa gelingen kann oder wäre das ja möglicherweise gerade auch der Sargnagel für Europa, weil dann tatsächlich zum Beispiel gerade in Deutschland, wo es ja eigentlich noch eine hohe Zufriedenheit oder eine Zustimmung zur EU gibt, sich die Leute dann auch irgendwann abwenden würden?
    Wessels: Also ich glaube, was man sehen muss ist, dass gerade Deutschland eine Verantwortung hat, gemeinsam mit den anderen Staaten und mit den Organen der Union. Wir dürfen nicht vergessen, wir haben ein direkt gewähltes Parlament, gemeinsam die Zukunft zu gestalten, und da muss man natürlich bei einigen Punkten auch Solidarität beweisen, aber Solidarität ist ja keine Einbahnstraße, sondern das müssen auch andere machen. Wir kennen das in der Geschichte: Alle deutschen Bundeskanzler haben ja immer wieder Europa in den Vordergrund gestellt, sie haben dafür deutsche Interessen nicht geopfert, sondern in einen größeren Kontext eingebracht. Das muss sorgfältig austariert sein, das muss innenpolitisch diskutiert sein, das muss vielleicht hier und dort etwas deutlicher gemacht werden, und ich schätze schon, dass im Bundestag da ganz harte Auseinandersetzungen jetzt kommen werden, angesichts der Zusammensetzung des Bundestags, aber das kann auch dazu führen, und das sollte dazu führen, dass man auch deutlich macht, ja, diese Investition in Europa ist sinnvoll, weil sie auch im Interesse Deutschlands ist.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.