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EU-Kommission
"Juncker versucht Kritiker in die Kompromissmaschine einzubinden"

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker erntet für seine Personalbesetzung viel Kritik. Die Wissenschaftlerin Almut Moeller vom Alfred von Oppenheim-Zentrum für Europäische Zukunftsfragen sieht das anders. Juncker nehme EU-Kritiker aus Frankreich und Großbritannien in die Verantwortung, sagte Moeller im DLF.

Almut Moeller im Gespräch mit Dirk Müller | 11.09.2014
    Die Flagge der Europäischen Union weht vor wolkenverhangenem Himmel.
    Die Flagge der Europäischen Union weht vor wolkenverhangenem Himmel. (picture alliance / dpa / Soeren Stache)
    Nach Ansicht der Wissenschaftlerin Moeller will Juncker gegen die alten Vorstellungen von der EU arbeiten. "Der Ansatz ist interessant", sagte Moeller. Zudem mache er deutlich, dass er politische Schwergewichte und Leute mit Expertise zum Kommissar ernenne. "Juncker will auf den extremen Druck reagieren, der sich bei der Besetzung der Kommission aufgebaut hat", sagte Moeller.
    Juncker habe gerade viele Kritiker berufen, die nun in der Verantwortung stehen würden. Dazu zählte Moeller den designierten EU-Wirtschaftskommissar Pierre Moscovici aus Frankreich und den designierten Kommissar für Finanzstabilität Jonathan Hill aus Großbritannien. "Sie müssen jetzt zeigen, dass sie bessere Alternativen haben."
    Dass Deutschland mit der Wahl Günther Oettingers als Kommissar für digitale Strategie abgestraft worden sei, sieht Moeller nicht. "Deutschland besetzt sehr gewichtige Positionen in anderen europäischen Institutionen wie dem Parlament", sagte sie. Deutschland habe an vielen Stellen Gelegenheit seine Interessen voranzubringen.
    Das Interview können Sie bereits hier vollständig nachhören und nachlesen.

    Dirk Müller: Kann das denn wahr sein, fragen sich nicht nur viele in der deutschen Politik, in den Medien, in der Öffentlichkeit? Kann das wahr sein, dass Pierre Moscovici neuer EU-Wirtschaftskommissar wird? Eben jener Ex-Minister und Sozialist, der schon den französischen Haushalt komplett gegen die Wand gefahren hat. Und ausgerechnet ein Brite namens Jonathan Hill soll für die Finanzen in Europa zuständig sein, aus jenem Land also stammend, das seit Jahrzehnten alles dafür tut, neue Regeln und Reformen für die Finanzplätze und Börsen zu torpedieren. Und Günther Oettinger, bislang Energiekommissar, er darf sich künftig mit der digitalen Wirtschaft auseinandersetzen, obwohl er das offenbar gar nicht wollte. Und er hat noch einen Superkommissar, was immer das auch sein mag, als Controller über sich. So kann er eben sein, Jean-Claude Juncker, der neue Chef der neuen Kommission, die noch vom Parlament bestätigt werden muss.
    Es gibt also reichlich Kritik an den Plänen von Jean-Claude Juncker, an der neuen EU-Kommission. Wir hören dazu noch einmal Jo Leinen (SPD) und Rebecca Harms von den Grünen. Beide sind sie Abgeordnete im Europäischen Parlament.
    O-Ton Jo Leinen: "Also das ist eine sehr zweifelhafte Entscheidung, ausgerechnet einen britischen Kommissar mit dem Finanzmarkt zu betrauen, wo London immer gegen die Regulierung des Finanzkapitals war."
    O-Ton Rebecca Harms: "Das mag für Cameron gut sein. Das ist aber für die Finanzmarktregulierung in Europa, die dringend nötig ist, Gift."
    Müller: Kritik also von Jo Leinen (SPD) und Rebecca Harms von den Grünen. – Am Telefon ist nun die Politikwissenschaftlerin und Europakennerin Almut Moeller vom Alfred von Oppenheim-Zentrum für Europäische Zukunftsfragen. Guten Morgen nach Berlin.
    Almut Moeller: Guten Morgen, Herr Müller.
    Müller: Frau Moeller, wie schlecht muss man sein, um EU-Kommissar zu werden?
    Moeller: Das ist natürlich eine provokante Frage. Ich glaube, man kann sehen, dass Jean-Claude Juncker genau versucht hat, diesen Eindruck auszuräumen. Er will arbeiten gegen diese alten Vorstellungen von der Europäischen Union, hast Du einen Opa. Er will Zukunftsthemen besetzen. Er will auch ganz deutlich machen – das hat er selbst in seinen Pressemitteilungen ja artig auflisten lassen -, das sind politische Schwergewichte, die jetzt kommen, das ist ein hoher Frauenanteil, das sind Leute, die Expertise haben, die etwas von den Themen verstehen.
    Das heißt, Jean-Claude Juncker will versuchen, auf den extremen Druck zu reagieren, der sich ja auf diesem Thema der Neubesetzung der Kommission aufgebaut hat, denn das ist ja ein Thema, was die Europäische Union schon seit den 1990ern spätestens mit sich herumschleppt: Wie kann man eigentlich eine wachsende Kommission mit inzwischen 28 Kommissaren so vernünftig organisieren, dass die Portfolios Sinn machen und dass anschließend am Ende auch eine Politik rauskommt, die gut für Europa ist, und nicht ein Vielstimmenkonzert, in dem viele kleine Einzelmeinungen repräsentiert sind. Insofern: Den Ansatz, den er gewählt hat, finde ich interessant und er versucht, gerade gegen diese Vorurteile ein starkes Zeichen zu setzen.
    Kritiker in die Kompromissmaschine eingebunden
    Müller: Wenn Sie sagen, Frau Moeller, Schwergewichte – ich kenne jetzt die Figur von Pierre Moscovici nicht, habe ich jetzt nicht im Kopf, aber er ist ja offenbar so schwer gewesen, dass er in Frankreich gescheitert ist, und soll jetzt an die Spitze der Europäischen Kommission. Wie kann man das erklären?
    Moeller: Das ist interessant. Nach meiner Einschätzung wählt Jean-Claude Juncker im Wesentlichen zwei Prinzipien für diese Neubesetzung der Kommission aus. Erstens hat er besonders laute Kritiker in die Verantwortung genommen. Dazu gehört sicherlich auch der französische Kommissar Moscovici. Dazu gehört auch der im Beitrag erwähnte Kommissar Hill aus Großbritannien. Dazu gehört auch ein griechischer Kommissar mit Fragen von Migration. Die Niederländer bekommen das für sie sehr wichtige und oft sehr kritisch gesehene Thema Subsidiarität. Das heißt, er versucht, an Stellen, die für einzelne Mitgliedsstaaten wirklich Problemfelder waren in der Vergangenheit, oder sind, diese Kommissare gerade aus den Mitgliedsstaaten in die Pflicht zu holen.
    Müller: Also ein bisschen vom Saulus zum Paulus?
    Moeller: Ja, um zu gucken, dann zeigt doch mal, wie eure Alternativen aussehen. Denn es ist ja auch immer einfach, in der Europäischen Union von der Seitenlinie dann zu schießen. Wenn man einmal in der Verantwortung ist, muss man natürlich zeigen, dass man im Zweifel bessere Alternativen hat. Das heißt, es ist der Versuch – ich weiß nicht, ob es am Ende so gut gelingen wird -, die Kritiker mit in die Kompromissmaschine reinzunehmen.
    Und der zweite Punkt wäre, das zweite Prinzip vielleicht, wenn man es so nennen kann, eine Verschränkung dieser Kommissare durch diese Cluster-Bildung, die ja eben auch beschrieben worden ist, die ganz klar das Signal senden soll, wir beschäftigen uns mit Zukunftsthemen, und Herr Moscovici ist eingebunden, und zwar gleich von zwei Superkommissaren, wenn Sie so wollen, Vizepräsidenten mit überwacht, die sich mit dem Thema Arbeitsplätze und Beschäftigung und Euro-Fragen beschäftigen. Das heißt, er kann auch nicht alleine agieren. Es ist der Zwang zur Zusammenarbeit, es ist der Zwang zu Kooperation und Interessenausgleich und nur so kann ja die europäische Zusammenarbeit auch funktionieren. So deute ich seinen Ansatz hier. Es wird sich zeigen, ob das dann am Ende auch so erfolgreich ist.
    Müller: Es gibt Ansätze und es gibt immer wieder Zukunftsfragen. Das hört sich auch gut an. Die Europäische Union hat ja in der Gegenwart eigentlich schon genügend Schwierigkeiten, die gelöst werden müssen. Jetzt fragen sich viele: Günther Oettinger ist ja auch nun nicht gerade unumstritten, sein Auftreten, seine Präzision, auch seine Präsenz in Brüssel. Aber dennoch: Er ist der deutsche Kommissar. Deutschland ist das wichtigste, einflussreichste Land in der Europäischen Union und wird, wie viele Kritiker jetzt sagen, abgespeist. Warum ist das so?
    Kein deutscher Kommissar ist verständlich
    Moeller: Ich glaube, ich teile das nicht. Wenn man sich anschaut, dann ist es natürlich ganz klar: Für die Bundesregierung sind entscheidend momentan die Besetzungen, die sich beziehen auf die Weiterentwicklung der Eurozone. Das ist vitales Interesse auch hier für unser Land und insofern muss man sich fragen, wer ist denn eigentlich geeignet, auch dann diese deutschen Positionen mit zu vertreten. Und wäre es tatsächlich so passend und angemessen, wenn das von einem deutschen Kommissar oder einer deutschen Kommissarin beispielsweise mit vertreten würde? Die Frage muss man stellen.
    Müller: Absurd wäre das ja nicht.
    Moeller: Na ja. Auf der anderen Seite kann man sagen, wir haben in den letzten Jahren in Brüssel schon häufiger Stimmen gehört, die gesagt haben, wir haben hier ohnehin ein deutsches Europa, Deutschland besetzt sehr, sehr viele gewichtige Positionen in anderen Institutionen, im Europäischen Parlament, im Generalsekretariat des Rates, ist natürlich mit der Bundeskanzlerin als absolutes Schwergewicht im europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs vertreten.
    Müller: Aber wir haben beispielsweise einen Italiener an der Spitze der Europäischen Zentralbank.
    Moeller: Pardon?
    Müller: Wir haben einen Italiener an der Spitze der Europäischen Zentralbank. Der kommt ja auch nicht aus einem Land, was für Haushaltsdisziplin bekannt ist.
    Moeller: Na ja. Ich würde an dieser Stelle sagen, es ist eigentlich eine kluge Wahl und deutsche Interessen haben sicherlich auch an vielen, vielen Stellen Gelegenheit, abgebildet zu werden, und vielleicht eben nicht mit dem Vorwurf zum Beispiel, indem man sich anschaut, dass die Finnen und die Letten auch an den wichtigen Schaltstellen als Vizepräsidenten sitzen, die für die Wirtschafts-, Währungs- und Arbeitsplatzfragen relevant sind. Das sind ja auch Like-Minded-Länder, wenn man das mal so formulieren darf. Das heißt, man kann natürlich auch Interessen eleganter einbringen und sich nicht am Ende den Vorwurf anhören, dass man hier die deutsche Regelpeitsche schwinge und ein deutsches Europa mache. Natürlich, da muss man koalitionsfähig sein und da muss man eine gute Europapolitik machen.
    Müller: Reden wir, Frau Moeller, aber noch einmal über Oettinger, nicht im Detail, sondern er soll sich jetzt um digitale Wirtschaft kümmern. Da sagen viele, so unwichtig ist das gar nicht, das ist ein Zukunftsthema. Es wird sich noch zeigen, inwieweit die Europäische Union da Initiative ergreifen kann. Zugleich gibt es aber Superkommissare. Das heißt, die stehen noch über den anderen normalen regulären Kommissaren. Jetzt ist Günther Oettinger irgendwie so ein normaler Kommissar und er hat noch einen Controller über sich. Ist das akzeptabel?
    Moeller: Das ist ein altes Thema: Wie kann man die Kommission so organisieren? Es gab in den 1990er-Jahren mal Vorschläge, soll man sozusagen Senior- und Juniorkommissare einführen. Es dient der Überlegung, dass man das Ganze straffen muss, weil das Kollegium einfach so groß ist und nach jetziger Vertragslage bei jeder Erweiterung immer weiter wächst. Natürlich ist die Frage, wie reagieren denn eigentlich einzelne Kommissare auf diesen Zwang zur Zusammenarbeit, vielleicht sogar Zuarbeit, und hier hat Jean-Claude Juncker für sich deutlich gemacht, es geht um ein Spiel als Team. Da bin ich aber trotzdem eher abwartend, wie sich dann in der Arbeit dieser Bürokratie, denn unter den Kommissaren stehen ja dann jeweils die zuarbeitenden Generaldirektionen, wie sich das dann in der Praxis abbilden wird. Denn das sind ja zum Teil auch machtvolle Bürokratien, die hier agieren, und hier müssen wir wirklich ein paar Wochen, wenn nicht Monate abwarten, um das beurteilen zu können. Und wir werden auch sehen, ähnlich wie in Deutschland macht es natürlich einen Unterschied, welcher politischer Charakter man ist, ob man sich durchsetzen kann oder nicht.
    Müller: Frau Moeller, wir müssen leider Schluss machen, die Zeit wartet. Die Politikwissenschaftlerin und Europakennerin Almut Moeller. Danke für das Gespräch, auf Wiederhören nach Berlin.
    Moeller: Auf Wiederhören.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.