Aus den Feuilletons

Für Architekt Kollhoff ist Berlin voller misslungener Neubauten

Blick von der Spree aus: Neubauten vor Oberschöneweide an der Nalepastraße Berlin in Treptow-Köpenick
Für viele Neubauten in Berlin hat Architekt Hans Kollhoff kein Verständnis - hier ein Blick auf Häuser an der Nalepastraße im Berliner Bezirk Treptow-Köpenick. © imago/Jürgen Ritter
Von Hans von Trotha · 14.08.2018
Lieber im Knast wohnen, als in manch einem wenig gelungenen Berliner Neubau - das ist das Fazit eines Rundgangs der "Welt" durch Berlins neue Mitte. Ein Vergleich, der angesichts zahlreicher Verbrechen an Haftinsassen etwa in Russland schwer nach Stammtisch riecht.
Zu Mariä Himmelfahrt scheint das Sommerloch in der Kulturberichterstattung alljährlich seinen Höhepunkt, oder um im Bild genau zu bleiben: seinen Tiefpunkt zu erreichen.
Die Welt füllt den freien Raum im Feuilleton mit einer Begehung des nicht mehr freien Großstadtraums. Sie lässt den Architekten und Stadtplaner Hans Kollhoff Neubauareale in Berlin aufsuchen. Von "renditeoptimierten Quartieren" ist da die Rede, und ein Fazit des Stadtspaziergangs lautet: "Misslungene Neubauten werden … nicht dadurch besser, dass man die Regeln kennt, die einzuhalten waren."

Wie die Bewegung zu Google kommt

Der renditeoptimierte Standort sieht ja nicht selten verblüffend genau so aus wie seine Computersimulation. Das fühlt sich dann wahrscheinlich so an, als würde man in eine Google Maps Graphik ziehen. À propos: Unter dem Titel "Standortpolitik" geht Axel Weidemann in der FAZ etwas ganz anderem nach, einer Meldung nämlich, die eigentlich verstören und schockieren müsste, dann aber doch - auch bei ihm selbst - nur ein Achselzucken hervorruft: "Google-Maps verfolgt uns, auch wenn wir es verbieten", lautet der Aufmacher, und der erste Satz: "Geahnt hat man es schon lange; dass der kleine Schieberegler hinter dem Wort "Standort" obsolet ist: Jetzt haben wir Gewissheit: Eine Recherche der Agentur Associated Press … in Zusammenarbeit mit Forschern der Universität Princeton hat den Verdacht fundiert bestätigt: Der Schalter soll uns nur in Sicherheit wiegen".
Die Recherchen zeigen, so Weidemann, "dass mehrere Google-Dienste Standortdaten speichern, obwohl Nutzer die Übermittlung des Standortes in den Einstellungen des Smartphones oder Tablets ausgeschaltet haben. … Auf diese Weise" könne "Google Bewegungsprofile von mehr als zwei Milliarden Android-Nutzern sowie von Hunderten Millionen iPhone-Besitzern erstellen." Und die dann vielleicht an Quartieroptimierer im boomenden Städtebau verkaufen, damit die Räume schaffen, in denen unsere Bewegungsprofile besser zu den Google-Grafiken passen.
"Es ist bedauerlich", sagt Hans Kollhoff in seiner Stadtbegehung mit Blick auf ein Berliner Neubauquartier. "'Da stehen ja noch schöne, gut erhaltene Häuser der Vorkriegsbebauung.' Kollhoff", kommentiert da die Welt, blicke dabei "sehnsüchtig zu einem klassischen Backsteinbau schräg gegenüber. Es ist … ein altes Gefängnis." Kollhoff sagt: "Auch wenn das ein Knast ist – man möchte lieber dort wohnen als in einem renditeoptimierten Quartier."

Das Gefängnis als die Urzelle der Machtvertikale

Aus dieser sanft provokanten Bemerkung schnitzt die Welt-Redaktion die brachial provokante Überschrift: "Dann doch lieber im Knast wohnen." Die erst recht aufstößt, wenn man noch einmal das FAZ-Feuilleton zur Hand nimmt, in dem der sommerliche Freiraum pünktlich zum anstehenden Putin-Besuch mit einem wichtigen Essay von Kerstin Holm zu Haftpraktiken und Folteralltag in russischen Gefängnissen gefüllt ist.
"Das Gefängnis ist die Urzelle der Machtvertikale und daher eine Schule der Erniedrigung", schreibt Holm, die in ihrem Text mit Details nicht spart. Und: "Dass in russischen Gefängnissen viele Unschuldige sitzen und dass dort immer wieder Häftlinge gefoltert werden, gehört zur traurigen Normalität."

Der lange Atem der russischen Menschenrechtler

"Seit Jahren", führt Holm aus, "kursieren im Netz Videos von Häftlingsfolterungen, die Gefängnisaufseher nicht ohne sadistischen Stolz als Machtbeweis und als Drohung an potentielle Opfer verbreiten. Allerdings sind die Täter dort unsichtbar oder maskiert. Deswegen war das Filmdokument, welches die oppositionelle Zeitung "Nowaja gaseta" vorigen Monat publizierte, eine Sensation. Es zeigt, wie achtzehn Aufseher einer Strafkolonie in der Wolgastadt Jaroslawl einen gefesselten Häftling abwechselnd prügeln oder dabei zuschauen." Das Folteropfer auf dem Video ist Jewgeni Makarow.
"Die Video-Publikation", schreibt Holm, habe "eine neue Situation geschaffen." Und so wolle eine "Antifolterkoalition jetzt, solange die Strafvollzugsbehörde und die Duma gesprächsbereit sind, das russische Verfassungsgericht und den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof dazu bringen, verpflichtende Standards … vorzugeben." Und dann zitiert Holm noch einen sibirischen Juristen mit der Bemerkung: "Russische Menschenrechtler müssen einen langen Atem haben, frustrationstolerant und darauf gefasst sein, dass die Fortschritte so klein sind, dass man sie in der Kürze eines Menschenlebens gar nicht bemerkt."
Umso wichtiger sind Feuilletons wie dieses.
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